Adorno und die Kabbala (Pri ha-Pardes; 9)



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(NL IV/14, 220) Außerdem seien diese Erfahrungen eben stets mit Projek-
tionen und Wünschen durchsetzt, was in der Mystik durch den dogmatischen 
Kompass des Geoffenbarten abgefedert werde.
„In solchen Erfahrungen unterliegt man zugleich den Bedingungen der empirischen 
Welt;  man  unterliegt  der  ganzen  Fehlbarkeit  dessen,  was  auch  von  der  eigenen 
Psychologie, von dem eigenen Wunsch, der eigenen Sehnsucht abhängt. […] Wenn 
ich  Ihnen  vorhin  gesagt  habe,  daß  das  mit  der  reinen  mystischen  Erfahrung  so 
eine  Sache  ist,  daß  die  gar  nicht  so  rein,  gar  nicht  so  innerlich  ist,  sondern  viel 
gegenständlicher als man das ihrem Begriff  nach von ihr erwartet, dann steckt auch 
das darin.“ (a. a. O., S. 219 ff.)
Das metaphysisch-utopische Ideal aus der Glückserfahrung wie das déjà vu 
führt der eben auch bei Freud in die Schule gegangene Denker also auch auf  
die je „eigene Psychologie“ zurück. Freud waren die Inhalte der Religionen 
Illusionen, d. h. Wunschbilder.
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 Adorno greift diese Gedanken auf, er will den 
Wunsch jedoch nicht umstandslos auflösen, sondern bestimmt ihn, sublimiert, 
zum Movens seiner Metaphysik, die sich „aufs Wünschen verstehen“ müsse: 
„Aus dem Bedürfnis wird gedacht, selbst wo das wishful thinking verworfen 
ist. […] Gegenstand von Kritik ist deshalb nicht das Bedürfnis im Denken, 
sondern das Verhältnis zwischen beiden.“ Der Trieb wird zum Ideal sublimiert 
bzw. das Bedürfnis im Denken bestimmt negiert, dadurch aber auch bewahrt, 
es  „vertritt  in  der  innersten  Zelle  des  Gedankens,  was  nicht  seinesgleichen 
ist.“ (GS 6, 399 f.) Hier vollzieht sich Eingedenken der verdrängten Natur im 
Subjekt wie auch Eingedenken der „Splitter“ der Tradition, und diese Erfah-
rung mag momenthaft einen negativen Maßstab der Versöhnung darstellen. 
Im 
Kierkegaard wird diese Idee unter dem Begriff  der Phantasie verhandelt:
„In  Phantasie  übersteigt  Natur  sich  selber;  Natur,  aus  deren  Trieb  sie  kommt; 
Natur, die sich in ihr selbst anschaut; Natur, die in der geringsten Versetzung durch 
Phantasie als gerettete sich darbietet. […] Durch Erinnerung wendet Phantasie die 
Spuren des Zerfalls der sündhaften Schöpfung in Zeichen für die ganze, sündelose 
um, deren Bild sie im Schein aus Trümmern bereitet.“ (GS 2, 198)
377 
„Wir heißen also einen Glauben eine Illusion, wenn sich in seiner Motivierung die Wunscher-
füllung vordrängt. […] Wir sagen uns, es wäre ja sehr schön, wenn es einen Gott gäbe als 
Weltenschöpfer und gütige Vorsehung, eine sittliche Weltordnung und ein jenseitiges Leben, 
aber es ist doch sehr auffällig, daß dies alles so ist, wie wir es uns wünschen müssen.“ (Freud. 
Die Zukunft einer Illusion. S. 165 ff.).


