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aufgegriffenen
Römischen Recht, trotz einer weiterhin bestehenden Zulässigkeit
territorialspezifischer Partikularrechte. In der hier behandelten Reichskammerge-
richtsakte finden sich sowohl Hinweise auf partikularrechtliche, als auch auf neu re-
zipierte römische Gerichtspraktiken, anhand derer sich eine „Zivilisierung des
Rechts“ ausmachen ließe. Das zivilisatorische Potenzial des Reichskammergerichts
lag im rechtlichen Konfliktaustrag unter professionellen Vorzeichen. Sein Aufbau,
wie auch seine Arbeitsweisen dienten dem sich im 16. Jahrhundert weiter ausdiffe-
renzierenden Gerichtswesen in vielen Territorien des Reiches als Vorbild, so auch im
Herzogtum Berg, aus dem Johann Höffgen und Johann Sturm mitsamt ihren Fami-
lienangehörigen als Untertanen stammten. Herzog Johann III. von Jülich-Kleve-Berg
hatte 1530 von Kaiser Karl V. ein Appellationsprivileg mit einer Streitsumme von
200 Gulden erlangt, d. h. nur wenn der Streitwert diese Summe überstieg, durfte der
Prozess vor das Reichskammergericht getragen werden. Die Summe wurde 1546 auf
400 und 1568 auf 600 Gulden erhöht.
16
Bedingung für diese Privilegien war die
Existenz einer territorialen Hochgerichtsbarkeit und damit
eines mehrstufigen In-
stanzenzuges. Im vorliegenden Fall rekurrierte das Hofgericht als Vorinstanz vielfach
auf Privileg und Streitsumme, indem es sie als Gründe für die Abweisung der
Appellation Eva Höffgens vor dem Reichskammergericht anführte.
17
Mit der Reichs-
kammergerichtsordnung von 1555 begann eine noch stärkere Hinwendung zum Rö-
mischen Recht. Urteile lokaler Schöffengerichte galten nicht mehr als unumstöß-
lich.
18
Zudem wurde mehr und mehr eine juristische Schulung für die Position als
Schöffe oder Amtmann vorausgesetzt. Die Ersetzung des als „Rittergericht“ gel-
tenden Opladener Hauptlandesgerichts durch den herzoglichen Hofrat kann als
weitere Maßnahme zur Rechtsprofessionalisierung gesehen werden. Mit Elias argu-
mentiert, bündelte die Institution Reichskammergericht als oberste Appellations-
instanz nicht nur die Gerichtsgewalt. Auch das von Ehrenpreis an diesem Punkt an-
gesetzte Ende des Fehderechts im Bergischen Land stellt demnach einen zivilisato-
rischen Schritt dar.
19
Nach dem Tod des letzten Herzogs von Jülich-Kleve-Berg 1609
und der Aufteilung seiner Territorien zwischen Brandenburg und Pfalz-Neuburg
wurde die Justiz weiter zentralisiert. Die Zuständigkeit des neu gegründeten Hofrats
16
Vgl. LA NRW, Abt. Rheinland, RKG H 1460/4662, Bd. 1, fol. 14v.
17
„demwegen an diesem kaÿserlichen Camergericht, derselbigen mit nichten stat zu geben, noch zu
admittiren.“, vgl. LA NRW, Abt. Rheinland, RKG H 1460/4662, Bd. 1, fol. 14r.
18
„daß in nächst voriger Instantz übel geurthelt, wohl davon appellirt, derwegen selbigß zue retractirn.“,
vgl. ebd. fol. 31r.
19
Vgl. Ehrenpreis, Stefan: S. 254.
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beschränkte sich danach immer mehr territorial auf die
Herzogtümer Jülich und Berg
als Länder des Pfalzgrafen von Neuburg. Der Rat wurde zunehmend mit engen
Vertrauten des Pfalzgrafen besetzt, die Aufgaben in Justiz und Verwaltung
übernahmen. Für die Zeit der Verhandlungen im Fall Höffgen ./. Sturm lässt sich
aber noch nachweisen, dass noch immer sowohl pfalz-neuburgische als auch bran-
denburgische Räte, entsprechend der gemeinsamen Besitznahme der jülich-kle-
vischen Länder durch Brandenburg und Pfalz-Neuburg, an der Rechtsprechung betei-
ligt waren. Im vorinstanzlichen Urteil vom 28. April 1620 wurden die kur- und fürst-
lichen „Brandenburgh und Pfalz Newburgische Gulich und Bergische Räte“ als
Urteilssprecher genannt.
20
Die Reichskammergerichtsakte Höffgen ./. Sturm vermittelt überdies, dass Strategien
zur Deeskalation von Gewalt auch in der traditionellen Welt der Untertanen nicht un-
bekannt waren. Der Versuch von Nachbarn, die beiden Streitenden voneinander zu
trennen, bevor es zur tödlichen Verletzung kam, kann diesbezüglich als einen Beleg
unter mehreren gesehen werden. Insgesamt ist darauf hinzuweisen, dass Elias‘ These
vom „Prozess der Zivilisation“ mittlerweile veraltet wirkt, da sich Studien auf diesem
Feld in den letzten fünfzig Jahren überaus stark weiterentwickelt haben. Elias hat
sich weitgehend auf das Werk einiger „Veteranen“ wie Franklin und Cabanès ge-
stützt. Elias‘ Bild des Mittelalters scheint überhaupt sehr unausgewogen. Der Ein-
fluss des Christentums bei Elias‘ Darstellung der Entstehung der Selbstbeherrschung
wird kaum erwähnt. Für die Religion – oder, wie er es nannte, den „Aberglauben“ –
interessierte sich Elias nicht.
21
Max Weber hatte die Bedeutung der Kirche für die
säkulare Welt, vor allem für den Prozess der Selbstbeherrschung, in seiner berühmten
Diskussion der „innerweltlichen Askese“ deutlicher hervorgehoben. Trotz seiner be-
rühmten These über den Zusammenhang zwischen dem Aufstieg des zentralisierten
Staats und der „Zähmung“ des Adels ging Elias kaum auf Versuche ein, der Gewalt
Herr zu werden. Seit seiner Zeit haben die Historiker allerdings wichtige Beiträge zu
diesen Themen geleistet. So nahm Lawrence Stone in seiner „Crisis of the Aristo-
cracy“ (1965) an, dass zwischen dem Aufstieg des zentralisierten Staats, der Abnah-
me der Gewalt und der Zunahme von Rechtsstreiten als Form des sublimierten Kon-
flikts Zusammenhänge bestehen. Studien zur Fehde und zum Duell weisen in die
gleiche Richtung.
22
In den fünfziger Jahren hat der Anthropologe Max Gluckman in
20
LAV NRW, Abt. Rheinland, RKG H 1460/4662, Bd. 1, fol. 14v, fol. 6r.
21
Burke, Peter: S. 61.
22
Stone, Lawrence: The Family, Sex and Marriage in Early Modern England. London 1977, S. 240.