Adorno und die Kabbala (Pri ha-Pardes; 9)



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die  innerweltliche  Heilssuche  wird  selbst  nicht  geheiligt:  „Die  Verwendung 
messianischer Phraseologie hat in den Herzen der Anhänger dieser säkula-
ren  Bewegungen  ein  fremdes  Feuer  entfacht“,  ein  „verschärft  destruktives, 
negatives Moment“, das „zum Scheitern führen kann.“
86
 Vielleicht mag der 
Historiker eine Ahnung Gottes im Studium alter Texte finden, in der stillen 
„Hoffnung“ auf  „jene unscheinbarste, kleine Verschiebung der Historie, die 
aus dem Schein der ‚Entwicklung‘ Wahrheit hervorbrechen lässt […].“
87
 Scho-
lem betreibt somit Historiographie, die gegen sich selbst denkt, Philologie 
als 
Kabbala.
88
 Andererseits kann man das geschichtsmetaphysische Modell auch 
als ironische Spitze gegen Psychoanalyse und Materialismus lesen, die Scholem 
für gewöhnlich nicht so positiv konnotiert. Die „Selbstverschränkung“ jeden-
falls greift auf  das lurianische Bild des Zimzum zurück – Gott, der sich selbst 
aus sich und in sich zurückzieht, um die ontologische Bedingung bzw. schlicht 
den kosmischen Raum für die Schöpfung freizugeben. Dieses Motiv stammt 
aus der lurianischen Kabbala des 16. Jahrhunderts, ist ideengeschichtlich aus-
gesprochen breit rezipiert worden und wird auch im nächsten Abschnitt zu 
besprechen sein.
89
 Die ‚letzte Selbstverschränkung‘ nach Scholem wiederholt 
die  kosmo gonische  „Contraction  Gottes“  (Schelling)  geschichtsimmanent: 
Die scheinbare Autonomie der Gesellschaft, die Gott vertreiben mag, folgt 
unsichtbar einem höheren Plan. Adorno selbst schrieb in der oben zitierten 
Antwort  auf   Scholems  Kritik  an  der 
Negativen Dialektik von beider „unio 
in haeresia“. (BW 8, 415) Mir scheint genau das den Punkt zu treffen: Die 
theologischen Interessen Adornos und Scholems, so sehr sie problematisch 
scheinen oder sein mögen, sind nicht nur Grundlage des gegenseitiges Inte-
resses, sondern das Licht, in dem beider Werke subkutan zusammenfinden. 
86 
Scholem. 
Es gibt ein Geheimnis in der Welt. S. 80.
87 
„Aber  die  Notwendigkeit  der  historischen  Kritik  und  der  kritischen  Historie  kann,  auch 
wo  sie  Opfer  verlangt,  durch  nichts  anderes  abgegolten  werden.  Gewiß,  Geschichte  mag 
im Grunde Schein sein, aber ein Schein, ohne den in der Zeit keine Einsicht in das Wesen 
möglich ist. […] In diesem Paradox, aus solcher Hoffnung auf  das richtige Angesprochen-
werden aus dem Berge, auf  jene unscheinbarste, kleine Verschiebung der Historie, die aus 
dem Schein der ‚Entwicklung‘ Wahrheit hervorbrechen läßt, lebt meine Arbeit, heute wie 
am ersten Tag.“ (Scholem. Ein offenes Wort über die wahren Absichten meines Kabbala-
studiums [1937], in: ders. 
Briefe I. S. 472).
88 
Vgl. Kilcher. 
Philology as Kabbalah.
89 
Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Schulte. 
Zimzum. Zur ‚lurianischen Theorie‘ für einen neueren 
Überblick Necker. 
Einführung in die lurianische Kabbala, zu deren Namensgeber Fine. Physician of  
the Soul. Adorno hat selbst verschiedene lurianische Motive zitiert, vgl. dazu Kapitel 2.3 sowie 
den Abschnitt „Funken des messianischen Endes“ in Kapitel 5.2.


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Beide versuchen, gegen eine Welt anzudenken, in der Theologie – mit Wal-
ter Benjamins Worten – „klein und hässlich ist und sich ohnehin nicht darf  
blicken  lassen.“  (BGS  I.1,  693)  Scholem  findet  ihren  Grund  in  der  letzten 
Selbstverschränkung. Adorno fragt in seiner Vorlesung 
Metaphysik. Begriff  und 
Probleme von 1965 an einer Stelle nach geistesgeschichtlichen Vorbildern, die 
einer materialistisch in die Immanenz verbannten Metaphysik Rechnung tra-
gen könnten – und hier taucht als Wahlverwandte die (jüdische) Mystik auf:
„Es gibt sehr vereinzelte, versprengte Motive in der Geschichte des Geistes, die 
darauf   hinweisen.  Und  zwar,  merkwürdig  genug,  finden  sie  sich  weniger  in  der 
Geschichte der Philosophie […] als in der häretischen Theologie, das heißt also in 
der mystischen Spekulation, die ja wesentlich immer häretisch gewesen ist und die 
immer einen prekären Stand innerhalb der institutionalisierten Religionen gehabt 
hat. Ich denke an die mystische Lehre – wie sie der Kabbala mit christlicher Mystik, 
etwa der des Angelus Silesius, gemeinsam ist – von der unendlichen Relevanz des 
Innerweltlichen und damit Geschichtlichen für die Transzendenz und für eine jede 
mögliche Vorstellung von Transzendenz.“ (NL IV/14, 158 f.)
Metaphysischer Suche nach dem Sturz der klassischen Metaphysik wird aus der 
angeblichen häretisch-mystischen Geistesgeschichte gleichsam Mut zugespro-
chen. Hier liegt ein Weg vor, Transzendenz von der Immanenz her zu denken, 
in der Tat etwa mit Angelus Silesius: „Ich weiß, daß ohne mich/Gott nicht ein 
Nu kann leben/Werd ich zu nicht, er muß/von Not den Geist aufgeben.“
90
 In 
seinen Bemerkungen zum Thema Kabbala ruft Adorno die ganze im weiteren 
Sinne ‚häretische‘ Geistesgeschichte auf, bis zurück zur Gnosis, (vgl. a. a. O., 
215)
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 wobei der Bezug auf  jüdische Mystik quantitativ deutlich überwiegt – 
Angelus Silesius kommt etwa nur an dieser einen Stelle vor. In dem unterstell-
ten Zusammenhang von Gnosis, Mystik und Kabbala kann man einen sog. 
‚religionistischen‘ Standpunkt sehen, wie er in der Tat im geistigen Umfeld des 
Eranos-Kreises vertreten wurde. Gemeint ist die Unterstellung einer im Wort-
sinn esoterischen Tradition jenseits religiöser Institutionen, „über die Demar-
kationslinie von Religionen hinweg, die einander Häresien sind.“ (GS 6, 365) 
Wie er Hans Jonas mit der Bitte um einen Vortrag über „das Problem der Gno-
sis heute“ schrieb, ging es Adorno dabei um die Aneignung von Gedanken, 
90 
Aus des Angelus Silesius Cherubinischem Wandersmann. S. 8. Adorno besaß seiner Nachlassbiblio-
thek zufolge die zitierte, 46-seitige Ausgabe. (NB Adorno 5197).
91 
Vgl. zum Gnosis-Bezug Adornos Kapitel 3.1, 4.2.


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