Adorno und die Kabbala (Pri ha-Pardes; 9)


 Adorno, Scholem – und die anderen



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2. Adorno, Scholem – und die anderen.  
Historische Anmerkungen zu einer Konstellation
Wie Adorno selbst betonte, war seine zentrale, wenn nicht einzige Referenz 
für  das  Thema  Kabbala  das  Werk  Gershom  Scholems.  (vgl.  GS  20.2,  483) 
Obwohl Scholem in den zwanziger Jahren mehrfach in Frankfurt am Main 
weilte und Adorno dem Namen nach bekannt war, begegneten sie sich erst 
1938 in New York im Hause Paul Tillichs näher.
53
 In diesem Zeitraum lernte 
auch Max Horkheimer Scholem kennen, die beiden blieben jedoch zeitlebens 
auf   Distanz.
54
  1939  setzte  der  Briefwechsel  Adornos  mit  Scholem  ein,  der 
lange schleppend verlief. Die meisten Briefe stammten anfangs aus Scholems 
Feder, Adorno antwortete in den Vierzigern teilweise über Jahre gar nicht.
55
 
Erst in den fünfziger Jahren kam es anlässlich der von beiden initiierten Ben-
jamin-Edition(en) zu einem verstärkten Austausch. Darin brachten sie auch 
immer mehr gegenseitige Kommentare zum Werk des anderen ein, die jeweili-
gen Publikationen sandten sie sich zu. Eine Zäsur stellte das Jahr 1957 dar, als 
Scholem einen ersten Vortrag bei den Loeb-Lectures in Frankfurt – und damit 
seinen ersten in Deutschland nach 1945 – hielt, um den ihn Adorno gebeten 
hatte.
56
 In den folgenden Jahren intensivierte sich der Kontakt, immer wieder 
liest man nun von Treffen der beiden in Frankfurt oder Sils im Engadin, dem 
Ferienort der Adornos, den Scholem nach seiner Teilnahme an den jährlichen 
Eranos-Tagungen in Ascona aufsuchte.
57
 Über die dortigen Gesprächsinhalte 
liegen wohl keine näheren Berichte oder Informationen vor. Die letzten Briefe 
kreisen  um  einen  geplanten  Besuch  Adornos  in  Israel,  der  aber  durch  sei-
nen Tod nicht mehr zustande kam. Als „ungewöhnliche Freundschaft“ zweier 
53 
Vgl.  Claussen. 
Theodor W. Adorno.  S. 286.  In  seinem  Gruß an Gershom G. Scholem erwähnt 
Adorno ein Treffen nach 1923, seine Erinnerung daran beinhalte aber „viel Rückphanta-
sie“, ich behandle diese möglicherweise fiktionale Begegnung in Kapitel 2.5. (vgl. Deuber- 
Mankowski. 
Eine Art von Zutrauen. S. 186).
54 
Vgl. zum Hintergrund Jacobs. 
The Frankfurt School, Jewish Lives, and Antisemitism. S. 49 ff.
55 
1942 setzte er sich jedoch bei Leo Löwenthal dafür ein, die „Festschrift“ für Walter Benjamin 
zügig an Scholem zu schicken, der sie „wirklich verdient“ habe. (Löwenthal/Adorno. 
Brief-
wechsel. S. 159).
56 
Die von Max Horkheimer initiierten „Gastvorlesungen über Geschichte, Philosophie und 
Religion des Judentums“ fanden zwischen 1956 und 1967 statt. (vgl. Altwicker. 
Loeb-Lectures).
57 
Vgl. zum Eranos-Kreis Hanegraaff
. Esotericism and the Academy. S. 277–314, Wasserstrom. Re-
ligion after Religion, Hakl. Der verborgene Geist von Eranos.


28 
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Intellektueller, „die von Haus aus nicht füreinander bestimmt waren“, aber 
sich  doch  über  drei  Jahrzehnte  annäherten,  charakterisiert  Habermas  diese 
Beziehung.
58
 Es sei „geradezu komisch zu beobachten, welche diplomatischen 
Vorsichtsmaßnahmen nötig waren, um alle Vorbehalte zu überwinden“, meint 
Wolfgang Matz.
59
 Adorno schrieb nach dem ersten Treffen an Benjamin von 
einem Kontakt, dessen „Zutraulichkeit“ vielleicht derjenigen entspreche, „die 
sich auf  einer Kaffeevisite eines Ichthyosaurus bei einem Brontosaurus ein-
stellen mag, oder, um mehr zur Sache zu sprechen, bei einer, die der Leviathan 
dem Behemoth abstattet. Mit einem Wort, man ist unter sich.“ (BW 1, 325) 
Nur einige Facetten dieser ‚Zutraulichkeit‘ will ich im Folgenden anreißen, weil 
der Kontakt mit Scholem auch im weiteren Verlauf  immer wieder eine Rolle 
spielt.
60
 Beide rekurrieren, neben dem omnipräsenten Walter Benjamin, auf  
das weite Feld der deutsch-jüdischen Intellektuellen: Kafka, Kracauer, Bloch, 
Arendt oder Buber etwa – wobei außer Kafka alle scharf  kritisiert werden. 
Man könnte diesen polemischen Austausch zwischen unterschiedlichen Den-
kern und den diskutierten Problemen, der sich in den Debatten und Quer-
verweisen zwischen den publizierten Hauptwerken abspielt, als „Denkraum“ 
im  Sinne  der  Konstellationsforschung  bezeichnen.
61
 Alle weiteren Kapitel 
werden sich Adornos Werk und seiner Diskussion mit Scholem widmen. Das 
vorliegende versucht eine umrisshafte ideengeschichtliche Rekonstruktion his-
torischer Kontexte, in die Adornos und Scholems Überlegungen eingebettet 
sind und in deren Reflexion sie sich entfalten.
2.1  Der Schlüssel fehlt:  
Kabbala als Thema von Benjamins Philosophie?
Zumindest  vor  Erscheinen  des  Adorno-Scholem-Briefwechsels  im  April 
2015 wurde die Beziehung der beiden Korrespondenten meist im Hinblick 
auf  einen Dritten, den gemeinsamen Freund Walter Benjamin wahrgenom-
men.  Dies  geschieht  aus  nachvollziehbaren  Gründen,  denn  der  Historiker 
der Kabbala und der materialistische Frankfurter Gesellschaftskritiker beweg-
ten  sich  auf   äußerst  unterschiedlichen  Gebieten  und  ihre  Zusammenar-
beit beschränkte sich weitenteils auf  die Edition von Schriften und Briefen 
58 
Habermas. 
Vom Funken der Wahrheit.
59 
Matz. 
Mystik und Geschichte. S. 64.
60 
Vgl. detaillierter a. a. O. sowie Deuber-Mankowski. 
Eine Art von Zutrauen.
61 
Vgl. Stamm. 
Konstellationsforschung.


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