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über die Kabbala. Adornos philosophische Aufnahme jüdisch-mystischer
Konzepte zeigt sich primär in seinen veröffentlichten Texten, die Scholem
allerdings oft zugeschickt wurden. Zweitens ist mit der hier vorzunehmenden
Rekonstruktion
nur eine, wenn auch bisher kaum näher in Betracht gezogene,
Quelle von Adornos „Theologie“ angesprochen. Kant, Hegel und Kierke-
gaard heißen seine religionsphilosophischen Stichwortgeber; Marx, Nietzsche
und Freud seine religionskritischen Gewährsmänner; Kracauer, Benjamin und
Horkheimer seine diesbezüglichen Diskussionspartner; Kafka, Proust und
Beckett sind Schriftsteller, im Anschluss an die er seine theologischen Inten-
tionen ausdrückt, in großer Musik verspricht sich sogar ein Denk modell des-
sen, „was anders wäre“. Die oft kolportierten sonstigen Parallelen mit einer
deutsch-jüdischen Religionsphilosophie, etwa vom Schlage Rosenzweigs,
scheinen mir – jedenfalls werkgeschichtlich – bei Adorno deutlich weniger
zentral.
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Umso wichtiger wurde der über Benjamin und Tillich vermittelte
Kontakt zu Scholem.
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An Franz Rosenzweigs sprach- und religionsphilosophischen Einsichten ist Adorno m. E.
schlicht vorbeigegangen, während er 1952
Hegel und der Staat lobte. Parallelen von Adorno
zu Rosenzweig und zwischen beider Konzept der Erlösung sind vielfach aufgezeigt worden.
(vgl. zur Einführung Brumlik.
Theologie und Messianismus im Werk Adornos. S. 89–96) Adornos
wenige Kommentare zu Rosenzweigs Philosophie fielen jedoch sehr kritisch aus. Den
Stern
der Erlösung las er in den 1920er Jahren sporadisch mit Siegfried Kracauer, ohne einen Zugang
zu finden. Auf einen Brief Kracauers an Leo Löwenthal schrieb er im August 1922: „Frie-
del, der sich mehr Geist bewahrt hat als ich, liest den Rosenzweig und berichtet mir daraus
Sprachphilosopheme, die ich auch nicht verstünde, wenn ich sie verstünde.“ (Löwenthal/
Kracauer.
In steter Freundschaft. S. 45, vgl. zum Kontext auch Lesch/Lesch.
Verbindungen zu einer
anderen Frankfurter Schule, Beck/Coomann.
Adorno, Kracauer und die Ursprünge der Jargonkritik)
Eine angedachte Neuauflage begrüßte er in den fünfziger Jahren jedoch ausdrücklich: „Recht
schön fände ich es, wenn auch das Hegelbuch, das ich gerade jetzt in einem Seminar über
‚Rechtsphilosophie‘ viel herangezogen habe, neu aufgelegt würde.“ (Adorno an Achim von
Borries, 28. Juli 1952, TWAA, Br 177/1, vgl. Rosenzweig.
Hegel und der Staat) Seine grundle-
gende Skepsis hatte sich dabei nicht geändert: „Lassen Sie mich Ihnen heute nur noch sagen,
daß ich in jüngster Zeit mich verschiedentlich mit Rosenzweig beschäftigt habe, bei Gele-
genheit eines Seminars über die Hegelsche Rechtsphilosophie mit seinem Hegelbuch und
neuerdings auch mit dem Stern, dass aber mein Gefühl recht zwiespältig ist. Ich bin noch zu
sehr auf den Kopf geschlagen, um Ihnen das im einzelnen zeigen zu können, möchte aber
doch die Ähnlichkeit mit Benjamin und dem frühen Bloch für einigermaßen oberflächlich
halten – R[osenzweig] gehört auf die andere Seite und hat sein ganzes Leben lang etwas vom
jüdischen Konsistorialrat behalten. Zwischen dem Klima seines Buches und dem Benjamins
liegt eben doch der Abgrund, der den Konformismus von einem wirklich radikalen Denken
trennt, und das ist keineswegs eine Sache der bloßen politischen Gesinnung, sondern das
bezieht sich auf das Innerste der Metaphysik selber.“ (Adorno an Borries, 8. März 1955,
TWAA, Br 177/8).
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Adornos erklärte Wahlverwandtschaft zur jüdischen Mystik war in der ers-
ten Generation seiner engeren Rezipienten durchaus gegenwärtig, wie die ein-
gangs zitierten Äußerungen Tiedemanns und Habermas’ zeigen.
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Aber auch
in der jüngeren Forschung finden sich deutliche Hinweise: Micha Brumlik
sieht bei Adorno die „ganz eigenständig weiterentwickelte kabbalistische Idee
eines der heillosen Welt zugehörigen erlösenden Lichts“ entfaltet.
20
An anderer
Stelle betont er, eine Interpretation von Adornos Denken müsse „Anschluss
[…] an die kabbalistische Lehre vom sich erniedrigenden Gott finden, des-
sen Funken nach dem Bruch der Gefäße in die Welt eingeschlossen wurden
und durch das Handeln der Menschen aus ihrer Verbannung befreit werden
können.“ Allerdings habe Adorno nach den Katastrophen des 20. Jahrhun-
derts die fortschrittsgläubigen Momente dieses Konzepts nicht mehr teilen
können: „Negative Dialektik ist, selbst wenn sie von einer Lehre vom sich
erniedrigenden Gott ihre letzte Plausibilität erhielte, vor allem Philosophie
beziehungsweise Theologie
nach Auschwitz.“
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Das kann man nicht ausreichend
betonen – allerdings stellt sich angesichts dessen die Frage,
wie genau Adorno
die kabbalistischen Ideen aufnimmt, verwirft oder modifiziert. Brumliks Hin-
weise beschränken sich auf Andeutungen, die überdies ideengeschichtlich
weiterer Diskussion bedürfen.
22
Der evangelische Theologe Ulf Liedke, der in zwei Monographien die m. E.
nach wie vor präziseste Rekonstruktion des Religionsbegriffs in der Philoso-
phie
Adornos vorgenommen hat,
23
betont ebenfalls dessen Aufnahme von
Ideen jüdischer Mystik und identifiziert sie „als Impuls zur Profanisierung“:
„Die jüdische Mystik ist das positive Beispiel eines Vollzugs von Profanisierung
innerhalb der Religion, die gleichwohl dem Versöhnungsversprechen die Treue
hielt. Sie ist deshalb gegenüber der christlichen Theologie, die oft genug mit
geschichtsloser Metaphysik fusioniert war, entscheidend voraus. Adorno erblickt in
19
Vgl. auch Kapitel 2.3.
20
Vgl. Brumlik.
Verborgene Tradition und messianisches Licht. S. 81.
21
Ders.
Theologie und Messianismus im Denken Adornos. S. 109 f.
22
Die Rede vom Licht der Erlösung findet sich bei Adorno bereits Jahre vor seiner Auseinan-
dersetzung mit Scholem in seiner Habilitationsschrift zu
Kierkegaard (1933). Hier liest man
vom „Licht des Jüngsten Tages“, dessen „Spur“ nur in der „konkreten“ Erfahrung gefunden
werden könne. (vgl. GS 2, 123) In der Tat bedient Adorno sich jedoch später des berühmten
Bildes gefallener Lichtfunken, wie Brumlik feststellt. (vgl. Kapitel 5.2 im Abschnitt „Funken
des messianischen Endes“).
23
Vgl. Liedke.
Naturgeschichte und Religion, ders.
Zerbrechliche Wahrheit.