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vertreiben können. Wir hätten uns viell-
eicht sogar in einen erbitterten und gif-
tigen Streit eingelassen. Das wäre nor-
mal gewesen. Durch die Ruhe und die
Schönheit der Gegend antwortete ich nur
zögernd, und durch mein Zögern starb
mein Ärger vollends ab. „Ich dachte mir
gleich, dass es Privatbesitz sein muss“,
sagte ich. „Ich wollte mich gerade nach
jemandem umsehen, den ich um Erlaub-
nis bitten und dem ich vielleicht eine klei-
ne Gebühr bezahlen kann.“
„Der Eigentümer will nicht, dass man hier
campiert. Die Leute lassen Papier liegen
und zünden Feuer an.“
„Ich kann‘s ihm nicht verdenken. Ich
weiß, was sie für eine Schweinerei hin-
terlassen.“
„Haben Sie das Schild an dem Baum
dort gesehen? Betreten, jagen, angeln,
campieren verboten.“
„Allerdings“, sagte ich, „das klingt ernst.
Wenn Sie mich hinauswerfen müssen,
dann kann man eben nichts machen. Ich
gehe friedlich. Aber ich habe gerade eine
Kanne Kaffee gemacht. Glauben Sie, Ihr
Boß hätte etwas dagegen, wenn ich ihn
vorher trinke? Und hätte er was dage-
gen, wenn ich Ihnen eine Tasse an-
biete? Danach könnten sie mich um so
rascher fortjagen.“
Der junge Mann grinste: “Zum Teufel!
Sie machen ja kein Feuer und lassen
keinen Abfall liegen.“
„Ich tue etwas viel Schlimmeres. Ich will
Sie mit einer Tasse Kaffee ködern. Und
nicht nur das, ich schlage sogar vor,
dass wir einen Tropfen "Old Granddad"
hineintun.“
Jetzt lachte er: „Lassen Sie mich zuerst
den Jeep von der Straße wegfahren.“
Das ganze übliche Schema geriet durch-
einander. Er saß im Schneidersitz auf
dem mit Kiefernnadeln bedeckten Boden
und trank seinen Kaffee. Charley
schnüffelte sich näher und ließ sich so-
gar anfassen, und das kommt bei
Charley selten vor. Er lässt sich von
Fremden sonst nicht anrühren, er ist
dann gar nicht in Reichweite. Aber die
Finger des jungen Mannes fanden genau
die Stelle hinter Charleys Ohren, wo er
so gern gekrault wird, und er seufzte zu-
frieden und setzte sich.
„Was tun Sie - gehen Sie jagen? Ich
habe die Gewehre in Ihrem Wagen ge-
sehen.“
„Ich bin nur auf der Durchreise. Wissen
Sie, wenn man eine Stelle sieht, die
einem gefällt, und man hat gerade die
richtige Müdigkeit in den Knochen, dann
kann man einfach nicht anders als
anhalten.“
„Ja, ich weiß, was Sie meinen. Einen
netten Wagen habe Sie.“ „Mir gefällt er,
und Charley gefällt er auch.“ „Charley?
Ich habe noch nie von einem Hund
gehört, der Charley heißt. Sehr ange-
nehm, Charley.“ „Ich möchte nicht, daß
Sie mit Ihrem Chef Scherereien bekom-
men. Glauben Sie, ich sollte jetzt ver-
duften?“ „Wozu denn? Er ist gar nicht
da. Ich vertrete ihn. Sie stellen ja nichts
an.“ „Ich bin unbefugt hier eingedrun-
gen.“ „Neulich hat einer hier campiert, der
war irgendwie hier oben nicht ganz
richtig. Als ich herkam und ihn fortjagen
wollte, sagte er etwas Komisches. Er
sagte: „Unbefugtes Betreten ist kein
Verbrechen. Ich bin kein Delinquent.“ Er
hat behauptet, das sei nur eine Über-
tretung. Können Sie mir sagen, was er
damit gemeint hat? Er war sicher nicht
ganz richtig.“ „keine Ahnung“, sagte ich.
