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Verfasser konnte ich bislang nur ermitteln, dass er ein Deutschna-
tionaler war und bis zu seinem Tod eine leitende Stellung in den
gemeinnützigen Werkstätten „Westfalenfleiß“ innehatte (Lindner 1995,
S. 78-121). – Im sehr politischen Gedicht „Furor teutonicus“ wird
geschildert, wie die Hagener sich über ein „welsches“ Gerichtsurteil zu
Ungunsten des Rüstungsproduzenten Krupp empören und den Kampf
gegen die französischen „Sieger“ nach Kriegsende auch als Zivilisten
fortführen. Anzüglich und wohl kaum tauglich z.B. für eine katholische
Leserschaft der damaligen Zeit sind die gereimten Männerwitze „De
schlaue Junggeselle“ und
„En gurdet Rezept“. An anderer Stelle taucht
das Klischee des dummen Bauern auf (De schlaue Buer). Als kleine
Sozialskizze kann das Gedicht „De vüernähme Bekanntschop“ gelesen
werden. Höhepunkt des Bandes ist ein Kriegserlebnis durchgreifender
Art (Die Ballade von der verdorbenen Erbsensuppe): Nach dem Genuss
eines verdorbenen Kasernen-Essens wird die ganze zweite Kompagnie
von Darmgeräuschen und Durchfall geplagt. Der Andrang vor den Toi-
letten ist so gewaltig, dass die Exkremente nicht mehr in jedem Fall
über der Schüssel des Aborts entleert werden können. Der bebilderte
Mundarttext zeugt von Freude an analen Vorgängen:
36
9. E
MMA
C
RAMER
/
C
RAMER
-C
RUMMENERL
(1875-1964): „Geboren in
Lüdenscheid, wo sie auch ihre ersten Lebensjahre verbrachte, zog das
Mädchen im Alter von fünf Jahren mit seinen Eltern [Crummenerl]
nach Breslau. Hier erhielt es zum Weihnachtsfest 1886 ein Tagebuch
geschenkt, in das es fortan Erlebnisse und Gedanken, aber auch erste
einfache Gedichte eintrug. Schon bald kehrte Emma Cramer in ihren
Geburtsort zurück, lebte und arbeitete hier, mit wenigen Unterbrech-
ungen, bis zu ihrem Tode“ (Pahl 2003*, S. 25; zu knapp dagegen: Im
reypen Koren 2010, S. 132). Es liegen keine zufriedenstellenden Veröf-
fentlichungen vor zu Biographie, Bibliographie (unselbständige Veröf-
fentlichungen) und Nachlass (Umfang, Verbleib). Am 15./16. August
2016 konnte ich nach einem Zeitungsaufruf im Lüdenscheider Blatt
„Der Bote“ Telefongespräche mit zwei ausgesprochen liebenswürdigen
Enkelinnen der Autorin führen: Elfriede Elmer, geb. Cramer (*1921)
A
in Neuenrade und Emmarie Reichel, geb. Cramer (*1936)
B
in Meinerz-
hagen. – Zur Sprachgeschichte: Im aktuellen Wikipedia-Ortseintrag
heißt es: „Bis Ende des 19. Jahrhunderts war in Lüdenscheid Nieder-
deutsch als Umgangssprache weit verbreitet. [...] Durch die seit der
Industrialisierung kontinuierlich bedeutende Zuwanderung wurde das
lokale Niederdeutsch fortschreitend zurückgedrängt und besaß spätes-
tens Mitte des 20. Jahrhunderts als Alltagssprache keine Bedeutung
mehr“ (Abruf 23.09.2016; vgl. mit Belegen: Liäwensläup 2012, S. 408-
412: ‚Zuwanderung‘ war wohl kaum die alleinige Ursache der Ent-
wicklung). Mit ihrer Mutter († 1932) und ‚plattdeutschen Besuchern‘ –
vielleicht auch mit dem Gatten Heinrich Cramer († 1948) – sprach die
Autorin Emma Cramer-Crummenerl zeitlebens das Lüdenscheider
Platt, hingegen Hochdeutsch mit den eigenen Kindern – Friedrich (Jg.
1893?, hoher Wehrmachtsrang, Tod bei einem Bombenangriff in Ber-
lin), Albert (1899-1962) und Heinrich (1908-1945, Tod als Soldat nahe
Krakau) – sowie den Enkelkindern.
