Biographien und biographische Skizzen



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sollen. Dieser Angabe entspricht die folgende Anordnung: i. Vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. 2. Welt als Wille und Vorstellung. 3. Wille in der Natur. 4. Grundprobleme der Ethik. 5. Parerga und Paralipomena. An diese Schriften schließt sich dann die Schrift über «Sehn und Farben», von der Schopenhauer an der gleichen Stelle sagt, sie «geht für sich». Das Nächste ist die erwähnte lateinische Übersetzung dieser Schrift, dann kommt das aus dem Nachlaß Veröffentlichte. Den Schluß der Ausgabe bilden die vier von Schopenhauer selbst verfaßten kurzen Beschreibungen seines Lebens: 1. Die seiner Bewerbung um die Doktorwürde beigelegte. 2. Das Curriculum vitae, das er zum Zweck der Habilitation nach Berlin sandte. 3. Der Lebensabriß, den er April 18 51 Eduard Erdmann zur Benützung in dessen Geschichte der Philosophie, 4. der, den er im Mai des gleichen Jahres für das Meyersche Konversationslexikon lieferte.

Eine Lebensbeschreibung des Philosophen hat Gwinner 1862 geliefert: «Arthur Schopenhauer aus persönlichem Umgange» dargestellt, die 1878 unter dem Titel «Schopenhauers Leben» in zweiter, umgearbeiteter und vielfach vermehrter Auflage erschienen ist. Diese Biographie ist durch die Fülle der mitgeteilten Materialien und durch die, trotz der hervortretenden Differenz in den Anschauungen Gwin-ners und Schopenhauers, anschauliche Schilderung der Persönlichkeit Schopenhauers ein unschätzbares Denkmal. 1893 hat Kuno Fischer eine Darstellung des Lebens, Charakters und der Lehre Schopenhauers als achten Band seiner «Geschichte der neueren Philosophie» erscheinen lassen.

JEAN PAUL

Jean Pauls Persönlichkeit

Es gibt Geisteswerke, die ein solches selbständiges Dasein führen, daß man sich ihnen hingeben kann, ohne einen Augenblick an ihren Urheber zu denken. Man kann die Ilias, den Hamlet und Othello, die Iphigenie von Anfang bis zu Ende verfolgen, ohne an diePersönlichkeit Homers, Shakespeares oder Goethes erinnert zu werden. Diese Werke stehen vor dem Betrachter wie Wesen mit völlig eigenem Leben, wie entwickelte Menschen, die wir für sich hinnehmen, ohne um den Vater zu fragen. Solcher Art s'mdJeanPaulsWerke nicht. Bei ihnen steht fortwährend nicht nur der Geist der Schöpfung, sondern auch der des Schöpfers vor uns. Agamemnon, Achilles, Othello, Jago, Iphigenie treten vor uns hin als Individuen, die aus sich handeln und sprechen. Die Gestalten Jean Pauls, dieser Siebenkäs und Leibgeber, dieser Albano und Schoppe, Walt und Vult haben stets einen Begleiter, der mitspricht, der ihnen über die Schulter blickt. Es ist Jean Paul selbst. Wohl spricht auch aus Goethes Faust der Dichter selbst. Aber dies geschieht in ganz anderer Art als bei Jean Paul. Was von Goethes Natur in die Gestalt des Faust eingeflossen ist, hat sich völlig von dem Dichter losgelöst; es ist ganz zu Fausts eigener Wesenheit geworden und der Dichter tritt ab von der Bühne, nachdem er seinen Doppelgänger auf sie gestellt hat. Jean Paul bleibt immer neben seinen Gestalten stehen. Beim Versenken in eines seiner Werke springen unsre Empfindungen, unsre Gedanken stets von dem Werke ab und zum Schöpfer hin. Ein Ähnliches ist auch bei seinen sati-

