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die Wahrheit. […] Das ihr gemäße Verhalten ist demnach nicht ein Meinen im
Erkennen, sondern ein in sie Eingehen und Verschwinden. Die Wahrheit ist
der Tod der Intention.“ (BGS I.1, 215) Wahrheit wäre hier eine spezielle Form
von adaequatio, die Assimilierung des Erkennenden an den Gegenstand, und
dieser Akt führte zugleich zum Ende jeder intentionsgeleiteten Suche. Benja-
mins Programm ist es, dieses „Intentionslose“ des Gegenstands gegen seine
interpretatorische Festlegung auf bestimmte Bedeutungszusammenhänge zu
verteidigen und als stumme menschheitsgeschichtliche Hieroglyphe zum Spre-
chen zu bringen. „Also erfordert die Struktur der Wahrheit ein Sein, das an
Intentionslosigkeit dem schlichten der Dinge gleicht […].“ (a. a. O., 216) Diese
Position Benjamins hat Adorno 1931 in seiner Antrittsvorlesung
Die Aktualität
der Philosophie weiter entwickelt. Aufgabe von Philosophie sei es nicht, „ver-
borgene und vorhandene Intentionen der Wirklichkeit zu erforschen, sondern
die intentionslose Wirklichkeit zu deuten […]. Deutung des Intentionslosen
durch Zusammenstellung der analytisch isolierten Elemente und Erhellung
des Wirklichen kraft solcher Deutung […].“ (GS 1, 335 f.) Die Welt geht im
Denken also nicht auf. Wahr wäre demzufolge eine Erkenntnis nur, wenn in
der konstellativen Zusammenstellung „isolierter Elemente“ ihr gewordener,
intentionsloser Grund sichtbar würde. Seine Philosophie der „Deutung“
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hatte Adorno in
Die Aktualität der Philosophie explizit von symbolischen Funk-
tionen philosophischer Begriffe abgegrenzt:
„Denn längst hat Deutung von aller Frage nach dem Sinn sich geschieden oder,
was das gleiche besagt: die Symbole der Philosophie sind verfallen. […] Wenn
wahrhaft Deutung allein durch Zusammenstellung des Kleinsten gerät, dann hat sie
an den großen Problemen im herkömmlichen Sinn keinen Anteil mehr oder allein
in der Weise, daß sie in einem konkreten Befunde die totale Frage niederschlägt,
die er vordem symbolisch zu repräsentieren schien. […] [Ausgemacht wäre,] daß
die Funktion, die die herkömmliche philosophische Frage von übergeschichtlichen,
symbolisch bedeuteten Ideen erwartet, von innergeschichtlich konstituierten und
unsymbolischen geleistet wird.“ (GS 1, 337)
Adorno entfaltet Deutung hier als Programm der Auslegung von einzelnen
Phänomenen, die kombinatorisch hin- und hergeschoben werden müssen, bis
das Intentionslose sich wenigstens andeutet. Er vergleicht dies immer wieder
162
Vgl. Wussow.
Logik der Deutung.
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mit der Lösung eines Rätsels, dessen einzelne Elemente das Gemeinte nur in
der richtigen Verbindung plötzlich sichtbar werden lassen. Dieses Verfahren
erlegt sich ein Verbot hinsichtlich prinzipieller (intentionaler) Sinnfragen auf.
Die „großen Probleme“ lassen sich nicht abstrakt und prinzipiell, sondern
nur am konkreten Einzelfall, an realen, historischen Konstellationen lösen
und sind entsprechend abhängig vom Stand der Geschichte. Die Deutung des
„Schlichten der Dinge“, steht in dezidiertem Widerspruch zur Auflösung des
zu Deutenden in ahistorisch-zeitlose Ideen und Symbole.
163
Das
Erkenntnis-
ziel, dem die letzteren dienten, ließe sich nur legitimieren, wo man es an einer
„Zusammenstellung des Kleinsten“ innerzeitlich greifen könnte, wofür oft der
Name Mikrologie gewählt wird: Im Kleinsten bildet sich das Ganze ab. Um
das zu erläutern, müssen die zeitlichen, genauer: geschichtlichen, Bedingungen
jenes Kleinsten näher bestimmt werden. Das Intentionslose taucht bei Adorno
später mit einigen Bedeutungsverschiebungen im (relational, nicht ontologi-
sierend zu verstehenden) Namen des „Nicht-Identischen“ wieder auf.
164
Natur. Das intentionslose Ding wird nicht nur im Modus des intentiona-
len Denkens verkürzt erfasst oder in abstrakte, symbolische Ideengebäude
verflüchtigt. Für Adorno und Benjamin ergibt sich die Parteinahme für das
Intentionslose des Objekts bzw. das Kleinste als Gegenstand der Philosophie
aus einer geschichtsphilosophischen Diagnose.
165
Jedes existente Objekt wird
bereits von den geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, in und
unter denen es entsteht, beherrscht und verstümmelt. Was in der Zivilisations-
geschichte deformiert wird, verhandelt Adorno unter dem Begriff Natur.
Damit ist hier sowohl die gewaltige Übermacht der natürlichen Umwelt
gemeint, der die Kultur entgegentrat, als auch das Individuum als natürli-
ches und kreatürliches Wesen, das während seiner Sozialisation Triebverzicht
lernt. Verfügung über äußere und innere Natur wird zum gesellschaftlichen
Organisationsprinzip. Umgang mit der Natur im Modus bloßer Naturbeherr-
schung und -gängelung bleibt aber,
so Adorno,
abstrakte Negation und dem
163
In dem Vortrag
Die Idee der Naturgeschichte hat
Adorno mit Benjamins Trauerspielbuch die Alle-
gorie – als Rätselfigur, in der eine Idee an der philosophischen Dechiffrierung einer Sache
aufgeht – dem Symbol vorgezogen. (vgl. GS 1, 358 f.).
164
Vgl. Liedke.
Naturgeschichte und Religion. S. 25, der die ersten beiden Erwähnungen des Nicht-
identischen in den Jahren 1933 und 1941 nachweist.
165
Diese Geschichtsphilosophie kann hier nur eingeschränkt rekonstruiert werden. (vgl. Bobka.
Geschichtsphilosophie vom Standpunkt der Erlösung).