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Uthoff, Hans Rudolf: Als der Pott wieder Kochte. Wirtschaftswunder im Ruhrgebiet
1950-1969, Essen 2015, 128 S., 19,95 €, ISBN 978-3-8375-1243-4.
Rauchende Schlote durchdringen eine
gigantische Konstruktion
aus Stahl und
Stein, die sich in die Landschaft
verbissen zu haben scheint. Es ist eine
Fotografie aus dem Jahr 1958. Sie
zeigt das Stahlwerk des
Montankonzerns Bochumer Verein.
Derartig imposante Bauwerke sind
gewissermaßen Symbole des Wirt-
schaftswunders per se geworden. An-
dere Motive reihen sich in diese Bild-
tradition ein. In Schutzkleidung verpackte Arbeiter dirigieren gigantische Behälter
mit kochendem Stahl. Ein kolossaler Dampfhammer formt einen 100-Tonnen-Block
weichen Stahls. Alles ist in einer vor Staub und Schmutz nur so strotzenden
Industriekathedrale verortet. Funken sprühen. Rauch und Dampf steigen auf. Die
Fotografien scheinen dem Betrachter auch heute noch einen Eindruck von der
unerträglichen Hitze vermitteln zu können.
All dies sind typische Szenen, die man unweigerlich mit dem Ruhrgebiet als
Montanregion in Verbindung bringt. Eingefangen hat sie der Fotograf Hans Rudolf
Uthoff in den Jahren 1950 bis 1969. Uthoff, geboren 1927 in Hannover, war in jener
Zeit im Ruhrgebiet als Fotograf in der Stahlindustrie und im Bergbau tätig.
Besonders prägend war seine gut zehn Jahre währende Anstellung als Pressefotograf
des Eisenwerks Bochumer Verein ab 1957. Uthoff oblag dabei die Aufgabe, die
Arbeit im Betrieb zu dokumentieren. Ihm selbst war jedoch vor allem auch daran
gelegen, das Wirtschaftswunder aus der Mikroperspektive zu beleuchten und die
Menschen in den Fokus zu rücken. Der vorliegende Bildband umfasst lediglich
einige wenige der bekannten Ruhrgebiets-Motive. Das Gros der Fotografien zeigt
hingegen das Leben im Ruhrgebiet nach dem Feierabend, abseits der Schächte und
Hochöfen. Hier offenbart sich Uthoffs wahre Identität als Chronist des
Wirtschaftswunders im Ruhrgebiet, wie ihn Peter Liedtke im Vorwort des
Bildbandes treffend beschreibt. Uthoffs Fotografien dokumentieren gesellschaftliche
Ereignisse, wie die Cranger-Kirmes, den Besuch von musealen Ausstellungen, das
Deutsche Sängerfest oder die Haushaltsmesse in Essen. Sie illustrieren aber auch den
Freizeit-Alltag im Schrebergarten und Schwimmbad. Uthoff hat in seinen
Fotografien dem gesellschaftlichen Wandel einer ganzen Region Rechnung getragen.
Er hat Szenen des Konsums, ebenso wie Auszubildende im Unterricht an einer
Berufsschule für Metallgewerbe und die neu entstehenden Wohnmöglichkeiten in
den für die Zeit revolutionären Plattenbauanlagen fotografisch festgehalten.
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Uthoff ist es gelungen, den Wandel bildgewaltig zu fixieren. Seine Fotografien
offenbaren technisches Knowhow und künstlerische Fertigkeit mit dem Gespür für
den entscheidenden Moment. Er agierte dabei aus der Perspektive eines
Fotojournalisten. Meistenteils wird der Betrachter so zum stillen Beobachter der
Szenerie. Ein Foto zeigt etwa den Blick heraus aus einem Wohnzimmer auf die
Sternwarte in Bochum. An der Peripherie des Bildes schläft ein kleiner Junge auf
einem Sofa. Ein anderes Foto zeigt einen Tanzabend in Essen. Im Bildvordergrund
ist ein Mann, seinen Kopf auf einen Tisch gebettet und von Trinkkrügen umringt,
eingeschlafen. Uthoff ist es gelungen, nicht als Fremdkörper zu fotografieren. Seinen
Bildern ist ein hohes Maß an Natürlichkeit, Nähe und Leichtigkeit eingegeben. Dem
Betrachter wird insofern das Gefühl vermittelt, den Zeitgeist durch die Fotografien
ein Stück weit ungefiltert vermittelt zu bekommen. Häufig setzt Uthoff Architektur
als kompositorisches Element ein, um die Stimmung eines Bildes zu unterstreichen.
Er arbeitet dann mit der Tiefe des Raumes, operiert mit dem Goldenen Schnitt und
nutzt die Linienführung der Architektur.
Der Bildband ist keinem erzählerischen Programm im engeren Sinne unterworfen.
Die Fotografien sind weder thematisch noch chronologisch arrangiert. Gerade das
macht aber die Lektüre umso reizvoller. Die editorische Qualität des Bildbandes
offenbart sich vor allem in der Schaffung assoziativer Momente. Ein Foto von der
Rheinbrücke mit Spaziergänger in Duisburg ist neben einem Foto arrangiert, das
einen Wald aus Hochspannungsleitungen in Bochum zeigt. Beide Fotografien
thematisieren damit den reziprok mit dem wirtschaftlichen Aufschwung
einhergehenden Ausbau der Infrastruktur im Ruhrgebiet. Mehrfach ist es gelungen,
auf Doppelseiten durch das Spiel mit bildlichen Kontrasten eine immanente
Spannung zu erzeugen. Ist linkerhand auf einer Doppelseite etwa ein Foto von einem
Arbeiter zu sehen, der in der Gießhalle des Bochumer Vereins mit flüssigem Stahl
hantiert, so ist rechterhand das bereits erwähnte Foto von einem Wohnzimmer mit
dem schlafenden Jungen abgedruckt. Bisweilen werden auf derartige Weise auch
Fotos gegenüber gestellt, die kompositorische Ähnlichkeit aufweisen und sich gerade
deshalb im Wechselspiel zur Kontrastfolie entwickeln. Ein Beispiel ist in dieser
Hinsicht etwa die Gegenüberstellung einer Fotografie eines kleinen Mädchens beim
Spiel mit einer Streichholzschachtel und eines Hochofenarbeiters, der im Begriff ist,
eine Zigarette zu entzünden. Der Bildband forciert das Spiel mit Erwartungen, die auf
überraschende und unterhaltsame Weise durchkreuzt werden. Dabei werden nicht nur
die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit von Hans Rudolf Uthoffs Arbeit aufgezeigt,
sondern gleichsam ein allzu starres visuelles Konzept vom Wirtschaftswunder im
Ruhrgebiet aufgeweicht. Der im Klartext-Verlag erschienene Bildband stellt einen
Längsschnitt durch das Ruhrgebiet der fünfziger und sechziger Jahre dar und
veranschaulicht die Wechselwirkungen von wirtschaftlichem Aufschwung und
gesellschaftlicher Entwicklung einer Region.
Dominik Greifenberg, Duisburg-Essen