rischen, philosophischen und pädagogischen Schriften der Fall. Wohl sind wir heute darüber hinaus, ein philosophisches Lehrgebäude für sich, ohne Bezug auf seinen Urheber zu betrachten. Wir blicken durch die philosophischen Gedanken hindurch auf die philosophischen Persönlichkeiten. In den Schriften des Plato, Aristoteles, Leibniz bleiben wir nicht mehr innerhalb des logischen Gedankengespinstes stehen. Wir suchen das Bild des Philosophen. Wir suchen hinter den Werken den mit den höchsten Aufgaben ringenden Menschen und sehen zu, wie dieser sich nach seiner Eigenart mit den Geheimnissen und Rätseln der Welt abgefunden hat. Aber diese Eigenart hat sich in den Werken vollständig ausgelebt. Eine Persönlichkeit spricht durch die Werke zu uns. Jean Paul hingegen stellt sich in seinen philosophischen Schriften immer in zweifacher Gestalt vor uns hin. Wir glauben, er redet aus dem Buche zu uns; aber außerdem spreche noch ein Mensch neben uns, der uns etwas sagt, das wir aus dem Buche nie erraten können. Und dieser zweite Mensch hat uns stets etwas zu sagen, was an Bedeutung nie hinter seinen Schöpfungen zurückbleibt.

Man mag diese Eigenart Jean Pauls als einen Mangel seiner Natur hinstellen. Wer dazu die Neigung hat, dem möchte ich Jean Pauls eigene Worte in einiger Veränderung entgegenhalten: Jede Natur ist gut, sobald sie eine einsame bleibt und keine allgemeine wird; denn selber die Naturen eines Homer, Plato, Goethe dürfen nicht allgemeine und einzige werden und mit ihren Werken «alle Büchersäle füllen, von der alten Welt bis in die neue hinab, oder wir würden vor Übersättigung verhungern und abmagern; sowie ein Menschengeschlecht, dessen Völker und Zeiten aus lauter frommen Herrnhutern und Spenern oder Antoninen oder

Luthern beständen, zuletzt etwas von matter Langeweile und träger Vorrückung darbieten würde».

Es ist wahr: Jean Pauls Eigenart ließ ihn nie zur Schöpfung von "Werken kommen, die durch das Geschlossene und Gerundete der Form, durch naturgemäße, objektive Entwicke-lung der Charaktere und der Handlung, durch ideengemäße Darstellung seiner Anschauungen den Charakter der Vollendung haben. Er fand niemals für seinen großen geistigen Gehalt die vollkommene Stilform. Aber er drang in die Tiefen und Abgründe der Menschenseele und erstieg Höhen des Gedankens wie wenige.

Zu einem Leben im größten Stile ist Jean Paul veranlagt. Nichts ist seiner feinen Beobachtungsgabe, seinem hohen Gedankenflug unzugänglich. Es ist denkbar, daß er den Gipfel der Meisterschaft erreicht hätte, wenn er die Geheimnisse der Kunst formen gleich Goethe studiert hätte; oder daß er einer der größten Philosophen aller Zeiten geworden wäre, wenn er seine so entschiedene Fähigkeit in dem Reiche der Ideen zu leben, zu größerer Vollkommenheit ausgebildet hätte. Ein unbegrenzter Drang nach Freiheit in allem seinem Schaffen verhindert Jean Paul, sich irgend welchen formalen Fesseln zu fügen. Seine kühne Phantasie will sich nicht in der Fortsetzung einer Erzählung durch die Kunstform bestimmen lassen, die sie sich selbst für den Anfang geschaffen hat. Sie hat auch nicht die Selbstlosigkeit, zuströmende Empfindungen und Gedanken zu unterdrücken, wenn diese sich nicht in den Rahmen des zu schaffenden Werkes fügen. Als souveräner Herrscher, der mit seinen Phantasieschöpfungen ein freies Spiel treibt, erscheint Jean Paul, unbekümmert um Kunstprinzipien, unbekümmert um logische Bedenken. Strömt der Gang einer Erzählung, eine Folge

