Adorno und die Kabbala (Pri ha-Pardes; 9)



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Leib“ (Brecht) einen Maßstab für das fehlende Glück zu finden: „Weh spricht: 
‚Vergeh! Weg, du Wehe!‘ Aber alles, was leidet, will leben […].“
172
Immanenz als Mythos. Die „blinde, ausweglose, verhängnisvolle“ Geschlos-
senheit  der  naturwüchsig  wuchernden  Gesellschaft  bezeichnet  Adorno  als 
Mythos.
173
  Diesen  Schlüsselbegriff   seiner  gesamten  Philosophie  entfaltete 
er  ebenfalls  bereits  in  der  Kierkegaard-Kritik:  „Der  Naturgehalt  bloßen,  in 
sich  ‚geschichtlichen‘  Geistes  mag  mythisch  heißen.“  (GS  2,  78)  Die  Figur 
des  Mythos  ist  die  „der  vollkommenen  Immanenz“,  (a. a. O.,  79) mitleidlos 
triumphierendes  Fatum.  Die  antiken  Menschheitsmythen  enthalten  nach 
Adornos Deutung die Erinnerung an Naturhaftes, die bedrohliche „äußere 
Natur“ sowie Mangel und Not in der Urgeschichte, aus der die Zivilisation 
ausbrechen wollte. Doch wie die Gesellschaft Herrschaft und Konformitäts-
druck vom Altertum in die Moderne fortsetzte und den Menschen zur zwei-
ten Natur wurde, entwickelte auch die sukzessive zivilisationsgeschichtliche 
Entzauberung der Welt
174
 eine „Eigendynamik“, die in Mythos 
zurückschlägt – 
„in das Gefühl, Kräften ausgeliefert zu sein, die jenseits der geschichtlichen 
Verfügung liegen“,
175
 obwohl ebenjene doch von Menschen gemacht sind. In 
der 
Dialektik der Aufklärung wird archaische „mythische Angst“ in den rati-
onalen Weltbildern der Neuzeit erkannt, die kein Jenseits des Begriffs mehr 
dulden: „Es darf  überhaupt nichts mehr draußen sein“. (GS 3, 32) Aufklä-
rung, was hier keine ideengeschichtliche Epoche, sondern den Impetus der 
Zivilisation überhaupt meint, entgleitet sich selbst zur Wiederkehr des Immer-
gleichen. Das ist nicht nur Kritik einer schematisierenden, quantifizierenden 
Wissenschaft, sondern eine der sie erst hervorbringenden Wirtschaft, die alles 
wertförmig kommensurabel, weil – über das Geld als Äquivalent vermittelt – 
tauschbar macht. Im modernen Mythos repräsentiert sich, so schreibt Adorno 
später in der 
Negativen Dialektik, die kapitalistische Gesellschaft als schreckli-
ches Ergebnis der Entmythologisierung. „Diese jedoch frißt wie die mythi-
schen Götter mit Vorliebe ihre Kinder. Indem sie nichts übrig läßt als das bloß 
Seien de, schlägt sie in den Mythos zurück. Denn er ist nichts anderes als der 
172 
Nietzsche. 
Also sprach Zarathustra. S. 133.
173 
Vgl. Tiedemann. 
„Gegenwärtige Vorwelt“, zur Kierkegaard-Schrift besonders S. 17 ff.
174 
„Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt […].“ (GS 3, 19) „Gleich-
wohl hat jene Entzauberung geringere geschichtsphilosophische Dignität als sich denken 
ließe. Die Dinge, die da Macht gewinnen, sind selbst schon verloren.“ ([1926] GS 19, 471).
175 
Kirchhoff/Schmieder. 
Zur Urgeschichte der Moderne. S. 10.


 
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geschlossene Immanenzzusammenhang dessen, was ist.“ (GS 6, 394) Die For-
mulierung, dass „das bloß Seiende“ übrig bleibe, verweist auf  ein Bewusstsein, 
das die Welt, wie sie geworden ist, nicht mehr zu hinterfragen vermag. Ador-
nos Philosophie ist im Grunde der unaufhörliche Widerspruch dagegen: Das 
scheinbar unmittelbar Gegebene ist geworden und ließe sich ändern. Mythos 
ist der stets gesellschaftlich reproduzierte Charakter seiner Unabänderlichkeit. 
Die Fragen, wie tief  die Verblendung des „Immanenzzusammenhangs“ in das 
Individuum reicht und wie geschlossen er ist, werden damit zu einem Kerndi-
lemma der Adornoschen Philosophie.
176
 Ganz abgesehen von der „Frage, wie 
gerade jene das Bestehende verändern sollten, die dessen ganze Last zu tragen 
haben […]“, was keineswegs nur das Proletariat meint. (GS 10.1, 64) Erkennt-
nis aber kann innerhalb des mythischen Ganzen demnach nur möglich sein, da 
dessen Immanenz ‚unwahr‘, in sich widersprüchlich, brüchig ist.
177
Damit  zurück  zum  Brief.  Adorno  kritisiert  die  von  Scholem  behauptete 
Symbolsprache des 
Sohar, weil sie selbst die „Andersheit“, das intentionslose 
Naturhafte, noch in „Intentionen“ auflöse, sprich: das Naturhafte auf  gesell-
schaftlich produzierte Bedeutungen festlege. Der Geist aber, der sich über die 
Natur mächtig wähnt, vergisst seine eigene Naturhaftigkeit und wird so zu 
ihrer und seiner eigenen Unterdrückung. Die „Totalität des Symbolischen“, 
die „Natur nicht kennt“, ist in der Ausblendung des intentionslosen Grundes 
aller Intentionen selbst „naturverfallen“. So wie die trostlose Immanenz der 
zur  „zweiten  Natur“  erstarrten  Gesellschaft,  die  den  „Verblendungszusam-
menhang des Mythos“, blinde Unentrinnbarkeit, stets aufs Neue zeitigt. Die 
intentionslose Natur wäre der „Grund“, von dem Adorno Scholem fragt, ob es 
ihn im Symbolverständnis des 
Sohar gebe oder nicht. Adornos Kritik der ver-
meintlichen kabbalistischen Symbolik erweist sich damit jedenfalls als Minia-
tur seiner Philosophie, als Modell im oben benannten Sinn
178
 bzw. als Beispiel 
seines Programms einer 
deutenden Philosophie, die nur am Kleinsten – aber 
176 
Vgl. Jopp. 
Freiheit und Totalität.
177 
Erkenntnis „müßte geleitet werden von dem, was vom Tausch nicht verstümmelt ist, oder – 
denn  es  gibt  nichts  Unverstümmeltes  mehr  –  von  dem,  was  unter  den  Tauschvorgängen 
sich verbirgt.“ (GS 10.2, 751 – siehe dazu auch Kapitel 4.2 im Abschnitt „Odradek“) Nach 
Benjamin heftet sich Hoffnung „an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe.“ 
(BGS I.2, 683) Dies erinnert an Scholems Hoffnung auf  die „kleinste Verschiebung“, die sich 
im philologischen Studium vor dem Auge des Historikers ereignet.
178 
Vgl. Kapitel 1.3.


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