30
und sich darüber hinaus gegenüber den Neusser Bürgern
zu verpflichten in Zukunft
keine neuen Fortifikationen innerhalb der Stadt anlegen zu wollen, als Verweis auf
ein zeitgenössisches Bewusstsein für die Befestigungsanlagen als Machtspeicher zu
interpretieren.
30
Immerhin verbirgt sich dahinter der bewusste Verzicht auf eine
Infrastruktur, die ggf. als militärisches Moment für die Machtausübung über sein
Territorium insgesamt und über die Stadtherrschaft relevant sein konnte. Aus welcher
Motivation heraus der Erzbischof die Entscheidung getroffen hat, bleibt fraglich.
31
Es
ist aber denkbar, dass der Erzbischof den ihm weitestgehend treu ergebenen Neussern
auf diesem Wege seine Dankbarkeit symbolisch auszudrücken beabsichtigte. Die
Liste von Beispielen, welche die städtischen Befestigungsanlagen des Mittelalters in
ihrer Funktion als Machtspeicher bestätigen, ließe sich beliebig erweitern.
Abschließend sei darauf hingewiesen, und dies gilt sowohl für die mittelalterliche
Stadtmauer als konkreten Forschungsgegenstand als auch für die Erforschung von In-
frastrukturen allgemein, dass die ISG einen interdisziplinären Forschungsansatz dar-
stellen sollte. Der Ansatz, verschiedene wissenschaftliche Fächer und Teildisziplinen
der Geschichtswissenschaft unter dem Dach der ISG zusammenzuführen, scheint
besonders vielversprechend. Rainer Christoph Schwinges hat sich im Vorwort des
von ihm veröffentlichen Sammelbandes für den Dialog zwischen Straßen- und Ver-
kehrsgeschichte mit der „Historischen Kultur- und Wirtschaftsgeographie, der Tech-
nikgeschichte, der Landes-, Regional- und Stadtgeschichte, aber auch der Wirt-
schafts- und Umweltgeschichte, wie überhaupt mit Ökonomie-, Finanz-, Sozial- und
Rechtswissenschaften“
32
, sowie der Sozial-, Kultur- und Ideengeschichte ausge-
sprochen. Dieser Dialog sollte genauso auch von der ISG forciert werden.
Die ISG könnte meines Erachtens auch dezidiert der mittelalterlichen Geschichtswis-
senschaft neue Impulse geben. Immerhin erfasst die ISG Infrastrukturen nicht nur
von einer ereignisgeschichtlichen Perspektive aus und begnügt sich nicht damit,
Funktionalitäten isoliert zu betrachten. Vielmehr stellen infrastruktur-geschichtliche
Forschungsvorhaben eine Möglichkeit dar, Infrastrukturen als raumordnendes und
raumprägendes Moment in den Fokus zu nehmen, die es stets in einem Inter-
dependenzverhältnis zur jeweiligen Gesellschaft und den jeweiligen Zeitumstände zu
30
Kauder, Martin: Die rheinische Stadt: Lebensraum im Wandel der Jahrhunderte (Veröffentlichungen der
Staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen. Reihe G: Lehr- und Arbeitsmaterialien, Bd. 1). S.
57-59.
31
Ebd.: S. 57.
32
Schwinges, Rainer Christoph: Strassen- und Verkehrswesen im hohen und späten Mittelalter – eine
Einführung. In: ders. (Hg.): Strassen- und Verkehrswesen im hohen und späten Mittelalter. S. 17.
31
verstehen gilt. Vor diesem Hintergrund erscheint
der Ansatz plausibel, Infrastruk-
turen nicht nur als Macht- sondern auch als Kulturspeicher zu untersuchen.
33
Die
Analyse von zeitgenössischen Rezeptionszeugnissen stellt hierbei einen ent-
scheidenden Zugang dar. Im Hinblick auf das Mittelalter kann die Auseinander-
setzung mit Rezeptionszeugnissen, etwa in Form von Bildmedien, Reliefs, Skulp-
turen und (Mikro-)Architektur, einen Eindruck vom soziokulturellen Stellenwert von
Infrastrukturen gewähren. So ist beispielsweise die Stadtmauer in den Bildmedien
des Mittelalters äußerst facettenreich rezipiert worden. Sie erscheint als zeitloser
Symbolspender, tritt etwa auf den Stadtsiegeln als Indikator einer politisch orga-
nisierten und autonomen Bürgerschaft in Erscheinung.
34
In vielen Fällen, so auch in
Bezug auf das Beispiel Köln, hängt dies in nicht unerheblichem Maße damit zu-
sammen, dass die Stadtmauer im Laufe des Mittelalters zu einem Fixpunkt der Auto-
nomiebestrebungen der Kommune, die auf ein politisches Mitsprache- und Selbst-
verwirklichungsrecht hinzuarbeiten versuchte, avanciert ist.
Anhand der medialen Rezeptionsgeschichte der Stadtmauer lässt sich der kulturelle
Wandel der mittelalterlichen Gesellschaft dokumentieren. Die Abbildung von Städ-
ten erfolgte auf Karten oder in Buchilluminationen des frühen und hohen Mittelalters
in der Regel durch die Darstellung von Stadtmauern in rechteckiger, runder oder
ovaler Form.
35
Die Stadtmauer hatte sich, sämtliche bereits aufgezeigten
soziokulturellen Symboliken eingeschlossen, zum visuellen Stellvertreter der Stadt
schlechthin entwickelt. Kontinuierlich vollzog sich in dieser Hinsicht jedoch ein
Wandel, der letztlich mit Beginn der Frühen Neuzeit eine Neuakzentuierung der
symbolischen Beanspruchung der Stadtbefestigung zum Ergebnis hatte. Die
Stadtansichten eines Matthäus Merian, Georg Braun und Frans Hogenberg aus dem
16. und 17. Jahrhundert inszenieren die Stadtmauer als zentralen Indikator einer
wohlgeordneten und gut regierten Stadt.
36
Die städtische Befestigung ist dabei nach
33
Zum Konzept des Kulturspeichers siehe: Schröder, Lina: S. 12 und Engels, Jens Ivo/Schenk, Gerrit
Jasper: S. 50-56.
34
Bandmann, Günter: Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger. Berlin 1994, 10. Aufl., S. 97;
Stieldorf, Andrea: Zur Funktion von Stadtbefestigungen auf Siegeln und Münzen. In: Olaf Wagener (Hg.):
„Vmbringt mit starcken turnen, murn“. Ortsbefestigungen im Mittelalter, Frankfurt am Main 2010, S. 80f.
35
Stieldorf, Andrea: S. 79; Braunfels, Wolfgang: Mittelalterliche Stadtbaukunst in der Toskana. Berlin
2012, 7. Aufl., S. 48; Johanek, Peter: Bild und Wahrnehmung der Stadt. Annäherung an ein Forschungs-
problem, in: ders. (Hg.): Bild und Wahrnehmung der Stadt (Städteforschung Reihe A, Darstellungen 63).
Wien 2012, S. 11; Schneider, Ute: Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom
Mittelalter bis heute, Darmstadt 2004, S. 26-32.
36
Jaritz, Gerhard: Zum Image der spätmittelalterlichen Stadt. Zur Konstruktion und Vermittlung ihres
äußeren Erscheinungsbildes, in: Bräuer, Helmut/Schlenkrich Elke (Hg.): Die Stadt als Kommunikations-