von Gedanken eine Zeit lang fort, stets fordert der schaf-fende Genius Jean Pauls seine Freiheit wieder zurück und führt den Leser auf Seitenwege, beschäftigt ihn mit Dingen, die mit der Hauptsache gar nichts zu tun haben, sondern sich nur im Geiste des Schöpfers zu ihr gesellen. In jedem Augenblicke sagt Jean Paul, was er sagen will, auch wenn der objektive Gang der Ereignisse etwas ganz andres fordert. In diesem freien Spiel liegt der große Stil Jean Pauls. Aber es ist ein Unterschied, ob gespielt wird bei völliger Beherrschung des Gebietes, in dem man sich bewegt, oder ob die Laune des Spielenden Gebilde schärft, die auf denjenigen, der die Dinge gemäß der in ihnen selbst liegenden Gesetzmäßigkeit anschaut, den Eindruck machen, daß ein Teil des Gebildes nicht mit dem andern stimmt. Den griechischen Kunstwerken gegenüber bricht Goethe in die Worte aus: «Ich habe die Vermutung, daß die Griechen nach eben den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur verfährt und denen ich auf der Spur bin», und: «Diese hohen Kunstwerke sind zugleich die höchsten Naturwerke, die von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen; da ist Notwendigkeit, da ist Gott.» Jean Pauls Schöpfungen gegenüber möchte man sagen: Hier hat sich die Natur ein isoliertes Gebiet geschaffen, auf dem sie zeigt, daß sie ihren eigenen Gesetzen einmal Hohn sprechen und doch groß sein kann. Goethe sucht zur Freiheit des Schaffens zu kommen durch Einverleibung der Naturgesetze in seine eigene Wesenheit. Er will schaffen, wie die Natur selber schafft. Jean Paul will sich seine Freiheit dadurch bewahren, daß er auf die Gesetzmäßigkeit der Dinge nicht achtet und seiner Welt die Gesetze der eigenen Persönlichkeit einbildet.

Wäre Jean Paul eine wenig gemütstiefe Natur, sein freies Spiel mit den Dingen und Empfindungen müßte abstoßend wirken. Aber sein Anteil an der Natur und den Menschen ist nicht geringer als der Goethes und seine Liebe zu allen Wesen hat keine Schranken. Und anziehend ist es, zu sehen, wie er untertaucht in die Dinge mit seinen Gefühlen, mit seiner schwärmerischen Phantasie, mit seinem hohen Gedankenflug, ohne doch die diesen Dingen eingeborene Wesenheit selbst zu durchschauen. Das Sprichwort «die Liebe ist blind» möchte man auf die Gemütsinnigkeit, mit der Jean Paul Natur und Menschen schildert, anwenden.

Und nicht deshalb spielt Jean Paul, weil er zu wenig, sondern weil er zu viel Ernst hat. Der Traum, den seine Phantasie von der Welt träumt, ist so hoheitsvoll, daß ihm gegenüber das, was die Sinne wirklich wahrnehmen, klein und unbedeutend erscheint. Das verführt ihn dazu, den Widerspruch seiner Träume und der Wirklichkeit zu verkörpern. Die Wirklichkeit scheint ihm nicht ernst genug, um seinen Ernst an sie zu verschwenden. Er macht sich über die Kleinheit der Wirklichkeit lustig, aber er tut es nie, ohne die Bitterkeit zu empfinden, daß er sich nicht lieber an dieser Wirklichkeit erbauen kann. Aus dieser Grundstimmung seines Charakters entspringt Jean Pauls Humor. Sie ließ ihn Dinge und Charaktere sehen, die er bei einer andern Grundstimmung nicht gesehen hätte. Es gibt eine Möglichkeit, sich über die Widersprüche der Wirklichkeit zu erheben und die große Harmonie alles Weltgeschehens zu empfinden. Goethe suchte sich auf diese Höhe zu erheben. Jean Paul lebte mehr in den Regionen, in denen sich die Natur selbst widerspricht und im einzelnen dem untreu wird, was aus ihrem Ganzen als Wahrheit und Natürlichkeit spricht. Erscheinen deshalb

Jean Pauls Schöpfungen an dem Ganzen der Natur gemessen als eingebildet, willkürlich, kann man ihnen gegenüber nicht sagen: «da ist Notwendigkeit, da ist Gott»; dem Einzelnen, dem Individuellen gegenüber erscheinen seine Empfindungen als durchaus wahr. Er hat die Harmonie des Ganzen nicht zu schildern vermocht, weil er sie nie in klaren Umrissen vor seiner Phantasie geschaut hat; aber er hat von dieser Harmonie geträumt und den Widerspruch des Einzelnen mit ihr wunderbar empfunden und geschildert. Hätte sein Geist die innere Einheit alles Geschehens plastisch zu gestalten vermocht, er wäre ein pathetischer Dichter geworden. Da er aber nur das Widerspruchsvolle, Kleinliche der Wirklichkeit empfand, machte er sich durch humoristische Schilderung derselben Luft.

