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der Kabbala die geschichtliche Selbstreflexion des religiösen Bewusstseins in einem
unaufhaltsamen Prozess von Säkularisierung.“
24
Liedke dokumentiert auf 20 Seiten seiner Untersuchung eine Reihe entspre-
chender Äußerungen Adornos und weist auch auf die wichtige Rolle hin, die
Person und Forschung Gershom Scholems dafür spielen. Die in der vorlie-
genden Studie angestellten Versuche einer Rekonstruktion sind ausführlicher,
bleiben Liedkes Untersuchungen aber inhaltlich verpflichtet, vor allem, da er
mit großer Deutlichkeit Adornos Postulat der unumgänglichen „Einwande-
rung“ des „Sakralen“ ins „Profane“ herausarbeitet. Dieses spielt, wie bereits
deutlich wurde, eine zentrale Rolle auch und besonders für sein Bild der
Kabbala. Liedke zeigt, dass sich die entsprechenden Thesen Adornos in der
Auseinandersetzung mit Paul Tillich, Walter Benjamin und Siegfried Kracauer
entwickelten. Dem ist zuzustimmen, aber hinzuzufügen, dass seine deutlichs-
ten Ausformulierungen des Profanisierungsgebots in Bemerkungen über
Scholem und die jüdische Mystik zu finden sind.
25
Reinhard Materns Monographie
Über Sprachgeschichte und Kabbala bei Hork-
heimer und Adorno widmet sich in der Hauptsache sprachphilosophischen The-
orien und Implikationen der
Dialektik der Aufklärung. Im letzten von sechs
Kapiteln werden in diesem Sinne auch Bezüge beider zur „jüdischen Theolo-
gie“ der Kabbala postuliert. Matern entdeckt zunächst eine Theorie des unaus-
sprechlichen Gottesnamens, die der Ausdruckssprache als utopisches Idealbild
entgegengestellt werde.
26
Außerdem deutet er die Behandlung von Zauberin-
nen bzw. weiblichen Naturgottheiten im Odysseus-Kapitel der
Dialektik der
Aufklärung als Anspielungen auf die Schechina als weiblicher Repräsentanz
der Gottheit innerhalb der Potenzen der kabbalistischen Sefirot.
27
Der Grund
für diese Identifizierung – immerhin finden sich die einschlägigen weiblichen
Figuren (wie die Sirenen) ja tatsächlich in der Odyssee wie überhaupt in der
griechischen Mythologie – wird bei Matern nicht angegeben. Überhaupt spielt
die Frage, woher und in welchem Ausmaß Horkheimer und Adorno die ent-
sprechenden kabbalistischen loci bekannt waren, keine Rolle. Materns Kritik
24
Ders.
Naturgeschichte und Religion. S. 419.
25
Vgl. Kapitel 4.
26
Obwohl Matern diese Idee Horkheimer zuschreibt, findet sie sich auch bei Adorno, sowohl
in der
Negativen Dialektik als auch in musikalischen Schriften, an denen in der vorliegenden
Studie das Konzept des mystischen Namens unten entwickeln wird. (vgl. Kapitel 6.3 im Ab-
schnitt „Versuch, den Namen selber zu nennen“).
27
Vgl. Matern.
Über Sprachgeschichte und Kabbala. S. 91 ff.
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an der „Scheu“, in Bezug auf „Philosophen jüdische Theologie, insbesondere
die Kabbala, auch konkret einzubeziehen“, stimme ich zu.
28
Zu
diesem Zweck
sollen hier aber weniger spekulative Verbindungen von Adornos Denken zur
jüdischen Mystik hergestellt als vielmehr dessen eigene Versuche verfolgt wer-
den, die Kabbala „konkret einzubeziehen“.
Die einzige Studie, die mit der vorliegenden explizit das Thema teilt, hat 2007
der Religionswissenschaftler Steven Wasserstrom mit seinem Aufsatz
Adorno’s
Kabbalah. Some Preliminary Observations vorgelegt. Der Aufsatz zitiert zahlreiche
Äußerungen Adornos über Kabbala, auch die Bezüge zu Benjamin und Scho-
lem werden deutlich. Der Gestus ist polemisch: Der Auseinandersetzung mit
Adornos „Irreligion“, einer widersprüchlichen, kunstzentrierten Erlösungs-
lehre, müsse man die mit seiner snobistischen Abwertung von Frauen, Astrolo-
gen und der jüdischen Alltagspraxis vorschalten.
29
Im Folgenden rekonstruiert
Wasserstrom zunächst Adornos von diesem selbst betonte geringe
Kenntnis
des Judentums, indem er einige von dessen Aussagen über diese Religion
zusammenträgt und widerlegt. So wird einerseits deutlich, wie vorsichtig man
mit Adornos entsprechenden Deutungen umgehen muss. Andererseits ver-
zichtet Wasserstroms verdachtshermeneutische Vorgehensweise weitestge-
hend darauf, die Rolle der untersuchten Topoi
bei Adorno heraus zuarbeiten.
Stattdessen wird beispielsweise dessen Okkultismus-Kritik zu einem der wich-
tigsten Diskussionspunkte. Das ist schon insofern erwähnenswert, als der
größte Teil der heutigen Esoterikforschung Adornos Interesse für Gnosis,
Mystik und Kabbala nicht berücksichtigt hat.
30
Dagegen
wird behauptet, er
28
Vgl. a. a. O. S. 5.
29
„Adorno’s irreligion was his religion. […] If Adorno, a lifelong composer and musicologist,
had any religion, then, it was aesthetics […]. The category ‚redemption‘, however, was the
promise surviving all others, even that of art. […] A cottage industry has developed on the
subject of Adorno and Religion. It rarely acknowledges, however, the misogynistic depths of
his philosophy. […] And so, with notorious snobbery, he gazed down from a great height not
only on women and astrologers but also on ordinary Jewish belief and practice.“ (Wasser-
strom.
Adorno’s Kabbalah. S. 57 f.) Vgl. zu Adornos Verhältnis zum Judentum Kapitel 2.5 der
vorliegenden Studie.
30
Vielmehr sind Frankfurt und Ascona (wo Scholem bei den esoterischen Eranos-Tagungen
auftrat) zu gegensätzlichen Idealtypen stilisiert worden. „If Eranos was the main twenti-
eth-century manifestation of religionism, the alternative Enlightenment paradigm was con-
tinued in the decades before and after World War II by […] the Frankfurt School. […] The
history of how Critical Theory has impacted the perception of ‚Western esotericism‘ among
intellectuals after World War II, particularly in Germany, deserves a major study […]. The
element of innovation in Critical Theory was that it posited a straight connection between
such ‚irrationalism‘ and fascism, thereby suggesting that the entire field of myth, symbol-
ism, gnosis, or esotericism was, by definition, tainted with dangerous political and immoral