ihrer Flucht mit den verschiedenen Menschen in Berührung kommen; wie die Menschen reagieren, die
mit den Geflohenen vor deren Inhaftierung in Beziehung standen (Familienbande, Freundschaft,
politische Kontakte etc.), als
sie von deren Flucht erfahren, und wie die Vertreter des Nazisystems die
Verfolgung organisieren und dabei alle Möglichkeiten einsetzen, die einem faschistischen Staat zur
Verfügung stehen. Dabei gelingt es ihr, ein eindringliches Bild des Alltags im Faschismus sowie der
Formen und Methoden der Nazi-Herrschaft zu entwerfen.
Mehrere Besonderheiten dieses Romans
dienen der Differenzierung, verleihen ihm aber auch eine
besondere Überzeugungskraft:
Zum einen nutzt Anna Seghers die große Zahl von Personen, die indirekt oder direkt, gewollt oder
ungewollt mit dem Fluchtgeschehen in Berührung kommen, um den Leser(n)/Innen
Einblicke in die
Lebensformen der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten jener Zeit zu gewähren. Dadurch
wird ihr Anspruch, die soziale Struktur des Volkes „aufzurollen“ im soziologischen Sinne erfüllt.
Arbeiter, Bauern, ein Schäfer, Kleinbürger, Intellektuelle und Künstler zählen zu ihrem Personal. Auch
in der Darstellung der Flüchtlinge und der Vertreter des Faschismus behält sie diese Breite der
Darstellung bei.
Zum anderen überzeugt der Roman dadurch, wie die verschiedenen unterschiedlichen Figuren präsentiert
werden. Obwohl Georg Heisler, dem als einzigem die Flucht gelingt, unbestritten
im Mittelpunkt der
Figurengestaltung steht, verleiht Anna Seghers allen Figuren, auch denen, die eine untergeordnete Rolle
spielen, große Lebendigkeit und Plastizität.
Thematisch eng mit der Gestaltung der Figuren verknüpft wird zudem der Alltag der Menschen im
Faschismus, im Roman „das einfache Leben“ genannt, in den Mittelpunkt gestellt. Die überwiegende
Zahl der im Roman dargestellten Figuren führt ein Leben, das sich völlig im Bereich des Alltäglichen
und Unspektakulären bewegt: Die Menschen gehen zur Arbeit in die Fabrik, bringen die Ernte ein,
trinken
gemeinsam Kaffe, bügeln Wäsche oder besuchen ihre Stammkneipe. Sie leben ihren Alltag, als
habe sich an den Umständen ihres Lebens nichts geändert. Dieser Alltag trägt sogar in der Darstellung
durch Anna Seghers teilweise idyllische bzw. paradiesische Züge. An vielen Stellen des Romans steht er
als Gegenpol zur „unordentlichen Welt“ der Nazis, strahlt „Macht und Glanz“ aus und übt selbst auf
Georg, den Revolutionär, große Anziehungskraft aus.
Erst die Flucht der KZ-Insassen bringt Bewegung in die Ruhe und Gelassenheit, die den Alltag scheinbar
bestimmen, und zwingt sowohl die Bevölkerung als auch die Vertreter des Faschismus zum Handeln. Die
Flucht wirkt als Katalysator und gerät zur Machtprobe: Die Menschen, die sich im gewöhnlichen Leben
eingerichtet hatten, werden durch die Flucht und die Begegnung mit den Flüchtlingen aus dem normalen
Ablauf des Alltags herausgerissen, müssen sich entscheiden, ob sie den Flüchtlingen helfen und dadurch
ihr eigenes Leben riskieren oder ob sie ihre Hilfe verweigern und sich weiterhin mit den faschistischen
Verhältnissen arrangieren wollen. So wird die Begegnung mit den Flüchtlingen zur Situation der
Bewährung, in der die Menschen sich verändern.
Die faschistische Ordnung als umfassendes System von Unterdrückungsmechanismen hat zwar einerseits
dieses Alltagsleben der Menschen nicht vereinnahmen können, andererseits zeigt aber auch die Tatsache,
dass nur Georg Heisler - einem von sieben geflüchteten KZ-Insassen - die Flucht gelingt, wie
wirkungsvoll die Nationalsozialisten ihr Überwachungs- und Herrschaftssystem aufgebaut haben.
Anhand der vielen Menschen, die
dem flüchtenden Georg helfen, wird aber auch gezeigt, wozu
Menschen fähig und bereit sind, wenn es darum geht, unter Einsatz des eigenen Lebens Solidarität zu
zeigen.
Die Gestaltung des antifaschistischen Widerstandes wird damit zum zentralen Thema des Romans. Da
die Flucht durch die Solidarität der vielen Helfer diesem einen Flüchtenden gelingt, vermittelt der Roman
trotz des Scheiterns der sechs anderen eine optimistische Grundhaltung.
Das Gelingen dieser einen
Flucht stellt die Allmacht der Nationalsozialisten in Frage und lässt die Beteiligten sich einer Kraft
bewusst werden, die sie schon verloren glaubten: „
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