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grund der Arbeit sollte somit nicht die Wahrheitsermittlung bzw. die Extraktion des
Faktums als dem tatsächlich Geschehenen, sondern vielmehr die Erweiterung und
Schärfung des Blicks für die meist unintentionalen Informationen „zwischen den Zei-
len“
10
stehen. Doch auch wenn es zunächst einiger Einarbeitung in die Tätigkeiten
von Prokuratoren und Advokaten sowie deren Rechtswissen und -praxis, aber auch
das Einfühlen und Hineindenken in die frühneuzeitliche Vorstellungs- und Lebens-
welt bedarf, bietet gerade das Gegen-den-Strich-Lesen archivalischer Quellen viel-
fältige Möglichkeiten, vor allem soziale und alltagsgeschichtliche Wissensbestände
aus den Texten herauszulösen.
Als besonders ergiebig erweisen sich dabei vor allem Zeugenverhöre, da sie, wenn
auch nicht immer in wortgetreuer Form, einen Einblick in die Lebens- bzw. All-
tagswelt frühneuzeitlicher Bürger ermöglichen.
11
Der Tötungsfall von Monheim gibt
in erster Linie Aufschluss darüber, wie und warum Streitigkeiten im Alten Reich ent-
standen
12
und welche Alltagsthemen diese bedingten. Wegen der Ressourcenknapp-
der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main
3
1972.
10
Für eine ausführlichere Darstellung über diese „alternative“ Quellenlesart s.: Mohrmann, Ruth:
Zwischen den Zeilen und gegen den Strich – Alltagskultur im Spiegel archivalischer Quellen. In: Der
Archivar. Jg. 44/Bd. 2 (1991), S. 233-245.
11
Detailliertere Erläuterungen zu Zeugenverhören enthalten u. a. die Forschungen Ralf-Peter Fuchs', zum
Einstieg s. beispielsweise: Fuchs, Ralf-Peter: Protokolle kaiserlich-kommissarischer Zeugenverhöre in
Reichskammergerichtsakten. In: zeitenblicke. 3/Bd. 3 (2004), URL: http://www.zeitenblicke.De/2004/03/
fuchs2/ (abgerufen am 02.07.2015); oder: ders.: Soziales Wissen nach Reichskammergerichts-Zeugen-
verhören, in: zeitenblicke. 1/Bd. 2 (2001), URL: http://www.zeitenblicke.de/2002/02/fuchs/ (abgerufen am
02.07.2015).
12
Z. B. Wer das Recht hat, das Holz eines nahegelegenen Waldstücks zu schlagen und zu verkaufen: „Er
soll woll meinen weill er das schlagh Beillen hat, daß Bleÿ und Bleiher Busch sein were, […] ich meine
Abb. 2: Auszug aus der Akte RKG H 1460/4662, Bd. 2, fol. 168r.
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heit des HRR sind es primär auf Besitz bzw. Materialität und somit
auf die men-
schliche Existenz rekurrierende Konflikte, die vor allem das Zusammenleben der nie-
deren Bevölkerungsschichten beeinflussten. Insbesondere der damit gekoppelte Ge-
waltaspekt eignet sich dazu, eine Kriminalitätsgeschichte der Frühen Neuzeit weiter
aufzuarbeiten. Neben den Streitigkeiten sind ritualisierte Konfliktlösungsstrategien
für kommunikationsgeschichtliche Fragestellungen von großer Bedeutung. Zusätz-
lich enthalten die RKG-Prozessakten Informationen über Berufe; Verwandtschafts-
beziehungen und Erbauseinandersetzungen; Nahrungs- und Genussmittel; Religion;
Alters-, Zeit- und Raumvorstellungen; den Einflussbereich von Obrigkeit und Reich
auf das Volk; das Leben in Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft; Alltag und Tradi-
tionen, sowie das Wissen aus und von der Natur. Für Linguisten und Onomastiker
finden sich zudem Informationen über Sprachwandel, Lexik und Namensgebung in
der Frühen Neuzeit, sowie die spezielle Sprache der Rechtsvertreter und Zeugen vor
Gericht.
13
Über den Fall Höffgen ./. Sturm hinausgehend sind es u. a. die Aktenbei-
gaben (z. B. Inventare, Steuer- und Untertanenverzeichnisse etc.), die weitere Er-
kenntnisse für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Alten Reichs liefern.
14
Auch
die Einfügung etwaiger Bitt- und Purgationsschriften kann vor allem für die Suppli-
kationsforschung bedeutsam sein. Bei der Betrachtung von Hexenprozessen vor dem
Reichskammergericht lässt sich schließlich die Positionierung des Hochgerichts zu
diesem Ausnahmeverbrechen rekonstruieren.
15
Ebenso lassen sich die Verfahrens-
praxis, die möglichen prozessualen (Miss-)Erfolge
des RKGs, seine allgemeine Be-
deutung und Stellung als Institution, sowie ein mögliches Konkurrenzverhalten ge-
genüber des Reichshofrats aus den Akten extrahieren.
Die besondere thematische Vielfalt ist es also, welche die Reichskammergerichts-
akten zu einem wertvollen historischen Sammelsurium verschiedenster Forschungs-
fragen und -perspektiven werden lässt. Mit Recht können sie daher als archivalische
„Schätze auf Papier“ bezeichnet werden.
woll Nein, dhann ich habe auch noch ein theill auf Bleÿ.“ RKG H 1460/4662, fol. 167
v
f. [Zeugenverhör
Cordt Holtzhewer].
13
Mit diesem Thema beschäftigt sich ausführlich Matthias Bähr: Bähr, Matthias: Die Sprache der Zeugen.
Argumentationsstrategien bäuerlicher Gemeinden vor dem Reichskammergericht (1693-1806), Konstanz
und München 2012 (Konflikte und Kultur 26).
14
Forschungen zu d. Aktenbeigaben d. RKG sind u. a. in: Fuchs, Ralf-Peter/Schulze, Winfried (Hg.):
Wahrheit, Wissen, Erinnerung. Zeugenverhörprotokolle für soziale Wissensbestände in der Frühen
Neuzeit, Münster 2002 (Wirklichkeit und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit 1), enthalten.
15
Überlegungen zur Stellung d. RKG gegenüber Hexenprozessen s.: Sellert, Wolfgang/Oestmann, Peter:
Hexen- und Strafprozesse am Reichskammergericht. In: Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht
von 1495-1806, Mainz 1994, S. 328-335.