Adorno und die Kabbala (Pri ha-Pardes; 9)



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Gewalt, den Scholem der Gebura zuschreibt, kommt in Adornos Rezeption 
damit zunächst abhanden. Vielmehr bestimmt hier ein bei ihm seltener, weil 
äußerst  positiver  Enthusiasmus  das  Bild  –  eben  tatsächlich,  als  sei  wirklich 
oder wenigstens anschaulich geworden, ‚was anders wäre‘, ‚Stufen richtigen 
Bewußtseins‘.
420
 Die Vermutung, Adorno habe hier das Bilderverbot gelüftet 
und einmal doch tatsächlich Richtiges im Falschen gefunden, ist aber nicht 
nur aufgrund seiner wie üblich konjunktivischen Formulierung zurückzuwei-
sen, sondern auch, weil das „Zerreißen des Schleiers“ wohl auf  den Schleier 
der  Göttin  von  Sais  anspielt,  der  bekanntlich  unaufhebbar  ist.  Fast  formu-
lierungsgleiche Überlegungen sind bei Nietzsche zu finden: Am Kunstwerk, 
das in der „gleichnissartigen Offenbarung zum Zerreissen des Schleiers, zur 
Enthüllung  des  geheimnissvollen  Hintergrundes  aufzufordern  schien,  hielt 
wiederum gerade jene durchleuchtete Allsichtbarkeit das Auge gebannt und 
wehrte ihm, tiefer zu dringen.“
421
 Schein bleibt (auch als Vorschein)
 Schein. 
Die Möglichkeiten, dessen Implikate aus- oder immerhin anzusprechen, ver-
handelt Adorno unter dem Modell des göttlichen Namens.
422
Das Böse als versprengte Manifestation zerstückter göttlicher Gewalt. 
In Goethes und Mahlers 
Faust erblickt Adorno die Potenz der Gebura nicht als 
richtende göttliche Macht, sondern als ekstatisch erfahrene ‚göttliche Gewalt 
in der Schöpfung‘. Aber er kennt auch den gegenläufigen Aspekt göttlicher 
Gewalt. Bevor dieser erläutert wird, ist aber noch auf  eine weitere Facette von 
Scholems Interpretation der fünften Sefira hinzuweisen.
423
„In  einem  Midrasch  […]  war  die  Rede  von  der  Zerstörung  der  Welt  vor  der 
Erschaffung der jetzigen. Der Sohar deutet diese Agada mystisch auf  die Schöpfung 
von Welten, in denen ausschließlich die Kräfte der Gebura, der Sefira des strengen 
Gerichts, wirksam waren, und die daher am Übermaß der Strenge zerbrachen. […] 
420 
Vgl. dazu GS 17, 172, ausführlicher zitiert in Kapitel 6.1.
421 
Nietzsche. 
Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. S. 138.
422 
Vgl. dazu den übernächsten Abschnitt: „Versuch, den Namen selber zu nennen“.
423 
In seiner 
Kritik der Gewalt unterscheidet Benjamin mythische Gewalt und göttliche Gewalt: 
„Ist die mythische Gewalt rechtssetzend, so die göttliche rechtsvernichtend, setzt jene Gren-
zen, so vernichtet diese grenzenlos, ist die mythische verschuldend und sühnend zugleich, 
so die göttliche entsühnend, ist jene drohend, so diese schlagend, jene blutig, so diese auf  
unblutige Weise letal.“ (BGS II.1, 199) Der Adornosche Gedanke beschreibt nach diesem 
Modell letztlich einen Übergang der göttlichen in die mythische Gewalt.


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dort  [wird,  d.  Verf.]  das  Böse  als  ein  Abfallprodukt  aus  dem  Lebensprozeß  der 
Sefiroth, speziell der Sefira des strengen Gerichts betrachtet.“
424
Darin sieht Scholem die schon erwähnte lurianische Lehre vom Bruch der 
Gefäße (bei denen es sich um die Sefirot handelt) vorgebildet, die im Anfang 
das  schöpferische  göttliche  Licht  tragen  sollten.
425
 Mit den Keliphot, den 
Scherben der Gefäße versinkt das in ihnen aufbewahrte Licht in die Dunkel-
heit und wird zur Kraftquelle des Bösen, die gescheiterte Kosmogonie grün-
det eine katastrophische Schöpfung. Auf  dieses Bild spielt Adorno an zwei 
Stellen seiner musikalischen Schriften an. Einmal in den 
Beethoven-Fragmenten: 
„Beethoven und die Lehre der Kabbala, derzufolge das Böse im Übermaß der 
göttlichen  Kraft  entsprang.  (Gnostisches  Motiv).“  (NL  I/1,  254)  Rolf   Tie-
demann  spricht  in  seiner  Anmerkung  zu  dieser  Notiz  von  einer  „wahrhaft 
enigmatischen  Aufzeichnung“  (a. a. O.,  353 f.)  und  verweist  auf   die  zweite, 
etwas  ausführlichere  Aufnahme  dieses  Motivs  in  der  Mahler-Monographie. 
Adorno schreibt dort vom schwarzen „Klima der absoluten Dissonanz“ in 
der  Sechsten  Symphonie:  „Wild  stellt  der  Ausbruch  von  dorther  sich  dar, 
woraus ausgebrochen wird: der antizivilisatorische Impuls als musikalischer 
Charakter. Solche Augenblicke rufen die Lehre der jüdischen Mystik herauf, 
welche das Böse und Zerstörende als versprengte Manifestation der zerstück-
ten göttlichen Gewalt deutet […].“ (GS 13, 201) Das „Versprengte“ wird zum 
Bösen, weil sich hier offenkundig Partikulares, ja „Zerstücktes“ fälschlich als 
Absolutes darstellt – eine ‚unwahre‘ Totalität. Der solchermaßen „wild“ gegen 
sich  selbst  zurückschlagende  Ausbruch  aus  der  Natur  ist  das  Grundmotiv 
von 
Dialektik der Aufklärung. An diese Dialektik erinnert in Adornos Augen 
offenbar sowohl der lurianische Mythos als auch die Musik Mahlers. Kunst-
werke formulieren also mitnichten nur lauter Negative der Utopie, sondern 
haben  ebenso  eine  invers-theologische  Prismenfunktion  für  die  Spiegelung 
des  „negativen  Ganzen“  –  beides  sind  fensterlose  Monaden.  Das  passt  zu 
der Eigenschaft, die Siegfried Kracauer der Kino-Leinwand zuschreibt: Sie sei 
„Athenes blanker Schild“, in dem sich „das Haupt der Medusa“ anschauen 
lässt, um den Betrachter in die Lage zu versetzen, „das Grauen zu köpfen, 
das  sie  spiegeln.“  (KW  3,  467 f.)  Es  scheint  zulässig,  für  den  Hinweis  auf  
„zerstückte  göttliche  Gewalt“  bei  dem  Materialisten  Adorno  den  Inbegriff  
424 
Scholem. 
Die jüdische Mystik. S. 292 f.
425 
Vgl. Kapitel 2.2–4 sowie Kapitel 5.2 im Abschnitt „Funken des messianischen Endes“.


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