Adorno und die Kabbala (Pri ha-Pardes; 9)



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Aufmerksamkeit: „Vergangenheit in Gott = das Absolute als Prozeß. Unter-
scheidung von Momenten im Absoluten“. (zit. n. NL IV, 236) „Dunkelheit 
und Verschlossenheit“, schreibt Schelling, „ist der Charakter der Urzeit“, und 
regt an, am Grund Gottes die widerspenstige, leidende Materie zu denken.
112
 
„Gerade diese Unfaßlichkeit, dieses thätliche Widerstreben gegen alles Den-
ken, dieses aktive Dunkel, diese positive Neigung zur Finsternis mußte sie [die 
Philosophie, d. Verf.] zur Erklärung machen.“
113
 Bei Schelling ist das nur 
eine 
göttliche Qualität. Die 
Weltalter-Entwürfe formulieren ein trinitarisches Modell 
von „Expansion“ aus der reinen „Lauterkeit“, „Contraction“ zur Verkörpe-
rung und schließlich der im Sohn gezeugten Liebe, die Versöhnung stiftet – 
woraufhin erst die eigentliche Schöpfung beginnt. Adorno interessiert daran 
eben vor allem die liebeshungrige, dunkle „Contraction‘ wie die Vergangenheit 
in Gott, seine eigene undurchschaute Natur, die der erlösenden Erkenntnis 
harrt und damit Parallelen zu seiner eigenen Geschichtsphilosophie aufweist:
„[…]  schlösse  Dialektik  total  sich  zusammen,  so  wäre  sie  bereits  jene  Totalität, 
die  aufs  Identitätsprinzip  zurückgeht.  Dies  Interesse  hat  Schelling  gegen  Hegel 
wahrgenommen, und damit dem Spott über die Abdikation des Gedankens sich 
dargeboten, der zur Mystik flüchte. Das materialistische Moment in Schelling, der 
dem Stoff  an sich etwas wie treibende Kraft zuschrieb, mag an jenem Aspekt seiner 
Philosophie  teilhaben.“  (GS  6,  183 f.)  „Alles  Geistige  ist  modifiziert  leibhafter 
Impuls, und solche Modifikation der qualitative Umschlag in das, was nicht bloß ist. 
Drang ist, nach Schellings Einsicht, die Vorform von Geist.“ (a. a. O., 202)
Bereits in der 
Dialektik der Aufklärung wird einmal der „zarte Trieb der Kre-
atur  nach  Ausdruck  und  Licht“  als  „das  erste  Aufleuchten  von  Vernunft“ 
beschrieben. (GS 3, 256) An der Herausgabe der von Studierenden angefertig-
ten Sitzungsprotokolle u. a. zu Adornos 
Weltalter-Seminar arbeitet derzeit Dirk 
Braunstein.
114
 Das alles wurde hier rein dokumentarisch abgehandelt, weil das 
Thema ‚Contraction Gottes‘ und seine prozessuale Entfaltungsgeschichte, die 
sich von der Menschheit abhängig macht, in Adornos 
publiziertem Werk im 
112 
Schelling. 
Die Weltalter. S. 24, 46. „Kaum waren die ersten Schritte, Philosophie mit Natur 
wieder zu vereinigen, geschehen, als das hohe Alter des Physischen anerkannt werden mußte, 
und wie es, weit entfernt das Letzte zu sein, vielmehr das Erste ist, von dem alle, auch die 
Entwicklung des göttlichen Wesens, anfängt.“ (a. a. O. S. 8).
113 
A. a. O. S. 51. Vgl. NL VI/2, 61.
114 
Vgl. Braunstein. „
Eine Historisierung ist wünschenswert “, ders. „Nichts verstehen, unzufrieden sein“.