A/B
–
Zum schriftstellerischen Werk:
Ab 1907 erscheinen, ermutigt durch Chefredakteur Bartsch, Geschich-
ten und Gedichte im „Lüdenscheider Generalanzeiger“. Die hoch- und
plattdeutschen Texte im Buch „Vom Herzens-Überfluss“ [Prosa und
Gedichte, 1915]
11
und vermutlich auch im Lyrikband „Trauben und
Schlehen“ (1926) gehen auf Zeitungsbeiträge zurück. H. Pahl schreibt
über Emma Cramer-Crummenerl, die 1925 zum 50. Geburtstag schon
eine breite öffentliche Ehrung erfährt: „Besonderer Beliebtheit erfreu-
11
Anthologie I, S. 313-318; Anthologie III, S. 379-417.
37
ten sich ihre in unregelmäßiger Folge erscheinenden Zeitungsbeiträge
unter dem Titel ‚Lechtstünnecken‘, in denen sie sich – häufig in Ge-
sprächsform – mit aktuellen lokalen Problemen aus der Sicht des ein-
fachen Bürgers beschäftigte. Daneben druckte die heimische Presse
mehrere ihrer plattdeutschen Einakter und Romane, so etwa ‚Heilege
Häimet‘ und ‚Met ruhen Hännen‘, von denen sie später einige ins
Hochdeutsche übersetzte. – Schon bald gehörte Emma Cramer-Crum-
menerl, wie sie sich nach ihrer Heirat nannte, zu den Mitarbeitern von
zehn Tageszeitungen in den Bereichen Lüdenscheid, Hagen und Hattin-
gen.“ (Pahl 2003*, S. 25; vgl. ausführlich: Pahl 1969) – Zur politischen
Seite der Biographie: Eine monarchistische und patriotisch-kriegser-
tüchtigende Grundhaltung tritt im Buchband von 1915 zutage. Die
evangelische Dichterin war später Mitglied im 1923 gegründeten –
deutschnationalistischen – ‚Bund Königin Luise‘ (BKL).
A
Ihr zweiter
Sohn Albert musste nach Auskunft seiner ältesten Tochter nach 1933
als überzeugter Anhänger der Republik beruflich-soziale Nachteile hin-
nehmen. Zur weiteren Verwandtschaft der Dichterin gehört möglicher-
weise der sozialdemokratische Antifaschist und Widerstandskämpfer
Siegmund Crummenerl (1892-1940) aus Lüdenscheid. Emma Cramer-
Crummenerl selbst wurde Mitglied der NSDAP, soll Differenzen mit
dem Lüdenscheider Gauleiter auch in ihrer Zeitungskolumne ‚Lecht-
stünnecken‘ bearbeitet haben und kam nach Kriegsende erleichtert von
einer Vorladung bei ‚den Belgiern‘ („Entnazifizierung“) zurück.
B
In
den Mundartexten zeigt sich an vielen Stellen ein ausgeprägter Sinn für
arme Leute. Die Dichterin soll Bedürftigen materiell geholfen haben.
B
Wenn nach 1945 das etwa 500 Mark hohe Honorar für einen ihrer rund
30 hochdeutschen „Frauenromane“ eintraf, zeigte sie nach Weise der
Bohème wenig praktischen Sinn für den Umgang mit Geld und ließ von
einer Enkelin sogleich beim Konditor süße Köstlichkeiten für die ganze
Familie holen.
B
Zu den vierzig Mundartgedichten aus dem Band „Trauben und
Schlehen“ (1926): Am Anfang stehen drei pathetische Texte über Mut-
terliebe (Mouderhänne; Pinkesvilletten; Mouderliebe). Sehr zahlreich
sind die jahreszeitlichen Gedichte, in denen stets das menschliche Ban-
gen und Hoffen zur Sprache kommt. Die christlichen Festtage werden
nicht stillschweigend naturalisiert bzw. säkularisiert: Ostern ist das Fest
der Auferstehung des Heilandes und an Pfingsten erklingt das ‚Lied
vom heiligen Geist‘ (Oustern; Pinksahndacht). Es gibt sogar schon Kri-
tik an einer modernen Konsum-Weihnacht; die Alten konnten sich trotz