Jean Paul fragt nicht: was vermag die Wirklichkeit? Dazu kommt er gar nicht. Denn diese Frage wird jedem Erlebnis gegenüber sogleich übertönt von der andern: wie wenig entspricht doch diese Wirklichkeit dem Ideale. Aber Ideale, die so wenig die Vermählung mit der derben Wirklichkeit vertragen, haben selbst etwas Weichliches. Es fehlt ihnen die Kraft zum vollen frischen Leben. Wer von ihnen beherrscht wird, den machen sie sentimental. Und Sentimentalität gehört zu Jean Pauls Charakteranlagen. Wenn er der Meinung ist, mit dem ersten Kusse, oder doch wenigstens mit dem zweiten sterbe die wahre Liebe, so ist das ein Beweis dafür, daß sein sentimentales Liebesideal nicht dazu geschaffen war, Fleisch und Blut zu gewinnen. Es behält stets etwas Ätherisches. So schwebt denn Jean Paul zwischen einer schattenhaften Idealwelt, an der seine schwärmerische Sehnsucht hängt, und einer Wirklichkeit, die jener Idealwelt gegenüber toll und närrisch erscheint. Er sagt an sich selbst

denkend von dem Humor: «Der Humor, als das umgekehrte Erhabene, vernichtet nicht das Einzelne, sondern das Endliche durch den Kontrast mit der Idee. Es gibt für ihn keine einzelne Torheit, keine Toren, sondern nur Torheit und eine tolle Welt; er hebt - ungleich dem gemeinen Spaßmacher mit seinen Seitenhieben - keine einzelne Narrheit heraus, sondern er erniedrigt das Große, aber ungleich der Parodie - um ihm das Kleine, und erhöhet das Kleine, aber ungleich der Ironie - um ihm das Große an die Seite zu setzen und so beide zu vernichten, weil vor der Unendlichkeit alles gleich ist und nichts.» Jean Paul vermochte nicht die Widersprüche der Welt auszugleichen, deshalb war er auch denen in seiner eigenen Persönlichkeit gegenüber hilflos. Er fand nicht die Harmonie der Seelenkräfte, die in ihm walteten. Aber diese Seelenkräfte wirken so gewaltig, daß man sagen muß, Jean Paulsche Unvollkommenheit ist größer als manche Vollkommenheit niederer Gattung. Mag immerhin Jean Pauls Können hinter seinem Wollen zurückbleiben; dieses Wollen tritt einem deshalb doch so deutlich vor die Seele, daß man Blicke in unbekannte Gebiete zu tun glaubt, wenn man seine Schriften liest.

Knabenalter und Gymnasiaheit

Seine Kindheit, vom zweiten bis zum zwölften Jahre, verlebte Jean Paul in Joditz an der Saale, unweit Hof. Geboren ist er in Wunsiedel als Sohn des Tertius und Organisten Johann Christian Christoph Richter am 21. März 1763. Dieser hatte sich am 16. Oktober 1761 mit Sophia Rosina Kuhn, der Tochter des Tuchmachers Johann Paul Kuhn in Hof, vermählt. Unser Dichter erhielt in der Taufe den

Namen Johann Paul Friedrich. Aus den beiden ersten Vornamen bildete er durch Französierung später seinen Schriftstellernamen Jean Paul. Am i. August 1765 siedelten die Eltern nach Joditz über. Der Vater wurde dort zum Pfarrer ernannt. Die Familie war in Wunsiedel um einen Sohn, Adam, vermehrt worden. In Joditz kamen noch zwei Mädchen, die früh starben, und zwei Söhne, Gottlieb und Heinrich, dazu. Ein letzter Sohn, Samuel, wurde später, als die Familie bereits in Schwarzenbach war, geboren. Jean Paul schildert in hinreißender Weise in seiner leider nur bis zum Jahre 1779 reichenden Autobiographie seine Kindheit. Alle Züge, die später in dem Manne hervortreten, kündigen sich in dem Knaben bereits an. Die schwärmerische Phantasie, die auf ein ideales Reich gerichtet ist und welche die Wirklichkeit geringer schätzt als dieses Reich, zeigte sich im frühen Alter in Gestalt einer ihn oft quälenden Gespensterfurcht. Er schlief mit seinem Vater zusammen in einer Gaststube des Joditzer Pfarrhauses, abgesondert von der übrigen Familie. Die Kinder mußten sich um neun Uhr zu Bett begeben. Der fleißige Vater kam aber erst zwei Stunden später zu Jean Paul in die Stube, nachdem er sein Nachtlesen vollendet hatte. Das waren zwei schwere Stunden für den Knaben. «Ich lag mit dem Kopfe unter dem Deckbette im Schweiße der Gespensterfurcht und sah im Finstern das Wetterleuchten des bewölkten Geisterhimmels, und mir war, als würde der Mensch selber eingesponnen von Geisterraupen. So litt ich nächtlich hilflos zwei Stunden lang, bis endlich der Vater heraufkam und gleich einer Morgensonne Gespenster wie Träume verjagte.» Der Autobiograph deutet vorzüglich diese Eigenheit seines Kindesalters. «Manches Kind voll Körperfurcht zeigt gleichwohl Geistesmut, aber bloß aus Mangel an Phantasie;

