V
Vrreeerrknnen
13
dezidiert „profane“ Aneignung vorzuliegen. Dementsprechend wird zu zeigen
sein, wie Adornos an Scholem gebildete Interpretation der Kabbala bei ihm
produktiv wird.
Der systematische Ort ‚jüdischer Mystik‘ in seinem Werk ist
nicht nur in expliziten Belegstellen für und Anspielungen auf Kabbalistisches
zu finden, sondern in Duktus und Durchführung seiner Philosophie als gan-
zer, wie sie sich an und in den einzelnen Motiven entfaltet. Das Thema taucht
immer wieder in Anspielungen und Randbemerkungen auf, stets aphoristisch,
zuweilen kryptisch, weit verstreut über gesellschaftstheoretische, literatur- und
musikphilosophische Texte. Um eine ganze Reihe von Künstlern – von Beet-
hoven zu Goethe – spinnt er kabbalistische Interpretationsfiguren.
Die folgende Rekonstruktion und Deutung mag vor allem für zwei Diskus-
sionen um Adornos Werk und Denken hilfreich sein: Zunächst für die zum
Gemeinplatz gewordene, zuweilen schwammige Rede vom ‚jüdischen Erbe‘
seiner Philosophie, das jedoch eine systematische Herausarbeitung verdient.
Zweitens für die oft gemiedene Auseinandersetzung über die Bedeutung theo-
logischer Argumente für diese Philosophie, welche sich hier nicht abschließend
klären, aber mit Blick auf einen ihrer zentralen Gegenstände konkretisieren
lassen.
7
Eine solche Spurensuche erlaubt, den Blick auf wenig beachtete, aber
bedenkenswerte Einzelheiten der
Adornoschen Theorie von der
Negativen Dia-
lektik zur Ästhetik zu werfen. Diese sollten dabei nicht aus ihrem grundlegend
politischen Kontext gerissen werden, der sich noch in den verzweigtesten
religiösen Reminiszenzen ausspricht: Adornos ‚Kritische Theorie‘ ist
kritische
Theorie, die gegen den Widersinn der modernen Gesellschaft auf deren prak-
tische Veränderung zielt. Einstweilen entfaltet sie ihre argumentative Kraft
weniger in systematischen oder (gar religions-)historischen Betrachtungen als
aus konkreten theoretischen Interventionen, d. h. daraus, „ganz profane, dafür
aber akute Erscheinungen zu zerlegen“.
8
Die Möglichkeiten der vorliegenden
Publikation sind demgegenüber die bescheideneren des Zeigens: Auslegende
Versenkung (vgl. GS 11, 129) in Adornos kabbalistische Marginalien, deren
7
Vor allem theologische Studien aus den achtziger und neunziger Jahren haben aber zu einer
umfangreichen Literatur zu theologischen Versuchen Adornos beigetragen, wobei das The-
ma der vorliegenden Studie wenig behandelt wurde, vgl. zum Forschungsstand Kapitel 1.2.
8
Pohrt.
Der Staatsfeind auf dem Lehrstuhl. S. 52. Der Zitierte geht seinerseits mit der beque-
men Feststellung, dass der Meister „keinen Pfaffen an sein Grab gelassen hat“, an Adornos
theologischen Äußerungen vorbei. Zu Adornos intellektueller Praxis vgl. Martin.
Denken im
Widerspruch. S. 124–135.
14
V
Vrreeerrknnen
konstellative Erhellung durch Deutungsfiguren Scholems und Benjamins.
9
Ein
Philosoph, der „die Demontage der Systeme“ zugunsten des Details fordert
und dem Denken zuruft, „vorm Kleinsten zu verweilen“ (GS 6, 44), verdient,
auch in den hier versammelten Äußerungen beim Wort genommen zu werden,
weil seinem eigenen Anspruch nach „alle Sätze gleich nah zum Mittelpunkt
stehen.“ (GS 4, 78) Es sind die enigmatischen „Chiffren, die Leser häufig ver-
nachlässigen, als verwunderliche oder abwegige Vorstellungen abtun, als pri-
vate Schrullen oder als bloße Bilder, die es […] gerade ernst zu nehmen gilt“,
wie Alexander Garcia Düttmann in einem Kommentar zu Adornos
Minima
Moralia herausstellt.
10
In ähnlicher Weise werden oft auch Adornos metaphy-
sische und religiöse Hinweise übergangen – ironischerweise gerade im Bemü-
hen um eine möglichst plausible Lesart. Theologie wie historisch-kritische
Lektüre sind ihre Verteidigung gegen solch verkürzte Plausibilitätsstrukturen
allemal wert. Adorno selbst war in dieser Hinsicht ohnehin weniger befangen
als viele seiner Adepten: „[…] denn darin sind wir gewiß auch heute noch
d’accord, daß die Grenzpfähle zwischen Theologie und Philosophie mehr die
der bürgerlich wissenschaftlichen Arbeitsteilung sind als die von Transzen-
denz und Immanenz.“
11
Unter den Bedingungen solcher Arbeitsteilung, die
von Seiten der Philosophie nach wie vor nicht selten zum Verschweigen der
abgespaltenen Theologie führt, mag es widersprüchlich wirken, dass Adorno
eine pointierte ideologiekritisch-materialistische Theorie formuliert und darin
zugleich emphatisch religiöse Motive verwendet. Letztere sind deshalb – wie
hier exemplarisch zum Thema Kabbala – an ihren religiösen Quellen zu kon-
kretisieren und zugleich im Hinblick auf ihre inhaltliche, durchaus profane
Bedeutung für die Theoriebildung zu interpretieren. Zuweilen werden sie statt-
dessen in der Tat als private Schrullen oder verzweifelter Ausweg Adornos aus
seiner eigenen pessimistischen Zeitdiagnose abgetan. Die mit unbefangener
Selbstverständlichkeit verbreitete Unterstellung, dass religiöse und metaphy-
sische Reminiszenzen eine Sackgasse seiner Denkbewegung anzeigen, führt
etwa
zu Michael Theunissens Kritik, Adornos Philosophie sei „in gewisser
Weise nicht negativistisch genug […] weil sie sich infolge ihrer Abhängigkeit
9
Dieser Gestus wird auch in Adornos Schriften formuliert, vor allem aber steht mir Walter
Benjamins Passagenwerk Modell: „Methode dieser Arbeit: literarische Montagen. Ich habe
nichts zu sagen. Nur zu zeigen.“ (BGS V.1, 574) Vgl. auch Braunstein.
Adornos Kritik der
politischen Ökonomie. S. 10, Tiedemann.
Abenteuer anschauender Vernunft. S. 9 ff.
10
Garcia Düttmann.
So ist es. S. 21.
11
Adorno
an Paul Tillich, 9. Oktober 1964 (TWAA, Br 1548/12).