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Vorinstanzen diese Ehre verletzt hatte. Das Appellationslibell
in den Akten der nun
dritten Instanz, des Reichskammergerichts, zeigt die Sichtweise der Partei des älteren
Mannes Johann Höffgen. Die Ehre der Familie ist seinen Angehörigen ein wichtiges
Anliegen. Zudem geht es um die finanzielle Überlebenssicherung der Witwen, die
sich nach dem Tod der jeweiligen Ernährer versorgt wissen wollten. Der Begriff der
Ehre war in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit zentral. Über Reichskammer-
gerichtsakten wird er ebenso erforschbar wie andere alltags- und kulturgeschichtliche
Aspekte dieser Epoche. Aus diesem Anlass heraus stellte sich eine studentische
Arbeitsgruppe „Reichskammergericht“ des Historischen Instituts der Universität
Duisburg-Essen Fragen nach Mord und Totschlag sowie der Zivilisation der Frühen
Neuzeit. Einige Ergebnisse dieser Forschungen werden im Folgenden präsentiert.
„Schätze auf Papier“: Über den Quellenwert von Reichskam-
mergerichtsakten am Beispiel eines Monheimer Untertanenpro-
zesses (1609-1624)
von Anna Krakowski
Einleitung
Die stetig zunehmende Verzeichnung und Digitalisierung frühneuzeitlicher
Reichskammergerichtsakten eröffnet nicht nur Historikern zahlreiche Forschungs-
ansätze.
1
Die Aufarbeitung bisher noch nicht edierter Originalquellen ermöglicht
mithilfe der Digitalisate erste Zugänge und eine neue Öffentlichkeit der vielseitigen
Aktenstücke des RKG. Vor allem Studierende können so an die wertvollen Archiv-
schätze der Frühen Neuzeit herangeführt werden und eigene Forschungsfragen durch
den Umgang mit dem inhaltlich oftmals noch wenig erschlossenen Archivgut des
Alten Reiches entwickeln. Der durchaus beachtliche Bestand des Landesarchivs
Nordrhein-Westfalen von rund 6.800 RKG-Prozessen
2
bietet Studierenden somit
nicht mehr nur allein durch einen instruktiven Besuch vor Ort ein wertvolles
Quellenkonglomerat, dessen Erforschung vielversprechend ist.
3
Um ihrem For-
1
Gegenwärtig lagern in deutschen Archiven rund 77.000 Prozessakten des RKG, die für die Nutzer bereits
überwiegend gut zugänglich gemacht wurden.
2
Eine Übersicht, sowie das Online-Findbuch d. Duisburger RKG-Bestandes ist aufrufbar unter:
http://www.archive.nrw.de/LAV_NRW/jsp/bestand.jsp?archivNr=185&tektId=996&expandId=996 (aufge-
rufen am 01.07.2015).
3
Einen aufschlussreichen Überblick über Form u. Inhalt d. Reichskammergerichtsakten als Archivalie u.
Quelle liefern Peter Oestmann u. Wilfried Reininghaus: Die Akten des Reichskammergerichts. Schlüssel
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Abb. 1: Besuch im Landesarchiv
Duisburg. Foto(Ausschnitt): Dr. Martin
Früh.
schungsinteresse an den Duisburger Kammeralakten nachzugehen, beschäftigt sich
die Essener Arbeitsgruppe mit dem Untertanenprozess Höffgen vs. Sturm, der im
frühen 17. Jahrhundert den langen Weg von Monheim nach Speyer fand.
4
Ausgangspunkt der Forschungen war zunächst die Transkription und Aufarbeitung
eines Appellationslibells von 1620, welches sich im RKG-Dossier des Falls befindet.
Im Folgenden wurden sowohl Teile der Interrogatoria als auch der dazu gehörigen
Zeugenaussagen der Untergerichte in die Quellenarbeit mit einbezogen. Eine voll-
ständige Transkription und Auswertung der überlieferten Akte und ihrer Beilagen
stehen gegenwärtig noch aus. Im Konvolut des Falls finden sich zusätzlich beispiels-
weise die Urteile der Vorinstanzen sowie zahl-
reiche verfahrenstechnische Streitigkeiten zwi-
schen den Prokuratoren. Die Aufarbeitung der bis
vor einigen Wochen noch ungeöffneten Vor-
instanzakten, die das erste Purgationsverfahren
Höffgens dokumentieren, verspricht noch weitere
aufschlussreiche Erkenntnisse. Neben dem Aus-
bau paläographischer Fähigkeiten und der Ver-
tiefung des eigenen Wissens über Recht- und
Rechtssprache sowie die Gerichtspraxis des Hei-
ligen Römischen Reichs steht jedoch vor allem
die Quellenkritik im Vordergrund der studen-
tischen Arbeit. Die verschiedenen im Duisburger
Aktenkonvolut enthaltenen Textsorten sollen da-
bei exemplarisch hinsichtlich ihres Quellenwerts
untersucht und aufgearbeitet werden, um den rein
rechtlichen Kenntnisbereichen möglicherweise
noch weitere Wissenskategorien und Forschungs-
ansätze hinzufügen zu können.