ein andres hingegen - wie ich - bebt vor der unsichtbaren Welt, weil die Phantasie sie sichtbar macht und gestaltet, und ermannt sich leicht vor der sichtbaren, weil diese die Tiefen und Größen der unsichtbaren nie erreicht. So machte mich eine auch schnelle körperliche Gefahrerscheinung - zum Beispiel ein herrennendes Pferd, ein Donnerschlag, ein Krieg, ein Feuerlärm - nur ruhig und gefaßt, weil ich nur mit der Phantasie, nicht mit den Sinnen fürchte.» Und auch die andre Seite in Jean Pauls Natur ist schon an dem Knaben zu bemerken; jene liebevolle Hingebung an die Kleinheiten der Wirklichkeit. Er hatte «von jeher eine Vorliebe zum Häuslichen, zum Stilleben, zum geistigen Nestmachen in sich getragen. Er ist ein häusliches Schaltier, das sich recht behaglich in die engsten Windungen des Gehäuses zurückschiebt und verliebt, nur daß es jedesmal die Schnecken-schale weit offen haben will, um dann die vier Fühlfäden nicht etwa so weit als vier Schmetterlingsflügel in die Lüfte zu erheben, sondern noch zehnmal weiter bis an den Himmel hinauf strecken will; wenigstens mit jedem Fühlfaden an einen der vier Trabanten Jupiters.» Er nennt diese seine Eigenheit einen «närrischen Bund zwischen Fernsuchen und Nahesuchen - dem Fernglas ähnlich, das durch bloßes Umkehren die Nähe verdoppelt oder die Ferne». Besonders bedeutsam für Jean Pauls Wesen ist des Knaben Verhalten gegenüber dem Weihnachtsfeste. Die Freuden, die ihm die nahe Wirklichkeit bot, konnten seine Seele nicht ausfüllen, wie groß auch das Maß war, in dem sie sich einstellten. «Wenn Paul nämlich am Weihnachtsmorgen vor dem Lichterbaum und Lichtertische stand und nun die neue Welt voll Glanz und Gold und Gaben aufgedeckt vor ihm lag und er Neues und Neues und Reiches fand und bekam: so war das

erste, was in ihm aufstieg, nicht eine Träne - nämlich der Freude -, sondern ein Seufzer - nämlich über das Leben -, mit einem Worte, schon dem Knaben bezeichnete der Übertritt oder Übersprung oder Überilug aus dem wogenden, spielenden, unabsehlichen Meere der Phantasie auf die begrenzte und begrenzende feste Küste sich mit einem Seufzer nach einem größeren, schöneren Lande. Aber ehe dieser Seufzer aufgeatmet war und ehe die glückliche Wirklichkeit ihre Kräfte zeigte, fühlte Paul aus Dankbarkeit, daß er sich im höchsten Grade freudig zeigen müsse vor seiner Mutter; -und diesen Schein nahm er sofort an, und auch auf kurze Zeit, weil sogleich darauf die angebrochenen Morgenstrahlen der Wirklichkeit das Mondlicht der Phantasie auslöschten und entfernten.» Nicht als Kind, auch nicht im späteren Alter konnte Jean Paul die Brücke rinden zwischen dem Lande seiner Sehnsucht, das ihm seine Phantasie in unbegrenzter Vollkommenheit vorspiegelte, und der Wirklichkeit, die er liebte, die ihn aber niemals befriedigte, weil er sie nicht im großen Ganzen überschauen konnte, sondern nur im Einzelnen, Individuellen, im Unvollkommenen.

Im Auftrage der Mutter besuchte Jean Paul öfter die Großeltern in Hof. Eines Sommertages beschlich ihn auf dem Heimwege, als er gegen zwei Uhr die sonnigen, beglänzten Bergabhänge und die ziehenden Wolken betrachtete, ein «gegenstandsloses Sehnen, das aus mehr Pein und wenig Lust gemischt und ein Wünschen ohne Erinnern war. Ach, es war der ganze Mensch, der sich nach den himmlischen Gütern des Lebens sehnte, die noch unbezeichnet und farblos im tiefen Dunkel des Herzens lagen und welche sich unter den einfallenden Sonnenstrahlen flüchtig erleuchte-

ten.» Diese Sehnsucht hat Jean Paul durchs Leben begleitet; nie ist ihm die Gunst zuteil geworden, die Gegenstände seiner Sehnsucht auch in der Wirklichkeit zu schauen.

Es gab für Jean Paul Zeiten, in denen er schwankte, ob er mehr zum Philosophen oder zum Dichter geboren sei. Jedenfalls ist ein ausgesprochener philosophischer Zug in seiner Persönlichkeit. Der Philosoph hat vor allen andern Dingen Selbstbesinnung nötig. Die philosophischen Früchte reifen im intimsten Innern des Menschen. Auf diese muß sich der Philosoph zurückziehen können. Von hier aus muß er den Anschluß an das Weltgeschehen, an die Geheimnisse des Daseins finden können. Auch die Anlage der Selbstbesinnung findet man bei dem jungen Jean Paul knospenhaft vorgebildet. Er erzählt uns: «Nie vergeß ich die noch keinem Menschen erzählte Erscheinung in mir, wo ich bei der Geburt meines Selbstbewußtseins stand, von der ich Ort und Zeit genau anzugeben weiß. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlage, als auf einmal das innere Gesicht, ich bin ein Ich, wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr, und seitdem leuchtend stehen blieb: da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig.» Man findet die sämtlichen Eigentümlichkeiten von Jean Pauls Charakter und die seiner Schöpfungen bereits in den ersten Anlagen seines Wesens. Es ist verfehlt, wenn man in dem Herauswachsen aus den beschränkten Verhältnissen seines Erziehungsortes die Ursache für die Physiognomie seiner geistigen Persönlichkeit sucht. Er selbst betrachtet es als einen glücklichen Zufall, wenn der Dichter nicht in einer Großstadt, sondern auf dem Dorfe seine Kindheit verlebt hat. Diese Verallgemeinerung ist gewiß gewagt. Für Jean Paul war es

wegen seiner individuellen Natur ein Glück, daß er in der Joditzer Idylle seine ersten Eindrücke empfing. Für andre Naturen ist gewiß ein andres das Naturgemäße. Jean Paul meint: «Lasse sich doch kein Dichter in einer Hauptstadt gebären und erziehen, sondern wo möglich in einem Dorfe, höchstens in einem Städtchen. Die Überfülle und die Überreize einer großen Stadt sind für die erregbare Kinderseele ein Essen an einem Nachtisch und Trinken gebrannter Wasser und Baden in Glühwein. Das Leben erschöpft sich in ihm in der Knabenzeit, und er hat nun auch dem Größten nichts mehr zu wünschen als höchstens das Kleinere, die Dorfschaften. Denk ich vollends an das Wichtigste für den Dichter, an das Lieben: so muß er in der Stadt um den warmen Erdgürtel seiner elterlichen Freunde und Bekanntschaften die größeren kalten Wende- und Eiszonen der ungeliebten Menschen sehen, welche ihm unbekannt begegnen und für die er sich so wenig liebend entflammen oder erwärmen kann als ein SchifTsvolk, das vor einem andern fremden Schiffsvolk begegnend vorübersegelt. Aber im Dorfe liebt man das ganze Dorf, und kein Säugling wird da begraben, ohne daß jeder dessen Namen und Krankheit und Trauer weiß; - und dieses herrliche Teilnehmen an jedem, der wie ein Mensch aussieht, welches daher sogar auf den Fremden und den Bettler überzieht, brütet eine verdichtete Menschenliebe aus und die rechte Schlagkraft des Herzens.»

