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bescheidener Wünsche noch freuen (Christdagswünsche). – Emma
Cramer-Crummenerl predigt Moral und Lebensmut: Das unverbindli-
che Anbändeln mit mehreren Verehrern gleichzeitig kann nicht gut-
gehen (In Trügge met Äinem). Ein Hase macht es den Menschen vor,
wie man sich in der Not damit trösten kann, dass kein noch größeres
Unglück geschehen ist (Guerre Lähr). In leidvollen Nächten und düste-
ren Zeiten hilft nur die Tugend der Geduld weiter (Hef doch Geduld).
Vereintes Arbeiten soll ‚Großes‘ bewirken und der künftigen Genera-
tion den Weg bereiten (Äin Lied van diar Arbet). Auch wenn sich Zeit-
genossen in Abkehr vom alten Glauben fernen Religionen und esote-
rischen Praktiken zuwenden, blickt die Dichterin zuversichtlich auf die
Jugend: Die „jungen Seelen“ wollen den Materialismus überwinden
und eine neue Synthese von Realismus und Idealismus wagen (Dei
jungen Seelen). Heute können wir im Rückblick freilich nicht mehr an-
nehmen, dass die jugendlich-idealistischen Sonnenwanderer der Wei-
marer Zeit einer guten Fährte folgten. – Die Dichterin übt sich auch als
Philosophin. Kritisch bewertet sie das leichtfertig gesungene Lied von
der Freiheit und die hochmütige Suche nach einem ‚wahrhaft freien
Menschen‘, da doch alle – auch sie selbst – in unsichtbaren Ketten ein-
hergehen (Van diar Frieheit).
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Die Menschen machen sich das Leben
selbst schwer und führen die Feindseligkeit zwischen zwei Nachbar-
familien sogar über Generationen fort (Hinz un Kunz). Der ‚missge-
stimmte Erdengast‘, zweifelsohne ein Narzisst im ‚inneren Gefängnis‘,
verbreitet schlechte Gefühle und steht unter einem bösen Zauberbann
(Verstemmet). Die psychologische Wahrnehmung überzeugt, doch was
soll der Betroffene mit der Aufforderung anfangen, sich selbst aus
Knechtschaft und (Seelen-)Krankheit zu befreien? In einem anderen
Text geht es um den Begierigen und Rastlosen, der an seiner Jugend
und am ganzen Leben vorbeisaust: ‚Warum bist du überhaupt geboren?
Das Herz ist dir doch im Leibe verfroren!‘ (Kein Tied). Emma Cramer
kann hier keine Hilfe anbieten, sondern muss ihrer Empörung Luft ma-
chen. Eine bittere Ernte beschert sie an anderer Stelle einer Frau, die
ihrem Mann – und allem Lebendigem – nur in der Weise der Macht-
ausübung zu begegnen weiß (Aine truerige Oustergeschichte).
Eine Reihe von Gedichten kann wie kleine Alltags- und Sozialskizzen
gelesen werden oder enthält den Appell, den Ärmeren barmherzig oder
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Im Tiergedicht „Frieheit“ sehnt sich der liebestolle Stallhund nach Freiheit, die er
dann aber draußen in kalter Nacht bei vergeblichem Liebeswerben gerne wieder mit
Kette, Wärme und Futter eintauschen würde.
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solidarisch gegenüberzutreten (chronologisch): Die stolze Katze eines
reichen Mannes verschmäht hochmütig den schwarzen Kater, der nach
armen Leuten riecht (Dei stolze Miß). Ein Lüdenscheider Ehepaar reist
in Sonntagsgarnitur nach Köln und erlebt einen fatalen Tag, doch zu-
hause erzählt die zuvor missmutige Gattin überall begeistert von der
Domstadt (De Reise no Cöllen). Der Osterhase übernimmt es, das rück-
sichtslose Verhalten der Reichen während der Hamsterzeit anzuklagen
(Dei Ousterhase). Die Nahrungsmittelknappheit in einer Familie ist für
den kranken Vater eines niedergedrückten Jungen gar lebensbedrohlich
(Schultens Jüppken). Beim Standesamt gibt es bürokratische Schwierig-
keiten, weil der Verlobte keine Schulbildung genossen hat und auch
nicht genau weiß, wo er geboren ist (Hans un Liese). Der Lehrer, der
sich ob seiner geistigen Arbeit über einen dienstleistenden Bauern er-
hebt, kommt am Ende nicht gut weg (nach tradiertem Schwankmotiv:
Kopparbet). Die Küchenmagd beharrt auch vor dem Schiedsmann da-
rauf, dass ihre Arbeitgeberin Frau Amtsrat eine Hexe sei (Dei Hexe).
Die sehr „einfach“ denkende Kiepenfrau mit Backwaren nimmt ihren
Dienst an den Menschen bis zum letzten Atemzug ernst (Stuten-Male).
Neben den in Reime gesetzten lokalen Sagen (Ut ganz ollen Tien;
Dai Sage vam Galgengebiarge; Sage vam ‚Brutlecht in diar Nurre‘)
gibt es Heimatgedichte über das Sauerland und Lüdenscheid, die ein
Bekenntnis zur Heimatsprache und Hinweise auf den rasanten Fort-
schritt in der Heimatstadt enthalten (Du mien Suerland!; Lünsche; O
Häimet, leiweste Häimet). Im Sauerland wachsen keine Datteln und
Zitrusfrüchte, aber Dickebohnen und Speck sind nach Ansicht der
Dichterin auch nicht zu verachten (Im Suerlanne). – Kurze Lyrik taucht
in der Sammlung nur ganz am Rande auf. An Christine Kochs Gedicht
„Räosenteyt“ fühlt man sich beim Lied „
Wenn de Rousen blött!“ er-
innert. Drei Strophen fangen die Verliebtheit einer Kuhstallmagd ein
(Ammerie). – Im Schlussgedicht lässt die Dichterin die besonderen Mo-
mente ihres Lebens Revue passieren und kein Leser wird daran zwei-
feln, dass sie ein glücklicher Mensch ist (Glückserinnern).
10. J
ULIUS
C
AESAR
(1864-1940): Der Westerwälder Julius Caesar, ge-
boren in Maxsain, war Lithograph und verheiratet mit der Lüdenschei-
derin Ida geb. Schröder (1858-1942). Im Dezember 1900 wurde er Ge-
sellschafter der Lüdenscheider Druckerei R. & A. Spannagel. Das Ku-
riosum: Der zugezogene Unternehmer betätigt sich später auch als
sauerländischer Mundartdichter! 1911 veröffentlicht Caesar nämlich ein