 
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Diese  dialektische  Aneignung  der  Fehlbarkeit  und  das  Lob  der  Phantasie 
dienen Adorno jedoch nicht dazu, in einem zweiten Schritt den Schein als 
Heilsgewissheit  misszuverstehen  und  die  metaphysische  Erfahrung  per  se 
für unproblematisch zu erklären. Im Gegenteil: Will sie sich nicht als nostal-
gischer Eskapismus verdächtig machen, muss die Artikulation metaphysischer 
Erfahrung aussprechen, was sie antreibt. Das Leid in der deformierten und 
deformierenden Gesellschaft, die eben bloß in winzigen Glückserfahrungen 
mehr zu sein scheint, als sie ist. Die Enttäuschung über die Welt erweist sich 
als negativer Kern metaphysischer Erfahrung. Die sich windende Formulie-
rung dessen in der Metaphysik-Vorlesung verdient einmal mehr ausführliche 
Zitation:
„Wenn man heute Proust liest, dann haben bereits die Zeugnisse einer solchen 
metaphysischen Erfahrung, die bei ihm eine so große Rolle spielen […] [,] auch 
ein  Moment  des  Romantischen,  das  sie  bereits  in  die  Kritik  hineinreißt  […]. 
Infolgedessen  wird  man  die  metaphysische  Erfahrung  verfolgen  müssen  in  eine 
Schicht,  die  ihr  ursprünglich  außerordentlich  fremd  gewesen  ist.  Sie  erhält  sich 
nämlich nur noch negativ […] und das muß man wohl sehr streng nehmen; und man 
muß daraus etwas wie einen Kanon machen für metaphysisches Denken selber –, 
daß die Gestalt, in der metaphysische Erfahrung wirklich etwas sich Aufdrängendes, 
sich  Aufzwingendes  noch  hat,  das  nicht  als  ein  romantischer  Wunsch,  als  eine 
Sphäre romantischen Wünschens sich verdächtig macht –, daß das die Erfahrung 
des Ist das denn alles? ist; jene Erfahrung, die vielleicht, wenn ich einmal wie ein 
Existenzialist  reden  darf,  in  den  ‚Situationen‘,  die  wir  durchmachen,  die  größte 
Ähnlichkeit  hat  mit  der  Situation  des  vergeblichen  Wartens.  Die  Negativität  der 
Situation vergeblichen Wartens […].“ (NL IV/14, 223)
Auch wenn man heute Adorno liest, hat die metaphysische Erfahrung etwas 
Romantisches.  Er  rekurriert  auf   die  Glückserfahrungen  von  „Kindern  der 
gleichen  gesellschaftlichen  Schicht“  (GS  6,  366),  „in  denen  unwiederbring-
lich das 19. Jahrhundert nachhallt.“
378
 Adornos Lob der seligen Ortsnamen 
oder die Schilderung des déjà vu als Erlebnis, das man an „Kinderbüchern 
machen kann“ (NL IV/14, 219) taugen längst nicht mehr als von uns allen 
geteilte Erfahrungen aus der Kindheitsbiographie. Nachvollziehbar ist damit 
das Anliegen, das „sich Aufzwingende“ metaphysischer Erfahrung nur noch 
378 
Jopp. 
Freiheit und Totalität. S. 115.


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negativ zu erhalten. Adornos erster Lehrer Siegfried Kracauer hatte sich 1922 
in religiöser Hinsicht als „Wartenden“ bezeichnet: Im Gegensatz zum „prin-
zipiellen Skeptiker“ wie zum „Kurzschluß-Menschen“, der sich blindlings in 
ein religiöses Credo stürze, nehme der Wartende „ein zögerndes Geöffnet-
sein“ gegenüber dem Absoluten ein, ohne sich in dessen Besitz zu wähnen. 
Er wolle, aber könne nicht glauben. (vgl. KW 5.1, 392) In der Differenz dazu 
lässt sich die desillusionierte Radikalität des „vergeblichen Wartens“ deutlich 
machen. Der Wartende mag, zögerlich oder nicht, geöffnet sein, aber er wartet 
auf  Godot. Ihm bleibt nurmehr die Sehnsucht nach Erfüllung. „Vergebliches 
Warten verbürgt nicht, worauf  die Erwartung geht, sondern reflektiert den 
Zustand, der sein Maß hat an der Versagung.“ (GS 6, 368) Unter Reflexion auf  
diese Versagung hat Adorno seine Beschreibungen messianischen Lichts und 
metaphysischer  Erfahrung  stets  eingeschränkt  und,  sobald  ausgesprochen, 
zugleich als unmöglich ausgewiesen. (vgl. a. a. O., 367 f., GS 4, 283) Metaphy-
sische Erfahrung nach Adorno mag im Glück ein Modell von Versöhnung fin-
den, aber sie steht am Ende mit leeren Händen da. Sie kann der Frage, worauf  
sie hinweisen soll, letztlich nichts antworten, sondern eben bloß der sehr viel 
grundsätzlicheren Frage Nahrung geben, ob die uns umgebende Welt schon 
die Letzte gewesen sein soll. So schließt denn auch Adorno seine 
Metaphysik-
Vorlesung mit der Beschwörung seiner eigenen Aporie.
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 Seine metaphysi-
sche Erfahrung in ihrer gebotenen Negativität läuft auf  das hinaus, was man 
unwillkürlich auch Adorno nach seiner Selbstrücknahme zurufen möchte: Ist 
das alles? Und darin eben liegt der noch so schwache subversive Gehalt dieser 
letzten metaphysischen Erfahrung: Sie ist eine der eigenen Nicht-Identität mit 
dem Ganzen, der fortgesetzte „Seufzer der bedrängten Kreatur“,
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 der sich 
seiner selbst zweifelnd bewusst wurde. Weil Anlass zum Seufzen besteht, wird 
die Immanenz des Faktischen weiterhin in Frage gestellt. Wenn auch nicht als 
Vorschein von Versöhnung erweist sich in diesem Sinne die metaphysische 
Erfahrung vergeblichen Wartens als Möglichkeitsbedingung von Kritik.
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„Dieses Transzendente 
ist also, und es ist zugleich nicht,  –  und  über  diesen  Widerspruch 
läßt sich wohl sehr schwer, wahrscheinlich überhaupt nicht, hinausdenken. Indem ich Ihnen 
das sage, meine Damen und Herren, habe ich wenigstens das Gefühl, daß ich einen Punkt 
erreicht habe, an dem die Unmöglichkeit, das zu denken, was doch gedacht werden muß, 
konvergiert.“ (NL IV/14, 226).
380 
Marx. 
Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. S. 378.


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