Eine wahre Wut nach Kenntnissen steckte in dem Knaben Jean Paul. «Alles Lernen war mir Leben, und ich hätte mit Freuden wie ein Prinz von einem Halbdutzend Lehrer auf einmal mich unterweisen lassen, aber ich hatte kaum einen rechten.» Diese Begierde zu stillen, war der Vater, der den Elementarunterricht besorgte, freilich nicht der rechte

Mann. In seiner Art war Johann Christoph Christian Richter eine ausgezeichnete Persönlichkeit. Er versetzte seine kleine Pf arrgemeinde, deren Glieder mit ihm wie eine große Familie verbunden waren, durch seine Predigten in Begeisterung. Er war ein vorzüglicher Musiker und sogar ein beliebter Komponist geistlicher Musik. Wohlwollen gegen jedermann war eine seiner hervorstechenden Charaktereigenschaften. Er besorgte die Arbeiten seines Ackers und Gartens zum Teil mit eigener Hand. Der Unterricht, den er dem Sohn gab, bestand darin, daß er ihn «bloß auswendig lernen ließ, Sprüche, Katechismus, lateinische Wörter und Langens Grammatik». Dem nach wirklicher geistiger Nahrung dürstenden Knaben fruchtete das wenig. Schon damals suchte er auf selbständigen Wegen das zu erlangen, was ihm von außen her nicht entgegengebracht wurde. Er legte sich eine Schachtel an, in der er eine «Etuibibliothek» aufstellte «aus lauter eigenen Sedezwerkchen, die er aus den handbreiten Papierabschnitzeln von den Oktavpredigten seines Vaters zusammennähte und zurechtschnkt».

Am 9. Januar 1776 siedelte Jean Paul mit seinen Eltern nach Schwarzenbach über. Sein Vater wurde durch eine Gönnerin, die Freifrau von Plotho, zum Pfarrer daselbst ernannt. Nun kam Jean Paul in eine Öffentliche Schule. Der Unterricht an derselben entsprach seinen geistigen Bedürfnissen ebensowenig wie der bei seinem Vater. Der Rektor Karl August Werner betrieb mit den Schülern eine Lektüre, der alle Gründlichkeit und Vertiefung in den Geist der Schriftsteller abging. Einen Ersatz bot dem Wissensbedürftigen der Kaplan Völkel, der ihm in Geographie und Philosophie Privatstunden gab. Besonders durch die Philosophie empfing Jean Paul mannigfache Anregungen. Doch trat ge-

rade diesem Manne gegenüber die fest ausgeprägte, starre Individualität des jungen Geistes in schroffer Weise zutage. Völkel hatte ihm versprochen, eines Tages mit ihm eine Partie Schach zu spielen, und es dann vergessen. Darüber war Jean Paul so erbost, daß er des ihm lieben philosophischen Unterrichtes nicht achtete und seinen Lehrer nie wieder aufsuchte. Zu Ostern 1779 kam Jean Paul nach Hof aufs Gymnasium. Eine ungewöhnliche Geistesreife trat bei seiner Aufnahmeprüfung zutage. Er wurde sogleich in die mittlere Abteilung der Prima versetzt. Bald darnach, am 15. April, starb der Vater. Mit den Lehrern hatte Jean Paul auch in Hof kein rechtes Glück. Weder der Rektor Kirsch noch der Konrektor Remebaum, die Lehrer der Prima, machten sonderlichen Eindruck auf Jean Paul. Und wieder sah er sich genötigt, seinen Geist auf eigenen Wegen zu befriedigen. Zum Glück bot sich ihm dazu Gelegenheit durch seine Beziehungen zu dem aufgeklärten Pfarrer Vogel in Rehau. Dieser stellte ihm seine ganze Bibliothek zur Verfügung, und Jean Paul konnte sich in die Werke von Helvetius, Hippel, Goethe, Lavater und Lessing vertiefen. Schon jetzt regte sich in ihm der Drang, das Gelesene sich persönlich ganz einzuverleiben und für seine Lebensführung nutzbar zu machen. Ganze Bände füllte er mit Exzerpten des Gelesenen an. Und eine Reihe von Aufsätzen gingen als Früchte aus dieser Lektüre hervor. An bedeutsame Dinge machte sich der Gymnasiast. Wie unser Begriff von Gott beschaffen ist; über die Religionen der Welt; die Vergleichung des Narren und des Weisen, des Dummkopfs und des Genies; über den Wert des frühzeitigen Studiums der Philosophie; über die Bedeutung der Erfindung neuer Wahrheiten: dies waren die Aufgaben, die er sich stellte. Und er hatte schon viel über


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