zur vormodernen Geschichte, Düsseldorf 2012 (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-
Westfalen, 44).
4
Forschungsgrundlage d. Arbeitskreises: Der Tötungsfall Höffgen u. Sturm: Ein Untertanenprozess am
Reichskammergericht, Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, RKG H 1460/4662.
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Ein genauerer Blick auf den Fall Höffgen contra Sturm (Monheim 1609)
5
Nach einem schon länger schwelenden Nachbarschaftsstreit soll am Abend des 4.
Novembers 1609 der vermutlich betrunkene Johann Sturm (~30 J.) seinen Bekannten
Johann Höffgen (~70 J.) angegriffen haben. Der Alte befand sich in Begleitung
zweier Männer auf dem Weg zu einer Gesellschaft von Hitdorf nach Monheim (heute
Kreis Leverkusen bzw. Mettmann). Nachdem der bewaffnete Sturm von den Beglei-
tern Höffgens abgewehrt werden konnte, soll dieser mit einem Gaffbeil auf den Alten
eingeschlagen haben. Aus Notwehr habe Höffgen dem Angreifer schließlich mit ei-
nem Brotmesser eine Bauchverletzung zugefügt.
6
Ein zu Hilfe gerufener Barbier,
mutmaßlich ebenfalls trunken,
7
begünstigte womöglich den Tod des Verletzten, der
zur Wundversorgung in ein nahe gelegenes Haus gebracht wurde. Auf diesen Vorfall
folgte ca. 1610/11 das von Höffgen angestrebte Purgationsverfahren vor dem Stadt-
und Hauptgericht Düsseldorf (1. Instanz), welches den Beklagten schließlich nach ei-
nem Zeugenverhör straffrei sprach.
8
Die zweite Instanz, das jülisch-klevische Hof-
gericht zu Düsseldorf, revidierte jedoch das untergerichtliche Urteil und erlegte der
Tochter des Beklagten, Eva Höffgen, die Zahlung eines Schmerzensgeldes an die
Hinterbliebenen des Getöteten auf. Da dieses Verdikt jedoch eine große Ehrver-
letzung für Eva Höffgen und ihre Kinder darstellte, appellierte sie schließlich in
dritter Instanz an das RKG in Speyer (1620-1624).
Quellenwert der Reichskammergerichtsakten und Forschungsperspek-
tiven
Zunächst ist es für jeden Historiker wichtig, sich über die bewusste und zielgerichtete
Produziertheit eines (frühneuzeitlichen) Aktenstücks und dem damit einhergehenden
Abstraktions- und Fiktionalitätsgehalt
9
der Quelle bewusst zu werden. Im Vorder-
5
Regest d. Appellation: Antweiler, Wolfgang/Kasten, Brigitte/Hoffman, Paul: Reichskammergericht Teil
IV, Siegburg 1990 (Das Hauptstaatsarchiv Düsseldorf und seine Bestände, 9), S. 354 f.
6
„Daruff sich zuegetragen […] daß Hoffgen in solcher Eussersten Lebenßgefahr […] ein kleines
Brodtmesserlin […] ußgezogen, damit nothzwanglich sich zur Gegenwehr gestellt habe.“ RKG H
1460/4662, fol. 27
v
.
7
„welcher allß nach ettlichen Stunden wohl beschenckt ahnkommen.“ RKG H 1460/4662, fol. 28
r
.
8
„cum omnibus Defensio a natura insita sit.“ RKG H 1460/4662, fol. 27
v
.
9
Zur Fiktionalität sowie d. literarischen Qualität v. Prozessakten u. deren quellenkundlichen Nutzen vgl.:
Zemon Davis, Natalie: Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler, Frankfurt am Main
1991 und: dies.: Fiction in the Archives. Pardon Tales and Their Tellers in Sixteenth-Century France, Stan-
ford 1990. Weiterführend zu dieser Thematik empfiehlt sich das Standardwerk v. Luckmann u. Berger:
Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie