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tionalen und rationalen
Regungen der Individuen, die konstant „freundlich“ oder
„feindlich“ ineinander greifen. Gerade diese Verflechtung, die auf ganz unter-
schiedliche Weise zum Ausdruck kommen kann – Pläne, Handlungen etc. –, kann
demnach verschiedene Gestaltungen herbeiführen, die eben die oben genannte benö-
tigte Ordnung verkörpern. Aber der allgemeine Hinweis auf die Eigengesetzlichkeit
der Verflechtungserscheinungen fördert das Verständnis solcher Erscheinungen
wenig. Der Hinweis bleibt leer und missverständlich, wenn nicht zugleich unmittel-
bar an bestimmten, geschichtlichen Wandlungen selbst die konkreten Mechanismen
der Verflechtung und damit das Wirken dieser Gesetzmäßigkeiten aufgezeigt werden.
Aber welche spezifische Veränderung des menschlichen Zusammenlebens model-
lierte das Konstrukt einer frühneuzeitlichen Gesellschaft nun gerade in Richtung ei-
ner Zivilisation? Nach Elias musste, bedingt durch zunehmenden Konkurrenzdruck,
das Verhalten der Menschen immer mehr aufeinander abgestimmt werden. Daraus
resultiert, dass die Handlungen immer genauer und straffer durchorganisiert sein
mussten, damit jede einzelne Handlung ihre gesellschaftliche Funktion erfüllen kon-
nte. Das Individuum musste demzufolge lernen, sein Verhalten „differenzierter, im-
mer gleichmäßiger und stabiler zu regulieren.“
10
D. h., dass der Mensch von klein auf
mit der Regelung des eigenen Verhaltens konfrontiert wird und somit einen „Selbst-
zwang“ automatisch entwickelte, dessen er sich zugleich nicht erwehren konnte.
Gleichzeitig sei die Anspannung jedes Einzelnen gewachsen, sich richtig zu verhal-
ten, sodass sich neben der bewussten Selbstkontrolle eine arbeitende Selbstkontroll-
apparatur verfestigt habe. Diese „Selbstkontrollapparatur“ habe das Individuum dazu
gebracht, sich stets an die Normen und Werte der Gesellschaft zu halten.
Peter Burke kommt in diesem Zusammenhang zu der Einschätzung, dass der Begriff
Zivilisation „möglicherweise unglücklich gewählt [ist], da das Wort gewöhnlich mit
einer weniger präzisen Bedeutung als bei Elias verwendet wird.“
11
Nach Burke hätte
Elias eher von „Disziplinierung“ sprechen sollen: einem zentralen Begriff in der Leh-
re Michel Foucaults. Dabei sind verschiedene Aspekte gegenüberzustellen: Elias be-
tonte die Selbstbeherrschung, Foucault die Kontrolle durch den Staat. Die Idee der
gesellschaftlichen oder kulturellen Evolution wurde von Elias akzeptiert, während
Foucault sie ablehnte. Letzterer sprach sich zudem unverhohlen gegen den Aufstieg
10
Ebd. S. 327.
11
Burke, Peter: Zivilisation, Disziplin, Unordnung. Fallstudien zu Geschichte und Gesellschaftstheorie.
In: Nada Boskovska Leimgruber (Hg.): Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungs-
tendenzen und Forschungserträge, Paderborn u. a. 1997, S. 59.
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der „Disziplinargesellschaft mit ihrem Disziplinarapparat“ aus, wohingegen Elias den
Aufstieg der modernen „Zivilisation“ zumindest implizit billigte. Foucaults Gedanke
wurde von Gerhard Oestreich aufgegriffen und erweitert. So entstand die Theorie der
Sozialdisziplinierung. „Sozialdisziplinierung“ soll demnach eine geistig-moralische
und psychologische Strukturveränderung des politischen, militärischen und wirt-
schaftlichen Menschen mit sich gebracht haben. Vor allem Karl Härter hat in diesem
Zusammenhang die Bedeutung des Rechtssystems in der Frühen Neuzeit hervorge-
hoben. Demzufolge habe das staatliche Strafen „normkonformes Verhalten sichern
und abweichendes Verhalten verhindern [sollen], das in entsprechenden staatlichen
Normen definiert und mit Sanktionen bedroht wird.“
12
Härter behauptet, dass die
Strafe folglich als Mittel staatlicher Sozialkontrolle und sozialer Disziplinierung ein-
gesetzt wurde.
13
Er plädiert aber nicht wie Oestreich für ein lineares Wirkungsmo-
dell. Für Härter sollte Sozialdisziplinierung eher als ein Phänomen mit der Intention,
das Verhalten der Menschen zu kanalisieren, und nicht als Faktum betrachtet werden.
Auch nach Elias stellt die Kanalisierung der Gewalt einen wesentlichen Schritt im Zi-
vilisationsprozess dar. Sie spiegelt sich sowohl in der institutionellen Ausbildung ei-
nes Rechtssystems, d. h. von Gerichtsinstanzen, als auch in der Kanonisierung von
Verhaltensweisen und Sanktionen in Form von Gesetzen bzw. Gesetzkodizes wider.
Indem sich die Bevölkerung, so Elias, an die Präsenz einer Zentralgewalt gewöhnt
habe, die über ihr Verhalten wachte, hätten diese Institutionen Sicherheit vermittelt
und durch ihre Existenz und Verfügbarkeit zur Selbstkontrolle erzogen.
14
Die Kana-
lisierung der Gewalt lässt sich auch über den Fall Höffgen ./. Sturm nachvollziehen,
indem dieser eine Öffnung von Rechtswegen, wie auch eine Rechtsprofessionali-
sierung dokumentiert. Für beide Aspekte spielte die Etablierung des Reichskammer-
gerichts als eine von zwei Höchstgerichtsbarkeiten im Alten Reich eine wichtige Rol-
le. Für Helmut Gabel hat seine Existenz und die Anerkennung seiner Autorität als
„gesamtgesellschaftlich“ und „überterritorial wirksame[n] Justiz“
15
die Grundlage für
den zivilisatorischen Wandel von der gewaltsamen zur rechtlichen Konfliktlösung im
Alten Reich gebildet. Die kameralistische Rechtsprechung erfolgte nach dem ius
commune, einer Mischung aus kanonischem Recht, dem zuerst in Oberitalien wieder
12
Härter, Karl: Soziale Disziplinierung durch Strafe? Intentionen frühneuzeitlicher Policeyordnungen und
staatliche Sanktionspraxis. In: Zeitschrift für historische Forschung. (1999), 26, S. 365.
13
Ebd. S. 365.
14
Vgl. Elias, Norbert: S. 336.
15
Vgl. Gabel, Helmut: „Daß ihr künftig von aller Widersetzlichkeit, Aufruhr und Zusammenrottierung
gänzlich abstehet.“ Deutsche Untertanen und das Reichskammergericht, in: Scheurmann, Ingrid (Hg.):
Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, Mainz 1994, S. 280.