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Daniela Molzbichler
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Kulturerfassungsansätze es gibt, was einen interkulturellen Konflikt ausmacht, und wie
diese Konflikte behandelt und gelöst werden können.
2. Was ist Kultur?
Es gibt sehr unterschiedliche Sichtweisen, wie und in welcher Form Kultur wahrge-
nommen und dargestellt wird sowie teilweise als Rechtfertigung für bestimmte Verhal-
tensmuster dient. Sie geben stets Einblick in die Historie und zeigen gesellschaftliche
Rahmenbedingungen auf.
Allgemein können wir in geistes- und sozialwissenschaftlichen Nachschlagewer-
ken und Enzyklopädien nachlesen, dass prinzipiell zwischen materieller Kultur, dazu
zählen etwa Werkzeuge oder Gebäude, und ideeller Kultur, wie etwa Kunst, Sprache
oder Religion, unterschieden werden kann. Darüber hinaus wird differenziert zwischen
»der Kultur« beziehungsweise »einer Kultur«, zwischen einer breiten oder einer engen
Definition von Kultur.
Wenn wir etwa von »der Kultur« sprechen, werden vor allem »wesentliche Züge
der species homo sapiens und der Menschheitsentwicklung« (Maase
, ) im Mit-
telpunkt stehen. Sprechen wir von »einer Kultur«, geht es vor allem »… um die Verall-
gemeinerung von Verhältnissen des gesellschaftlichen Menschen. Aus der Vielfalt der
zeitlich, räumlich und sozial unterschiedenen Daseinsgemeinschaften werden Aussagen
darüber gewonnen, wie Integration und Wirklichkeitsbewältigung von Menschengrup-
pen geistig-sozial funktionieren« (Maase
, ).
Wird Kultur beschrieben als »die Ganzheit der materiellen und immateriellen Aus-
stattung, Infrastruktur der Gesellschaft, die das Alltagsleben, die Alltagszusammenhän-
ge konstituiert« (Bernard
, ), geht man von einem breiten Kulturbegriff aus, dessen
Extrem »Alles ist Kultur« bedeutet. Kultur bezieht sich aber auch fragmentierte Sekto-
ren, wie etwa die Begriffe »Kulturzeitschrift« oder »Kulturprojekt« veranschaulichen.
In Bezug auf verschiedene Ansätze für Kultur ist folgende Unterscheidung wichtig:
»Bei allen Ansätzen geht es im Kern um zwei grundlegende Dimensionen von Kultur:
. ana-
lytisch-funktional um die Systeme von gesellschaftlichen Vermittlungen, über die menschliche
Tätigkeit ideell (symbolisch, rational, emotional, sinnlich-bildhaft, ideologisch etc.) reguliert
wird;
. axiomatisch-inhaltlich um die (letztlich auf Interessen gegründeten) Werte, Ziele,
Maßstäbe, die die Verhaltensorientierungen konkreter Kultursysteme strukturieren«
(Maase
, ).
Hier können wir bereits erkennen, wie unterschiedlich und vielfältig das Wort Kultur
verwendet werden kann. Gehen wir kurz auf die historische Entwicklung des Begriffs
ein, sehen wir, wie sich »Kultur« im Laufe der Zeit gewandelt hat und auch gegenwärtig
im Wandel begriffen ist.
2.1 Kultur als Spiegel der Geschichte
Die Wurzeln des Begriffs werden in Werken Ciceros (
v. Chr. – v. Chr.) festgemacht,
der den lateinischen Begriff des Ackerbaus in einem metaphorischen Sinn auf die Phi-
losophie überträgt und von »cultura animi« – im Sinne der Bebauung des Geistes –
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Kulturen in Konflikt? Vom Umgang mit Konflikten in interkulturellen Beziehungen
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spricht (Cicero
/ v. Chr., .).
1
Bereits im klassischen Altertum wurde die For-
derung nach einer Menschheits- und Geisteskultur aufgestellt. Der alleinige Begriff
Kultur – im Sinne von »Geistesverbesserung« – findet jedoch erst im
. Jahrhundert,
ausgehend von Frankreich, Verwendung. Erst in dieser Periode gewinnt das Wort Kul-
tur an Bedeutung, deshalb setzt auch die intensivere kritische Erörterung des Begriffs
erst ab diesem Zeitraum ein. In der Aufklärung wurde das Wort Kultur als Synonym für
die »Veredelung des Menschen« und für den Glauben an Fortschritt verwendet. Mit
Rousseaus Darstellung des Verfalls der Menschheit (
) wird Kultur kritisch betrach-
tet. In diesem Zusammenhang spielen auch die Infragestellung der ständisch-feudalen
Gesellschaft – gefordert von der Bourgeoisie –, der beginnende Imperialismus und die
Steigerung des Welthandels eine wichtige Rolle. In Anlehnung an Cicero schreibt Kant:
»Der Anbau (cultura) seiner Naturkräfte (Geistes-, Seelen- und Leibeskräfte), als Mit-
tel zu allerlei möglichen Zwecken ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst« (Kant
/ , .).
Nach und nach wird der Begriff erweitert, bis er schließlich zum Synonym für ei-
nen kultivierten und gebildeten Menschen wird. Klemm beispielsweise wandte in sei-
nem Werk »Allgemeine Culturgeschichte der Menschheit« (Klemm
) einen breiten
Kulturbegriff an, um die Stufen der Zivilisation zu bezeichnen. Jahoda weist in seinem
Artikel »Ansichten über die Psychologie und die ›Kultur‹« (
) darauf hin, dass der
englische Anthropologe Tylor die Klemmsche Definition von Kultur übernommen hat.
Die breite Kulturdefinition Tylors (
) ist vor allem für den sozialwissenschaftlichen
Bereich von großer Bedeutung:
»Culture, or civilization... is that complex whole which includes knowledge, belief, art,
morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member
of society« (Tylor,
, ).
Auch bei Tylor erkennen wir, dass er ein Kind seiner Zeit ist. Diese Definition wurde im
Großbritannien der viktorianischen Ära entwickelt. Kultur oder Zivilisation wurde als
Komplex von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Recht und anderer Befähigungen und
Gewohnheiten verstanden: Kultur oder Zivilisation war etwas, das eine Nation oder ein
Volk mehr oder weniger besaß, und das sich jeder Mensch über seine Mitgliedschaft in
der Gesellschaft in unterschiedlichem Maß aneignete. So ging man etwa auch davon
aus, dass die »upper class« nicht nur zivilisierter, sondern auch kulturell höher stehend
sei.
Diese Sichtweise ändert sich jedoch mit den Ansprüchen der immer selbstbewuss-
ter werdenden Arbeiterklasse auf »Kultur« und die »freie Entfaltung aller« (vor allem
im deutschen Sprachraum) – ein weiterer Meilenstein in der Auseinandersetzung mit
diesem Begriff. Hervorzuheben ist hierbei vor allem Liebknecht, der davon ausging,
dass nur die revolutionäre Umwälzung der Arbeits- und Lebensverhältnisse dem Pro-
letariat eine kulturelle Perspektive eröffnen könne (Liebknecht
/ ). Verstärkt
wird die Kritik an der bürgerlichen Kultur, die an Eliten gebunden ist, gefordert wird
1
Entstanden
v. Chr., Erstdruck in Köln ca. . Erste deutsche Übersetzung unter dem Titel »Cicero
an Brutus über das höchste Gut und über das höchste Übel nebst dessen Paradoxen«
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