4. Bestattungen der Vjatiˇcen
Als Kennzeichen eines massenhaften Eindringens der Slaven in weiter nördlich gelegene
- bis dahin baltisch besiedelte - Gebiete dient die Verbreitung der Bestattungen unter
Kurganen. Im Gebiet der Vjatiˇcen wurden einige Tausend Kurgane ausgegraben (S
EDOV
1982: 143). Dabei datieren die Kurgane mit Leichenverbrennung, deren Verbreitung
sich innerhalb des vjatitischen Gebietes auf seinen südwestlichen Teil - vor allem auf
den Oberlauf der Oka - beschränkt, allgemein in das 8.-10. Jh.; sie können aber auch
noch im 11.-12. Jh. vorkommen, dann gemeinsam mit dem Brauch der Körperbestattung
(Ebd.: 146), mitunter in derselben Kurgangruppe, in einigen seltenen Fällen sogar im
selben Kurgan (I
ZJUMOVA
1970: 196 ff.). Äußerlich unterscheiden sich die runden
Kurgane mit Brandgräbern durch nichts von den Kurganen mit Körperbestattungen
(N
IKOL
’
SKAJA
1981: 100).
Auch in den weiten Gebieten der Flußbecken von Oka und Moskva mit ihren unzähli-
gen Zuflüssen sind Hunderte dieser niedrigen Kurgane mit Körperbestattungen zer-
streut, die von der ländlichen Bevölkerung des 11.-13. Jh. hinterlassen wurden. Nicht
zuletzt durch die Erforschung dieser Dorffriedhöfe konnten die Grenzen des Territori-
ums des ostslavischen Stammes der Vjatiˇcen bestimmt werden (N
IKOL
’
SKAJA
1981: 97).
Dabei handelt es sich um die gewöhnlichen altrussischen Aufschüttungen mit einer
Höhe von etwa 1-2,5 m (S
EDOV
1982: 148), aber auch bis zu 3,4 m (R
OZENFEL
’
DT
1973:
192); manche sind (heute ?) auch nur etwa 30 cm hoch. Ihr Durchmesser schwankt zwi-
schen 4 und 15 m (R
OZENFEL
’
DT
1967: 106; I
ZJUMOVA
1970: 191). Die einzelnen Grä-
berfelder bestehen zumeist aus einigen -zig, manchmal auch aus mehr als hundert Auf-
schüttungen (S
EDOV
1982: 148). Aus der damaligen ländlichen Umgebung des alten
Moskau, heute teilweise innerhalb des Stadtgebietes gelegen, ist ebenfalls eine große
Anzahl derartiger Kurganfriedhöfe bekannt. Einer der größten davon (Odincovo) um-
faßte z.B. 234 Kurgane, die sich in acht, jeweils etwa 200 - 400 m voneinander entfernte,
Gruppen aufteilten (V
EKSLER
1970: 122).
Gewöhnlich sind die Kurganfriedhöfe des 11.-13. Jh. im Lande der Vjatiˇcen nicht so
groß; in einer Kurgangruppe werden 5-30/40 Aufschüttungen, häufiger nur bis zu 20,
gezählt, was auch von den kleinen Ausmaßen der Siedlungen zeugt. Manchmal fließen
auch mehrere kleine Friedhöfe zu einem großen zusammen (N
IKOL
’
SKAJA
1981: 100).
Die Friedhöfe sind auf Erhebungen, häufiger an den Ufern der Flüsse, stets in unmittel-
barer Nähe zur Siedlung gelegen, nicht mehr als 200-300 m entfernt und immer auf der-
selben Seite des Flusses (R
OZENFEL
’
DT
1973: 199). In den Gräberfeldern gruppieren sich
die Kurganaufschüttungen ohne eine besondere Ordnung, aber manchmal sind sie in
parallelen Reihen, schachbrettförmig oder in einem Halbkreis angeordnet. Eine charak-
teristische Besonderheit einiger vjatitischer Kurgangräberfelder ist das Vorhandensein
einzelner größerer Kurgane (3,5-6 m hoch), gelegen am Rand einer Gruppe (N
IKOL
’
SKAJA
1981: 102).
Wie schon erwähnt, war bei den Vjatiˇcen während des 8.-10. Jh., vereinzelt auch noch
bis ins 12. Jh., die Brandbestattung üblich. Dabei wurden die verbrannten Knochen der
Verstorbenen entweder in der bloßen Erde oder in Urnen, immer aber schon unter auf-
geschütteten Hügeln, beigesetzt. Beigaben fanden sich in diesen Bestattungen selten
(S
EDOV
1982: 147).
