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Kunst im Konflikt: Strategien zeitgenössischer Kunst
Grundlage von Zeitzeugenaussagen – allerdings
ausschließlich aus Israel – endet mit einem echten
Bild vom Massaker in Sabra und Shatila.
Simon El Habre: The One Man Village (2008)
Der Film zeigt, wie der Onkel des Regisseurs immer
wieder in sein im Libanonkrieg zerstörtes Dorf Aïn
El Halazoun in den Bergen zurückkehrt, um die
Felder zu bestellen. Obwohl der Krieg bereits zwan-
zig Jahre zurückliegt, haben sich die Bewohner in
diesem Zwischenzustand eingerichtet.
Elia Suleiman: Divine Intervention (2001)
In seinem in Cannes 2002 preisgekrönten Film ‚Di-
vine Intervention‛ zeigt Elia Suleiman nicht den
israelisch-palästinensischen Konflikt, jedenfalls nicht
direkt, sondern allenfalls insofern, als die Kontrollen
an den Checkpoints zur alltäglichen Routine eines
Lebens unter der Besatzung gehören. Suleiman zeigt
vielmehr, wie sich der Druck, der auf den Menschen
lastet, in täglichem Kleinkrieg, beschwerlichen Pro-
zeduren, Gewaltfantasien, aber auch poetischen
Gesten und findigen Ausflüchten manifestiert.
Wenn etwa ein roter Ballon mit dem Porträt Yassir
Arafats über dem israelischen Grenzposten auf-
steigt, steht dieser nicht, wie manche Kritiker vorei-
lig annahmen, für eine einseitige Parteinahme zu-
gunsten der Palästinenser: Es handelt sich lediglich
um eine Finte, um die Grenzsoldaten abzulenken
und den Posten ungestört passieren zu können,
damit der Protagonist, gespielt von Suleiman selbst,
eine Nacht mit seiner Geliebten verbringen kann.
Rashid Masharawi: Live from Palestine (2002)
Am Anfang des Dokumentarfilms über die palästi-
nensische Radiostation „Voice of Palestine‚ sagen
die Redakteure, wir müssen aufpassen, kein provo-
zierendes Vokabular zu verwenden. Am Ende legt
ein israelischer Luftangriff die Radiostation in
Trümmer. Was ein Dokument des Versuchs hätte
werden sollen, eine eigene Stimme zu finden, wird
unfreiwillig zu einem Zeugnis des Scheiterns.
→ Nahostkonflikt: Fareed Armaly, From/To
Azza El-Hassan: Kings & Extras (2004)
Bereits um 1980 gab es ein Archiv palästinensischer
dokumentarischer Filmaufnahmen: Seit den späten
1960er Jahren versuchte die PLO auf diese Weise,
das Gedächtnis an die eigene Geschichte zu wahren.
Der Film dokumentiert Azza El-Hassans Versuch,
dieses im Zuge der israelischen Libanoninvasion
1992 verschwundene Archiv wiederzufinden.
Eyal Sivan, Michel Khleifi: Route 181 (2003)
In der ersten Koproduktion eines israelischen und
eines palästinensischen Regisseurs reisen beide ent-
lang der Grenze, nach der das Land laut UN-
Resolution 181 vom 29. November 1947 hätte geteilt
werden sollen. Schon die „grüne Linie‚ des Waffen-
stillstandsabkommens von 1949 verschob die Gren-
ze deutlich zugunsten Israels. Besatzung und Mau-
erbau haben später von dem den Palästinensern
zugedachten Teil des Landes nur noch einen Fli-
ckenteppich übrig gelassen.
Eyal Sivan: Jaffa - The Orange’s Clockwork (2009)
In seinem jüngsten Film dokumentiert Sivan anhand
von Archivmaterialien und Aussagen von Zeitzeu-
gen die Rolle der Jaffa-Orange – benannt nach der
einst wichtigsten palästinensischen Stadt – in der
frühen israelisch-zionistischen Propaganda.
Konfliktlagen, Ruanda: Eyal Sivan, Alex Cordresse,
Itsembatsemba, Rwanda
Juliano Mer-Khamis: Arna’s Children (2004)
Der 2004 entstandene Film des bis dahin in Israel
erfolgreichen Schauspielers Juliano Mer-Khamis
zeigt kurz vor ihrem Tod dessen Mutter, die alterna-
tive Nobelpreisträgerin Arna Mer-Khamis, die im
Flüchtlingslager von Jenin ein Kinder- und Jugend-
theater aufgebaut hat. Nach ihrem Tod verlässt der
Sohn das Camp, kommt aber während der zweiten
Intifada zurück und filmt, wie ehemalige Kinder-
Schauspieler mit leichten Handfeuerwaffen aus den
Ruinen des zerstörten Theaters den Panzern, die
durch die Stadt rollen, Widerstand entgegenzuset-
zen versuchen. Einer der Jugendlichen wird zum
Selbstmordattentäter. Der Film zeigt warum.
