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Einige Texte weisen eine zeitkritische, politische Tendenz auf: Treue
Verbundenheit kann in jedem Land verwirklicht werden; die Parole
‚deutsche Treue und deutsche Sitte‘ wird hingegen von Hetzern dazu
missbraucht, andere auszugrenzen und zu spalten (Volkstum). Mit der
Beschwörung von ‚deutschem Geist‘ und einer angeblichen besonderen
Tugendhaftigkeit der deutschen Nation wird die leichtgläubige Jugend
verführt; auf ‚Freiheit, Treue, Wahrheit und Recht‘ kann sich aber nur
berufen, wer jedem Volksteil die gleichen Rechte zugesteht und na-
mentlich eine Diskriminierung aufgrund eines abweichenden religiösen
Bekenntnisses ablehnt (Trüi düitsk). – Alte Sprachen haben für Raabe
keine Bedeutung und den Plan einer neuen Weltsprache betrachtet er
noch mit Skepsis; eine Sprache jedoch gibt es gewiss, die alle Men-
schen der Erde – sei es in „Kapstadt, Kairo, Smolensk, Paris [oder]
Berlin“ – verstehen: Dies ist die Sprache der Augen (De Weltsproke).
12. H
EINRICH
R
OSEMANN
(1887-1969): Heinrich Rosemann, geboren in
Dortmund-Hörde, hat u.a. in (Anröchte-)Effeln und Rüthen als Lehrer
gewirkt und einen plattdeutschen Gedichtband „Lachdiuwen van der
Haar“ (1925) veröffentlicht. Über ihn hat der Sohn Dr. Wolfram Rose-
mann mir 1995 mitgeteilt, er sei „[s]icherlich zweisprachig aufge-
wachsen, wobei das Hochdeutsche deutlich Übergewicht haben muß. Er
sprach märkisches Platt; seine ‚Lachdiuwen‘, die einzige niederdeut-
sche Veröffentlichung, ganz im Zeitstil der schmunzelnd gereimten
Anekdote konzipiert, sind also in ‚fremder Zunge‘ verfaßt“ (Im reypen
Koren 2010, S. 535). – Zu den ausgewählten Gedichten: Die Zeitver-
hältnisse sind streng; so kann sich ein Schüler wie Fränzchen nur durch
eine Schmutzschicht gegen den prügelnden Lehrer zur Wehr setzen
(Dat Middel). Wenig einfühlsam wird ein anderer Junge vom Schul-
meister nach seinem im Vorjahr verstorbenen Vater befragt (De
Professiaun). Schauplatz des Buches ist eine katholische Gegend mit
Kinderreichtum (De Elemente) und Musikanten, die ihre Kunst nach
dem Tod auch im Himmel noch praktizieren können (Hannes, blos fis!).
Die Bauern und ihre Frauen glauben, der heilige Isidor habe sich auf
der Prozession bewegt; der vom Vikar um Abhilfe gebetene Schreiner
schlägt dem Schutzpatron der Landwirtschaft kurzerhand einen Nagel
ins Rückgrat (Sünte Isidor). Auf die Messe bereiten sich die Männer im
Wirtshaus vor, um dann im Hochamt ihre lauten Gespräche fortzu-
setzen; der Kirchenmusiker hilft dem bekümmerten Pfarrer, indem er in
einem Gottesdienst sein lautes Orgelspiel schlagartig unterbricht und
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somit alle das unfromme Männergespräch mit anhören können (Dat
Rezept). Drei für unseren Band ausgewählte Texte von Rosemann be-
stätigen die bisherigen Befunde in meiner regionalen Studie über
„Juden als Thema der Mundartliteratur“
13
: Juden wie Salomon Mandel-
kern, Mendel Legehuhn, Löb [Levi] Mandelblüh und Siegfried Cohn
sind auch im katholischen Milieu an der Haar vorzugsweise Objekt von
Belustigung, Drohung oder Schlägen (De Hasenjagd; De Buiwagen; En
gros un en detail).
13. P
AUL
H
ENKE
(1879-1961): Dieser Autor aus Geseke hatte sich
ursprünglich in Paderborn auf den Priesterberuf vorbereitet, wurde dann
jedoch promovierter Gymnasiallehrer – zuletzt dauerhaft in Bochum
(Im reypen Koren 2010, S. 247-248). In der Weimarer Zeit legte er –
unter dem Verfassernamen „Paul von der Weihe“ – sein kleines Werk
„Heimatklänge“ [1926] vor. Es enthält 36 Gedichte, davon 33 in
Geseker Mundart verfasst, einen ausführlichen Anhang sowie zahlrei-
che Illustrationen (Fotographien; viele, z.T. von der Ehefrau angefer-
tigte Strichzeichnungen). Im Hintergrund steht die am 1. März 1925
erfolgte Gründung des Heimatvereins Geseke, der Dr. Paul Henke
schon am 11. Oktober seines Gründungsjahres die Ehrenmitgliedschaft
verliehen hat (Zielsetzungen u.a. Museumsgründung, Herausgabe eines
Heimatblattes). In der ursprünglichen Satzung war das Platt von Geseke
als Vereinssprache vorgesehen! Henkes Werk ist, dazu passend, eine
gereimte plattdeutsche Heimatkunde über Lokalgeschichte, Orte und
Gebäude, Kunstgüter, Überlieferungen (Sagen, Legenden etc.), Fest-
und Brauchtumstraditionen, Ökonomie (Flachsverarbeitung, Kalkwer-
ke), verdiente oder außergewöhnliche Persönlichkeiten und „Originale“
von Geseke. Hinzu treten Verse, die dem Leutegut entlehnt sind (Nr.
16, 22, 23), sowie das lyrische Heimatbekenntnis – samt Widmung an
den Verein für Heimatkunde (Nr. 1, 35, 36): „Ik bin dür’t Liäwen gohn
/ All balle füftig Johr, [...] / Doch ümmer häw’ ik wier / Diän Wiäg teor
Heimat funnen, / Ik möchte gläwen schier, / Ik könn mänt do ge-
sunnen.“ – Die „Erläuterungen“ zu allen Gedichten im ausführlichen
Anhang sind keine nebensächliche Beigabe, sondern unentbehrlich für
das Verständnis dieser eigentümlichen Geseker Heimatkunde. Erst hier
erfährt man z.B., dass die Verse über die ‚rauhe Rasse‘ der Steinzeit-
vorfahren (Nr. 2) sich auf archäologische Funde am Ort beziehen.
13
Vgl. Liäwensläup 2012, S. 553-740 und 749-787.