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(1680-1743) zufriedenstellend zu bannen, und in alter Zeit sind die Be-
wohner auch Wehrwölfen begegnet: „Doch dai opgeklörten Gäister /
muget sauwat nit mehr leyen.“ – Den Abschluss des Buches bildet die
Vision „10. Landpfarrers Draum“, in welcher laut Anhang Bibelstel-
len, Texte Tertullians und anderer Kirchenschriftsteller sowie das neu-
platonische Korpus „[Pseudo-]Dionysius Areopagita“ eingeflossen
sind: Der alte Pfarrer zweifelt daran, dass die von gesäte Saat gute
Früchte trägt. Tröstung wird ihm in einem Traumgesicht zuteil. Längst
verstorbene Menschen der Gemeinde, die er durch Wort und mehr noch
durch Beispiel zum Heil geführt hat, sprechen ihren Dank aus. Eine
mystische Reise in Himmelsphären mit übersinnlich schöner Musik
führt zur Gewissheit, dass allein der gute Wille des irdischen Heilsver-
mittlers genügt und Gottes Erlösungswalten auf unbegreifliche Weise
zum Ziel kommt. Hier erweist sich das ernste Mundartwerk des Fabrik-
arbeiters Jodokus Hennecke als ausgesprochene „Weltanschauungs-
Dichtung“.
6. K
ARL
V
Oß
(1849-1937): In seiner Versdichtung
„Bueterbettken“ hat
der Arnsberger Landwirt Karl Voß schon sehr früh die Gestalt der
selbstständigen Wanderhändlerin bzw. Marketenderin Elisabeth Becker
(1858-1932) aus (Sundern-)Hellefeld für Zeitgenossen und Nachwelt
„populär gemacht“ (Im reypen Koren 2010, S. 58-59 und 698-699;
Bürger 2013, S. 131-142 und 649-650). Die Textveröffentlichung vom
Dezember 1932, die den bäuerlichen Autor übrigens als „Herrn
Ökonom“ vorstellt, wurde ein Bestseller des Arnsberger Heimatbundes
(eine zweite Auflage mit ansprechenden Illustrationen ist 1984 erschie-
nen). Eigens betonte man 1932 in einer Beigabe, Karl Voß spreche „mit
Vorliebe sein geliebtes Sauerländer Platt“. Auf eine Sprachbesonderheit
sei hingewiesen: Im Arnsberger Raum stoßen wir schon nicht mehr auf
die im Niederdeutschen des südlicher gelegenen kurkölnischen Sauer-
lands weithin obligate Unterscheidung von „mir/mich“ bzw. „dir/dich“
(im Text stattdessen: mey/mey; dey/dey). – Folgende „Legenden“ bietet
nun der Herr Ökonom seinem Publikum dar: Das ledige „Butter-
bettken“ stellt sich selbst als „Bauersfrau“ (!) vor und verteidigt das
„Bauerntum“, zieht zu Felde gegen einen jüdischen Viehhändler, der
ihren Esel im Preis zu gering einschätzt, ebenso gegen arbeitsscheue,
streikende und genusssüchtige Städter, gegen modisch gekleidete
Frauen, die lieber ins Kino gehen als ihren Abwasch zu erledigen,
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Elisabeth Becker (1858-1932), genannt „Bueterbettken“,
vor Tillmanns Gässchen am Alten Markt in Arnsberg
(Fotografie von Dr. Hedwig Schwarz: Sauerlandmuseum Arnsberg)
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gegen Emanzipation aus überkommenen Geschlechterrollen, gegen un-
bestimmt bleibende Kriegsgewinnler, Schieber, Drückeberger und Fi-
nanzbeamte. Wirtschaftskrise, Rentnergeschick und der Verlust von
Sparkasseneinlagen ... alles wird mit ziemlich reaktionärem Gepolter
auf den Nenner diffuser Feindbilder gebracht, die nichts erklären und
im Erscheinungsjahr wohl am ehesten den Republikfeinden dienten.
(Tatsächlich hatte auch Elisabeth Becker wie viele kleine Leute ihr
Barvermögen nach 1914 in Kriegsanleihen angelegt – gemäß den patri-
otischen Aufrufen in Politik und kirchlicher Predigt.) Mal „richtig
Platt“ sprechen – z.B. mit einem Beamten – das heißt im Bueterbettken-
Lebensbild: den Herren vom Finanzamt einmal tüchtig die Meinung sa-
gen. – Mit Biographie und sozialem Status der Butterfrau aus Hellefeld
hat diese Mundartdichtung weitaus weniger zu tun als mit den sozialen,
politischen und ideologischen Befindlichkeiten des Verfassers. Heimat-
liche „Originale“ werden gemacht. Entscheidend ist hierbei, wer sich
mit seinen literarischen oder sonstigen Konstruktionen erfolgreich
durchsetzt (Bürger 2013).
III. MÄRKISCHER KREIS UND HAGEN
7. F
RITZ
L
INDE
(1882-1935): Fritz Linde, geboren „zu Sankel
Gemeinde Kierspe“ im Altkreis Altena, musste – trotz seines „heißen
Wunsches weiter zu lernen“ – nach der Konfirmation 1897 „die Schule
mit der Fabrik vertauschen“ – da es in der Familie „an den nötigen
Mitteln“ mangelte (Linde 2016; Im reypen Koren 2010, S. 395-398).
Schon im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erschienen Gedichte
von ihm im ‚Sonntagsblatt‘ des ‚Lüdenscheider Wochenblatts‘. Dem
Plattdeutschen hat sich Fritz Linde jedoch erst nach dem ersten Welt-
krieg zugewandt. In einem um 1930 verfassten autobiographischen
Text schreibt er: „Ich höre Ihre Frage: ‚Wie kommen Sie als Arbeiter
dazu ...?‘ Hören Sie! Ich will nicht hoffen, dass es Ihnen geht wie ein-
em meiner Freunde, der meinte, das Dichten wäre mir angeboren und
ich könnte das alles nur so aus dem Ärmel schütteln. Gewiss, die poe-
tische Ader haben wohl alle ‚Dichter‘ mit auf die Welt gebracht, im
übrigen aber heißt schriftstellern Arbeite [sic], Arbeit wie jede andere
auch: sammeln, Steinchen um Steinchen, um sie dann zusammen zu
setzen zu den Mosaikbildern der Gesichten [Geschichten, Gedichte?],
Skizzen und Novellen. Schriftstellern heißt für mich, Herz und Gemüt