H
EINRICH
: Ostslavische Grabfunde in der Prähistorischen Abteilung des Naturhistorischen Museums
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©Naturhistorisches Museum Wien, download unter www.biologiezentrum.at
Die Entwicklung des Bestattungsritus in den Körpergräbern ging bei den Vjatiˇcen die
gleiche Richtung wie auch bei der Mehrzahl der anderen ostslavischen Stämme: die
frühesten waren Körperbestattungen direkt auf der Erdoberfläche, über die ein Hügel
aufgeschüttet wurde; Bestattungen in unterschiedlich tiefen Gruben unter Kurganen ver-
breiteten sich in einer späteren Periode. So enthielten 90% der Kurgane mit Beigaben
des 12. Jh. Körperbestattungen direkt auf der Erdoberfläche. Im 13. Jh. erreichen die
Körperbestattungen in Gruben bereits 25%, und im 14. Jh. bereits 55% (Ebd.: 151). Die
Tiefe der Grabgruben ist anfangs nicht sehr groß (0,1-0,3 m), später erreicht sie 1-1,5 m
(N
IKOL
’
SKAJA
1981: 104). Gewöhnlich haben die Kurgane der früheren Zeit eine höhe-
re Aufschüttung als die späteren, wenn die Bestattungen in Grabgruben, d.h. unter der
Erdoberfläche durchgeführt wurden (Ebd.: 102).
In der Regel enthält jeder Kurgan eine Bestattung. Paarweise oder Mehrfachbestattun-
gen sind relativ selten; in ihnen liegen die Verstorbenen entweder auf demselben oder
auf verschiedenen Niveaus, parallel zueinander oder in einer Linie hintereinander
(E
NUKOV
1987: 190 f.). Die Verstorbenen wurden in ausgehöhlten Baumstämmen, mit-
unter auch in Brettersärgen bestattet, manchmal in Birkenrinde gewickelt oder damit
bedeckt, auch kamen Bestattungen in hölzernen Kammern vor. Im Unterschied zu den
Kurganen anderer ostslavischer Regionen sind die Bestattungen der Vjatiˇcen reich an
Beigaben (S
EDOV
1982: 148 f.).Vor allem die weiblichen
Bestattungen sind bei den
Vjatiˇcen reicher ausgestattet als bei den Novgoroder Slovenen und den benachbarten
Kriviˇcen, Radimiˇcen und Severjanen (R
AVDINA
1968: 117). In den männlichen Bestat-
tungen finden sich jedoch nur wenige Objekte, häufig nur ein eisernes Messer. Ausge-
sprochen selten sind in den vjatitischen Kurganen Werkzeuge und Waffen.
Die Verstorbenen wurden nach dem allgemein slavischen Ritual beigesetzt: ausgestreckt
auf dem Rücken liegend, mit dem Kopf nach Westen (mit saisonalen Schwankungen).
Während bei den auf der Erdoberfläche Bestatteten die Arme entlang des Körpers aus-
gestreckt sind, so häufen sich bei den zumeist späteren Bestattungen in eingetieften
Grabgruben die auf die Brust gelegten Arme. Dieser Brauch kam nach Rußland gemein-
sam mit der Verbreitung des Christentums. Die ostslavischen Bestattungen in Grabgru-
ben sind in der Regel auch ärmer an Beigaben (N
IKOL
’
SKAJA
1981: 104). Vereinzelt wur-
de auch eine östliche Orientierung beobachtet. Diese war in den vjatitischen Kurganen
ein Überbleibsel des baltischen Bestattungsrituals. Genauso selten ist bei den Vjatiˇcen
die nord-südliche Orientierung, die von den finnischen Stämmen zu den Vjatiˇcen kam
(S
EDOV
1982: 148).
5. Geschichtlicher Überblick
Bis zum frühen Mittelalter bildeten die Slaven - ein Zweig der indoeuropäischen Sprach-
familie - eine einheitliche Völkerschaft mit gemeinsamer Sprache und einheitlicher
materieller und geistiger Kultur. Ab dem 6. Jh. begann der schrittweise Zerfall der ur-
slavischen Einheit. Der Geschichtsschreiber Jordanis erwähnt bereits Mitte des 6. Jh. in
seiner „Gotengeschichte“ (V, 34 f.) eine Dreigliederung des frühen Slaventums in Veneter,
Sklavinen und Anten - die Vorläufer der späteren West-, Süd- und Ostslaven (D
ONNERT
1988: 278). Durch die räumliche Differenzierung kam es im weiteren Verlauf auch zur
Auflösung der sprachlichen Einheit, und es begann sich eine eigene ostslavische Spra-
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Annalen des Naturhistorischen Museums in Wien 101 A
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