„Der Gestus des interpretierenden Gedankens gleicht dem Lichten-
bergischen ‚Weder leugnen noch glauben‘, den verfehlte, wer ihn ein-
ebnen wollte auf bloße Skepsis. Denn die Autorität der großen Texte
ist, säkularisiert, jene unerreichbare, die der
Philosophie als Lehre vor
Augen steht. Profane Texte wie heilige anschauen, das ist die Antwort
darauf, daß alle Transzendenz in die Profanität einwanderte und nir-
gends
überwintert als dort, wo sie sich verbirgt.“
– Theodor Adorno: Zur Schlußszene des Faust (1959)
1. Vorbemerkungen, oder:
Wie Adorno (hier) zu lesen sei
1.1 Chiffren, die Leser häufig vernachlässigen. Zur Einleitung
Ziel dieser Studie ist die Untersuchung und Auslegung kabbalistischer Spuren
in der Philosophie Theodor W. Adornos. Die zugrunde liegende Feststellung
ist nicht neu: Schon der Adorno- und Benjamin-Herausgeber Rolf Tiedemann
beobachtete etwa die „Affinität des Adornoschen Denkens zu Motiven der
jüdischen Mystik […].“ (NL I/1, 354) Sogar Jürgen Habermas hat seinen
Vorwurf, dass die „Idee der Versöhnung“, d. h. letztlich die Idee der Utopie,
sich mit Adorno nicht mehr denken lasse, um den Hinweis ergänzt: „Allen-
falls läßt sich diese Idee noch in den Bildern der jüdisch-christlichen Mystik
umkreisen […].“
1
Dass sie sich
nur so denken lässt, will ich bezweifeln, in
diesem Buch aber werde ich genau jenen ‚mystischen‘
2
Ideen Adornos nach-
gehen: Die Bilder erweisen sich als sehr durchdachte Thesen – nicht zuletzt
die Anfänge von Habermas’ Philosophie verweisen auf sie zurück.
3
Dabei
wird immer wieder auf Gershom Scholem einzugehen sein, den Pionier der
historischen Kabbala forschung, dessen Arbeiten Adorno seine entsprechen-
den Kenntnisse verdankte. Ihre Texte ins Gespräch zu bringen, konfrontiert
1
Habermas.
Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1. S. 512. Die von Habermas ausgemach-
ten christlich-mystischen Bilder finden sich m. E. bei Adorno kaum.
2
Eine
Bemerkung zu den Termini
Kabbala und
Jüdische Mystik: Adorno und Gershom Scholem
folgend werden hier beide Bezeichnungen synonym gebraucht, obwohl die Anwendung des
Mystikbegriffs auf von der christlichen Mystik unabhängig entstandene Phänomene – und
eben speziell die Kabbala – verschiedentlich kritisiert worden ist. (vgl. etwa Huss.
The Theolo-
gies of Kabbalah-Research) Ein anderer Vorschlag differenziert zwischen Kabbala und jüdischer
Mystik, wobei Letztere dann eine bestimmte Visions- und Erfahrungskomponente bezeich-
net. Demnach wären Kabbalisten weder zwangsläufig jüdische Mystiker noch umgekehrt.
(vgl. etwa Dan.
Die Kabbala. S. 20 ff., Schulte.
Zimzum. S. 40) Grund für meinen synonymen
Gebrauch ist der Umstand, dass zumindest bei Adorno tatsächlich eine metareligiöse, ‚häre-
tische‘ Rolle ‚der‘ Mystik bzw. einer ‚mystischen Theologie‘ angenommen wird, also Kabbala
buchstäblich die jüdische Form einer umfassenderen Mystik sein soll. (vgl. Kapitel 2.2) In
Bezug auf dieses historisch-begriffliche Problem lässt sich Philipp von Wussows methodo-
logische Feststellung zur „jüdischen Theoriegeschichte“ geltend machen: „Abhilfe schafft al-
lein
reflexiver Gebrauch von bereits bestehenden Kategorien, die beinahe stets einen Doppel-
charakter besitzen – die größte Leistungsfähigkeit steht proportional zu den größten Schwie-
rigkeiten.“ (Wussow.
Jüdische Theoriegeschichte. S. 68 [Hervorhebung des Autors]).
3
Vgl. dazu Kapitel 2.3.
12
V
Vrreeerrknnen
den Philosophen mit dem Historiker. Es scheint angebracht, beide Seiten
sowohl zusammenzudenken als auch gegeneinander auszuspielen – sie treffen
sich dabei, wenigstens gelegentlich, im Streit um die Metaphysik. Den Anstoß
hierzu verdanken beide Walter Benjamin.
Adornos Annahmen stützen sich nicht auf eigene Quellenstudien, zumal
er kein Hebräisch sprach. Er selbst betonte seine „Unkenntnis nicht nur der
Kabbala, der Tradition der jüdischen Mystik, sondern der Hebraistik insge-
samt“, von der er nur gelernt habe, was er „in Scholems Schriften, insbeson-
dere in dem großen Werk über die Hauptströmungen der jüdischen Mystik,
las […].“ Aber er unterstellte, dass die kabbalistischen „Spekulationen […]
auf den deutschen Idealismus bedeutenden Einfluß ausgeübt hatten und mir
darum philosophisch wiederum vertrauter und näher waren, als es […] zu
erwarten gewesen wäre.“ (GS 20.2, 483) Entsprechend sieht seine Annähe-
rung aus: Bei Scholem gefundene kabbalistische Motive sind „Anlaß, nicht
Ziel“
4
, sie werden zur Reflexion und Entfaltung seiner eigenen philosophi-
schen Konzepte verwendet; nach dem Motto: „Nichts an theologischem
Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stel-
len müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern.“ (GS 10.2, 608) Allerdings
stellt Adorno dieses Profanisierungspostulat nicht etwa gegen die Kabbala,
sondern will es im Gegenteil aus ihr ableiten: Auf jüdische Mystik referiert
er – im Unterschied zu anderen religiösen Traditionen – als gelingendes Bei-
spiel einer Einwanderung des Sakralen ins Profane, er unterstreicht, anknüp-
fend an Scholem, ihren „Umschlag“ in Aufklärung. Was das heißt, wird im
Folgenden neben vielem anderen zu diskutieren sein. Dabei soll freilich nicht
behauptet werden, Adornos Kenntnisse seien mit dem aktuellen Stand der
Kabbalaforschung oder der weiteren Judaistik vereinbar.
5
Allerdings „wird die
Frage, ob eine sinnvolle Anknüpfung an die jüdische Hermeneutik ohne deren
religiösen Kontext überhaupt möglich ist, durch Adorno vor neue Heraus-
forderungen gestellt.“
6
Ebenso wenig lässt sich eine umstandslose Identifika-
tion Adornos mit diesem Gegenstand unterstellen. Es gilt keinen Kabbalisten
Adorno zu enthüllen, vielmehr scheint eine sporadische, kritische, eben
4
Zitat aus der Vorrede zu Adornos
Metakritik der Erkenntnistheorie: „Husserls Philosophie ist
Anlaß, nicht Ziel.“ (GS 5, 9).
5
Vgl. zum bemerkenswert widersprüchlichen Weg der Kabbala ins 19. und 20. Jahrhundert
Huss/Pasi/Stuckrad.
Kabbalah and Modernity.
6
Wussow.
Logik der Deutung. S. 226.