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stellen den Eisheiligen ihre eigenen Männer als Vorbild vor Augen, da
diese ihnen stets willfährig seien (
Fruggens-Bidde an dai Eyshailigen).
– Zu den ernsten Texten gehören die Gedichte „Großvatters Hiär-
west“
4
und „En Wiersaihn beym Engeldesheeren“ über einen Kriegs-
heimkehrer. Eine Spatzenrevolution verrät den „Kleineleute-Standort“
(Luilings-Revellutziaune). Die Jahreszeiten-Texte sind mitnichten ganz
zeitlos. Im Sauerland war der Winter früher eine Zeit der Sorge für die
Ärmeren und ansonsten – unter dem Vorzeichen des Schlachtens – eine
Zeit der besonderen Genüsse und Annehmlichkeiten im häuslichen Be-
reich; mit dem Einzug des Wintersports hat sich das durchgreifend ver-
ändert: „Un et gäffte en Malöhr, / Wann mool gar kain Winter wör“
(Winter im Suerlande). – Auf Beules „Duarp-Schützenfest“ üben die
Schützen nicht zuletzt auch das „Aug’ und Hand für’s Vaterland“ ein.
Gegen den Bolschewismus wird der Kollektivismus der Bienen als
vorbildlich ins Feld geführt; für Müßiggänger ist im Bienenstaat kein
Platz und man ehrt die Obrigkeit (En Musterstaat). Die Heimatparole
des wandererprobten Handwerkers ist offenbar auch lebensgeschicht-
lich geprägt worden: „Ik mochte nirgens bleywen / Op meyner Wander-
fohrt; / De Jomer deh mik dreywen, / Bit ik wier häime kohrt“ (Meyn
Häimatglücke).
4. C
HRISTINE
K
OCH
(1869-1951): In Christine Kochs bäuerlichem
Elternhaus (Hof Wüllner, Herhagen) wurden im 19. Jahrhundert Grim-
mes Mundartbücher gelesen. Als sie ihre zuletzt in Vogelheim bei
Essen-Borbeck ausgeübte Tätigkeit als Lehrerin beendet und mit dem –
später ebenfalls für die „plattdeutsche Sache“ eintretenden – Vetter
Wilhelm Koch im Dorf (Schmallenberg-)Bracht eine Familie gründet,
wachsen die zwischen 1906 und 1912 geborenen vier Kinder bereits
hochdeutsch auf! (Bürger 1993) Auch mit Blick auf diesen bemerkens-
werten Sachverhalt kann wohl niemand behaupten, der „Stand der
sauerländischen Mundart“ sei vor dem ersten Weltkrieg noch stabil ge-
wesen. – Der im Rahmen unserer Esloher Werkausgabe von Manfred
Raffenberg bearbeitete Band mit der Gesammelten Mundartlyrik der
Dichterin ist noch erhältlich (Koch 1992; hochdeutsches Arbeitsbuch:
Bürger 1997). Auch deshalb begnüge ich mich in dieser Veröffentli-
chung mit einer bescheidenen Auswahl aus den Gedichtbänden „Wille
Räusen“ (1924) und „Sunnenried“ (1929), wobei aber der treffliche
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Darin die Strophe: „An diäm willen Rausenbaum, / Dai im Blaumenschmuck hiät
pranget / Mey taur Lust am Feldessaum, – / Schwore Afschäidströnen hanget.“
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Zyklus der Kindergedichte nur unwesentlich gekürzt worden ist.
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– Vor
den „Willen Räusen“ gab es kein eigenständiges Werk in sauerlän-
discher Mundart, das man etwa mit Augustin Wibbelts Lyrikband
„Mäten-Gaitlink“ (1909) hätte vergleichen können (die Bandbreite un-
terschiedlicher „Qualitäten“ in Kochs Gesamtwerk ist allerdings sehr
groß). Die wilden Rosen tauchen als Buchtitel übrigens schon 1911 in
den „Kornblaumen un Hiegenrausen“ des Dortmunders Karl Prümer
auf. – „Der biographisch bedingte Bruch mit der eigenen Muttersprach-
lichkeit, ein weitgehend verborgenes Schreiben (auch als Form der
Existenzbewältigung) und Tuchfühlung mit dem überlieferten plattdeut-
schen Leutegut gehen dem programmatischen Plädoyer für eine ernst-
hafte Mundartdichtung des Sauerlandes (in der Tradition Joseph Papes)
voraus. Chr. Koch hat auf eigenständige Weise für ihren Sprachraum
den längst fälligen Abschied von bloßer Humoreske und ‚Döneken‘
nachvollzogen und dem sauerländischen Platt erstmals [nach Plan]
‚Gedichte von Rang‘ (Siegfried Kessemeier) abgerungen. Augustin
Wibbelt stellt ihr lyrisches Talent 1929 als bedeutsam für die nieder-
deutsche Literatur insgesamt vor. Trotz der romantisch inspirierten
Vorstellung des absichtslosen Liederfindens weisen Beispiele ihrer
Lyrik ein hohes Maß an formaler Kunst auf. Thematisch auffällig ist die
hartnäckige Weigerung, die Zweigesichtigkeit der Welt einseitig zugun-
sten einer heilen Idylle aufzulösen: Naturlyrik, unbeschwertes Dorf-
leben, Kinderparadies, volksliedhaftes Liebeswerben und kraftvolle Le-
benskunst werden kontrastiert durch ein Leiden an Sprachlosigkeit,
Unverstehen und Enge, durch betonte Solidarität mit Außenseitern oder
Heimatlosen“ sowie „ein umfassendes Mitfühlen“ (Im reypen Koren
2010, S. 343; vgl. daunlots nr. 72*). In der breiten plattdeutschen
Schreibkultur der Region hat später gerade auch Kochs Mut, die Bre-
chungen und Abgründe des Lebens zur Sprache zu bringen, Nach-
ahmung gefunden. Die drei Buchtitel der Weimarer Zeit – ein-
schließlich des „Stimmstamm“-Prosabandes (1927) – zeichnen sich
noch nicht durch eine völkische Tendenz aus! Dass die sehr katholische
Dichterin seit Ende der 1920er Jahre und nach 1933 mit der extremen
Rechten kollaboriert und bis zum offenbaren „Kirchenkampf“ auch der
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Zu den vertonten Gedichten vgl. u.a.: Nellius/Koch 1924a, 1924b, 1925, 1932,
1933. – Der ausgesprochene „Liedton“ vieler Texte gehört zu den Besonderheiten
des Werkes.