→ Theater: Freedom Theatre
Chantal Akerman: Là-bas (2006)
Auf Drängen ihres Produzenten entschließt sich
Chantal
Akerman,
Tochter
von
Holocaust-
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Kunst im Konflikt: Strategien zeitgenössischer Kunst
Überlebenden, die 2001 mit einem Film über die
mexikanisch-US-amerikanische Grenze an der
Documenta 11 beteiligt war, in Tel Aviv einen Film
zu drehen. Aber sie zeigt fast ausschließlich den
Blick durch Bambusrollos aus dem Fenster einer
Wohnung. Der Film dokumentiert die Vergeblich-
keit des Versuchs, zwischen der Geschichte ihrer
jüdischen Familie und der Aktualität in Israel eine
Verbindung herzustellen.
Leon Geller, Marcus Vetter: Das Herz von Jenin
(2008)
Die rührselige, aber wahre Geschichte von Ismail
Khatib, der die Organe seines von israelischen Sol-
daten erschossenen elfjährigen Sohns Ahmed an
israelische Kinder spendet, verdient hier vor allem
deswegen Erwähnung, weil er nach Spenden der
italienischen Stadt Cuneo und Filmworkshops von
Vetter in Jenin schließlich ermöglicht hat, das alte
Kino im Herzen der Stadt wieder zu eröffnen.
Bosnien / Kosovo
Heddy Honigmann: Crazy (1999)
„War, however short, never ends‛, sagt der Leiter
des Center for Documentary Studies der Duke Universi-
ty in Durham, North Carolina, anlässlich der Verlei-
hung des Filmmaker Award an Heddy Honigman für
ihren Film „Crazy‚. „Crazy‚ behandelt die Erinne-
rungen niederländischer UN-Blauhelmsoldaten an
ihre Einsätze im Koreakrieg, in Kambodscha, Soma-
lia, Bosnien und im Kosovo. Zugang zu ihnen findet
die Regisseurin über Musik, die egal, wie weit die
Erlebnisse zurückliegen, diese auf bedrückende
Weise unausweichlich wieder präsent macht.
Danis Tanović: No Man’s Land (2001)
Mit einer guten Portion sarkastischen Humors schil-
dert Tanović in seinem vielfach ausgezeichneten
Erstlingsfilm, wie zwei Soldaten der gegnerischen
Lager zwischen die Fronten geraten und die UN-
Friedenstruppen alles nur noch schlimmer machen.
Nihad Kresevljakovic: Do you remember Sarajevo?
(2002)
Der Film ist aus originalen Videoaufnahmen zu-
sammengeschnitten, die Bewohner während der
langen Zeit der Belagerung und dem Beschuss der
Stadt 1992 - 1995 angefertigt hatten.
Srdan Keca: After the War (2006)
„After the War‚ ist ein Dokumentarfilm über die
kleine Gruppe muslimischer Serben im äußersten
Süden des Kosovo. Nach dem Krieg, in dem sie sich
zumeist aus taktischen Gründen auf die Seite der
Serben stellten, finden sie sich isoliert zwischen den
Albanern des Kosovo, Albaniens und Mazedoniens
wieder.
Jasmila Žbanić: Esmas Geheimnis – Grbavica (2006)
„Esmas Gehemnis‚ zeigt die gleichnamige Protago-
nistin mit ihrer zwölfjährigen Tochter Sara, die eine
Klassenfahrt machen soll. Esma könnte Ermäßigung
beantragen, weil ihr Mann im Bosnienkrieg gefallen
ist, will aber nicht: Wie sich herausstellt, ist sie im
Krieg vergewaltigt worden: Dabei wurde Sara ge-
zeugt.
Anne Thoma: Painful Peace (Mein Krieg im
Frieden, 2008)
Der Film beobachtet drei Jugendliche im Kosovo,
acht Jahre nach dem Krieg. Ihre Versuche, mit der
Realität zurechtzukommen, stehen in seltsamem
Kontrast zu den Aussagen von Politikern, die
Thoma hin und wieder einstreut.
Clarissa Thieme: Was bleibt? (2009)
„Was bleibt?‚ besteht aus langen, statischen Einstel-
lungen auf Orte in Bosnien-Herzegowina, an denen
Kriegsverbrechen geschahen. Der halbstündige Film
gibt keine Antwort auf die Fragen, die sich dabei
stellen.
Nord-Süd-Konflikt
Raphaël Cuomo, Maria Iorio: Sudeuropa (2005-07)
„Sudeuropa‚ entstand auf Lampedusa und handelt
von Sichtbarkeit und der Produktion von Bildern für
europäische Medien. Ausgehend von dieser Arbeit
entstand eine Trilogie von Filmen über südeuropä-
isch-nordafrikanische Wechselwirkungen in Zu-
sammenarbeit mit Adbelhamid Boussofara.
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