Adorno und die Kabbala (Pri ha-Pardes; 9)



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Bei aller Freude über solche Metaphysik hielt Scholem den permanenten 
gesellschaftskritischen Fokus Adornos – in dessen Rahmen die eben gestreif-
ten Motive überhaupt erst Relevanz gewinnen – für schlichtweg dumm. Steven 
Wasserstrom hat sein Exemplar der 
Dialektik der Aufklärung durchgesehen und 
stellt fest, dass Scholems Anmerkungen durchweg negativ, ja belustigt waren: 
„Welch Geschwätz!“
81
 An Hellmuth Plessner, der eine Besprechung der post-
hum erschienenen 
Ästhetische Theorie publiziert hatte, schrieb Scholem 1973, 
bei der Lektüre werde „wieder mein alter, ewiger und nicht zu unterdrücken-
der Widerstand gegen die bei einem so subtilen Geist wie Adorno dreifach 
unverständliche Fetischisierung des Zauberwortes Gesellschaft lebendig […]“. 
Er verstehe nicht, wie „diese hintergründigen Marxisten“ Adorno und Ben-
jamin sich in diesem „Irrgarten“ verfangen und ihn dann noch „als Ausweg 
anpreisen  konnten“.
82
 Man kann sich dennoch des Eindrucks nicht erweh-
ren, dass ein Teil von Scholems Fragestellungen von Adorno nur radikalisiert 
wurde und er manche Perspektiven denjenigen Adornos zumindest so weit 
angenähert hat, als beide miteinander zu tun hatten; dies zeigt sein Beitrag 
für  Adornos  Festschrift 
Zeugnisse  (1963), der  im  vierten  Kapitel  dieser  Stu-
die diskutiert wird.
83
 Über das angekündigte Thema („Häretischer Messianis-
mus und jüdische Gesellschaft“) war Adorno schon im Vorfeld „begeistert.“ 
(BW 8, 267) 1967 sandte Scholem Adorno seinen Vortrag 
Mysticism and Society 
zu, „mit dem sich unsere Sphären geradezu überschneiden.“ (vgl. BW 8, 430, 
vgl. a. a. O., 375) Umgekehrt war auch Adorno kritisch gegenüber einem von 
Scholems Wirkungsfeldern. Im August 1954 schrieben er und seine Frau aus 
der Schweiz an Horkheimer: „In Ascona tobte Eranos, mit Tillich, Scholem, 
[Karl] Kerenyi, [Wilhelm] Szilasi e tutti quanti, meist ungarische Juden, die 
vor einem Forum von Antisemiten Opfertänze aufführten. Selbst der See ist 
über die Ufer getreten, nicht ohne daß Scholem mystische Zusammenhänge 
angedeutet hätte.“ (BW 4.4, 286) Scholem gegenüber hielt sich Adorno  zu 
diesem Thema zurück und las regelmäßig dessen Aufsätze aus den Eranos-
Jahrbüchern. Ascona kommt anscheinend nur in der einen zitierten Briefstelle 
81 
„In the margins of  p. 207, he exclaimed, in German, ‚welch Geschwätz!‘ (‚what twaddle!‘); 
on p. 298 he wrote, in Hebrew, ‚ayzeh pitpoot!‘ (‚what babble!‘); on p. 220, in reference to 
the beginning sentence of  section VI of  
Elemente des Antisemitismus, (,Der Antisemitismus 
beruht auf  falscher Projektion‘), Scholem wrote ‚Der echteste Adorno‘ (‚the most authentic 
Adorno‘).“ (Wasserstrom. 
Adorno’s Kabbalah. S. 60).
82 
Scholem. 
Briefe. Bd 3. S. 61.
83 
Vgl. Kapitel 4.1 im Abschnitt „Religiöser Nihilismus und die Umwälzung aller menschlichen 
Verhältnisse“.


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als problematisch vor. Einmal warf  ironischerweise sogar der Kabbalaforscher 
dem Materialisten „jungianische Hypothesen“ vor, nie umgekehrt.
84
Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch Scholems esoterische 
Geschichtstheologie, in der Theorien wie derjenigen Adornos eine merkwür-
dige Hauptrolle  zukam. In  einer Gedenkrede für Franz  Rosenzweig (1930) 
schilderte der Kabbalaforscher eine historische Verdunklung der (jüdischen 
wie christlichen) Theologie, die zuerst philosophisch verwässert wurde und 
in der Folge auch tatsächlich ihren Ort verlor. Profanere Disziplinen nahmen 
sich der Wünsche und Sehnsüchte an, für die sie einst zuständig war. So seien 
Kafka und Proust – zwei Autoren, die auch Adorno sehr schätzte – zu unfrei-
willigen Schöpfern von Werken „absolut theologischen Charakters“ gewor-
den, an denen die Theologen vorbeigingen.
„Offensichtlich  ist  also,  daß  die  Themen  der  Theologie  in  dieser  unserer  Zeit 
unsichtbar wurden, verborgen sind, Lichter, die ihr Licht nach innen sandten 
und  draußen  nicht  wahrgenommen  wurden.  Der  Gott,  der  in  der  Psychologie 
vom Menschen und in der Soziologie von der Welt weggetrieben wurde, wollte 
nicht länger in den Himmeln wohnen, übergab den Thron des strengen Gerichts 
dem dialektischen Materialismus und den Thron des liebenden Erbarmens 
der  Psychoanalyse,  verschränkte  sich  ins  Geheimnis  und  offenbart  sich  nicht. 
Offenbart  er  sich  wirklich  nicht?  Liegt  nicht  vielleicht  in  dieser  seiner  letzten 
Selbstverschränkung seine Offenbarung?“
85
Der  Rückzug  Gottes  wäre  wohl  auch  Scholems  theologisches  Pendant  zu 
Adornos  These,  dass  „alle  Transzendenz  in  die  Profanität  einwanderte 
und nirgends überwintert als dort, wo sie sich verbirgt.“ (GS 11, 129) Sein 
geschichtsmetaphysisches  Modell  mag  einerseits  einer  der  subtilen  Gründe 
für  Scholems  Wertschätzung  des  marxistischen  Benjamin  oder  eben  auch 
Adornos gewesen sein. Selbst Psychoanalyse und Marxismus stehen als Erben 
von Psychologie und Soziologie im Zeichen einer geheimnisvollen, subver-
siven  Offenbarung  Gottes.  Aber 
Gott  bleibt dabei der unsichtbare Akteur, 
84 
Vgl. Kapitel 6.4 im Abschnitt „Eine unterirdische mystische Tradition?“.
85 
Scholem. 
Franz Rosenzweig. S. 533. Vgl. dazu Schulte. Zimzum. S. 383–393. Nach Schulte hat 
Scholem diese Vorstellungen nach 1934 nicht mehr offen artikuliert, sehr wohl aber beibe-
halten. Im Winter 1973/4 aber wiederholte er, allerdings widerwillig, gegenüber Muki Tsur: 
„Der dialektische Materialismus hat den Richterthron und die Psychoanalyse den Thron des 
Erbarmens übernommen. Er hat sich selbst beschränkt und offenbart sich nicht.“ (Scholem. 
Es gibt ein Geheimnis in der Welt. S. 79).


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