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Gegensatz zu demjenigen Habermas‘ fast keine explizite Erwähnung findet.
115
 
Anspielungen findet man zwar sehr wohl. Neben dem oben zitierten Hinweis 
im 
Gruß an Gershom G. Scholem stößt man etwa in der Metaphysik-Vorlesung 
von 1965 auf  einen wie nebenbei fallenden Vergleich der Potenzenlehre des 
Sohar mit Schelling: „wo die Geschichte von der Weltschöpfung interpretiert 
wird als eine Geschichte des inneren Schöpfungsprozesses, der in der Gott-
heit selbst sich abspielt“. (NL IV/14, 219) Dies scheint auch ein Grund für 
Adorno zu sein, der Kabbala jenes historische Bewusstsein zu unterstellen, 
das  ihr  einen  inneren  Säkularisierungsprozess  ermögliche:  „Der  mystische 
Unterstrom der jüdischen Überlieferung“, schreibt er im 
Gruß an Gershom G. 
Scholem, „ist vermöge der Konzeption der Gottheit als dessen, was Baader eso-
terischen Prozeß nannte, in sich selbst eminent geschichtlich.“ (GS 20.2, 484) 
Über den im Zitat erwähnten Franz von Baader wurde Adornos Freund Leo 
Löwenthal promoviert. Er vertrat ebenfalls die Idee eines sich geschichtlich 
entfaltenden, eben prozesshaften Gottes.
116
 Gott als Prozess ist hier jedenfalls 
eine Gegenkonzeption zu der starren metaphysischen Überwelt, die Adorno 
zugunsten des Vereinzelten und Innerweltlichen kritisiert. Dafür beruft er sich 
in der 
Metaphysik-Vorlesung  einmal  auf  ein  überraschendes  Trio:  Schelling, 
den Gnostiker Marcion von Synope sowie Max Scheler. Ihnen allen schreibt 
115 
Vgl. zum Verhältnis Schellings und Adornos Philosophie einstweilen Baum. 
Die Transzendie-
rung des Mythos, Fischbach. Adorno and Schelling, Dews. Dialectics and the Transcendence of  Dialectics.
116 
Steven Wasserstrom liest das als Darstellung von Scholems Baader-Rezeption. (vgl. Wasser-
strom. 
Religion after Religion. S. 55 f.) Der romantische Philosoph und christliche Theosoph 
Franz von Baader ist aber sonst keine Referenz in Adornos Schriften und kommt auch im 
Briefwechsel mit Scholem nicht vor. Adorno dürfte sich auf  im weiteren Sinne prozessuale 
Gottesbilder beziehen, wie sie in Schellings 
Weltaltern oder eben bei Baader auftauchen. In 
seiner Nachlassbibliothek befindet sich zwar ein Band mit ausgewählten Schriften Baaders, 
die sich aber vor allem um physikalische und erotische Themen drehen. (vgl. Baader. 
Schriften 
[NB  Adorno  230])  Die  theologischen  Texte  in  diesem  Band  legen  zunächst  keine  innere 
Prozessualität Gottes nahe, eher im Gegenteil – „denn die Schöpfung war freilich bereits im 
ersten Urstand ein System und kein bloßer Broullion“. (Baader. 
Über den Paulinischen Begriff  
des Versehenseins. S. 312) An anderen Stellen freilich entwickelt die Baadersche Theogonie eine 
Ansicht  Gottes  als  Prozess,  die  sein  Schüler  Franz  Hoffmann  als  „esoterischen  Prozess“ 
betitelte.  Adorno  kannte  diesen  Begriff   wohl  aus  Leo  Löwenthals  Dissertation  über 
Die 
Sozietäts philosophie Franz von Baaders (1923), in der unter anderem dazu ausgeführt wird: „Die 
Entfaltung des prozeßlosen Prozesses greift zum Notbehelf  der sukzessiven Entwicklung, 
ohne eine solche ihrem Wesen nach zu sein. Drei Prozesse sind es, die den lebendigen, ‚den 
ganzen Gott‘, sein Reich, sein Wesen, seine Herrlichkeit konstituieren: esoterischer, ideeller 
oder logischer, exoterischer, reeller oder wesentlicher, vermittelnder geistiger Prozeß: das er-
gibt den Dreiklang der Baaderschen Theogonie. […] Der esoterische Prozeß ist Gottes Idee, 
er ist die Logik der ganzen Theogonie.“ (Löwenthal. 
Die Sozietätsphilosophie Franz von Baaders
S. 115 f., vgl. auch Löwenthal. 
Mitmachen wollte ich nie. S. 178).


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