„Ich bin ja hier oben richtig. Geben Sie
Ihre Tasse her, ich wärme den Kaffee
noch einmal auf.“ Ich wärmte ihn auf
zweierlei Weise auf. „Sie machen feinen
Kaffee“, sagte mein Gastgeber. „Bevor
es dunkel wird, muss ich einen Parkplatz
finden. Wissen sie irgendwo an der
Straße eine Stelle, wo man mich über
Nacht bleiben lässt?“ „Wenn Sie dort
drüben hinter die Kiefern fahren, sieht
Sie von der Straße aus kein Mensch.“
„Aber
dann lasse
ich
mir eine
Übertretung zu Schulden kommen.“ „Ja.
Wenn ich nur wüsste, was das heißt.“
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Er fuhr im Jeep voraus und half mir im
Kieferngehölz eine ebene Stelle suchen.
Als es dunkel war, besuchte er mich, be-
wunderte Rosinantes Inneres, und wir
tranken zusammen ein paar Glas Whis-
key und erzählten uns ein paar Lügen.
Es war ein netter Besuch. Ich zeigte ihm
künstliche Köder, die ich bei Abercrombie
und Fitch gekauft hatte, und schenkte
ihm einen, dazu gab ich ihm ein paar
ausgelesene Krimis, alle voller Sex und
Sadismus, und ein Exemplar der Zeit-
schrift „Field and Stream“. Dafür lud er
mich ein, so lange zu bleiben, wie ich
wollte, und sagte, er käme am nächsten
Tag herüber, damit wir zusammen ein
wenig angelten.
Ich nahm die Einladung für mindestens
einen Tag an. Es ist nett, wenn man
Freunde hat. Ausserdem wollte ich über
alles nachdenken, was ich gesehen
hatte, die riesigen Fabriksanlagen, das
Hasten und Treiben. Der Wächter des
Sees war ein einsamer Mann und um so
einsamer, weil er eine Frau hatte. Er
zeigte mir ihr Foto hinter Plastik in seiner
Brieftasche, eine recht hübsche blonde
Frau, die nach Kräften versuchte, den
Bildern der Illustrierten zu gleichen, ein
Mädchen der kosmetischen Produkte, der
Dauerwellen, Haarshampoos, Mund-
wasser, Hautpflegemittel. Sie hasste es,
draußen in der Provinz zu sein, und
sehnte sich nach dem mondänen und
herrlichen Leben in Toledo oder South
Bend. Ihr einziger Kontakt mit der Welt
waren Hochglanzseiten der Zeitschriften
„Charme“ und „Glamour“. Eines Tages
würde sie sich ihren Willen erschmollen.
Ihr Mann würde eine Stelle in irgend-
einem großen, lärmenden Organismus
des Fortschrittes finden, und fortan wür-
den sie glücklich leben bis an das Ende
ihrer Tage. Dies alles entnahm ich
kleinen indirekten Aufwallungen wäh-
rend seines Gespräches. Sie wusste
genau, was sie wollte, und er wusste es
nicht; aber was er wollte, würde ihm sein
ganzes Lebens lang weh tun.
Nachdem er mit seinem Jeep weg-
gefahren war, lebte ich für ihn sein Le-
ben, und es hüllte mich in einen Nebel
der Verzweiflung ein. Er wollte seine
hübsche kleine Frau haben, und er
wollte noch etwas anderes und konnte
beides nicht bekommen.
Charley hatte einen so lebhaften Traum,
daß er mich aufweckte. Seine Beine
zuckten, als laufe er, und er stieß kleine,
juchzende Schrei aus. Vielleicht träumte
er, er jage ein gigantisches Kaninchen
und könne es nicht ganz erreichen.
Vielleicht wurde auch er selbst in seinem
Traum gejagt. Auf Grund der zweiten
Annahme streckte ich die Hand aus und
weckte ihn, aber der Traum muss sehr
heftig gewesen sein.
Er brummte vor sich hin und beklagte
sich und trank eine halbe Schale
Wasser, ehe er wieder einschlief.
Der Wächter kam bald nach Sonnen-
aufgang wieder. Er brachte eine Angel-
rute mit, und ich nahm meine eigene von
der Wand und montierte eine Spinnrolle
an. Dann musste ich meine Brille suchen,
um den grell angemalten Köder anzu-
bringen. Die Nylonschnur ist durch-
sichtig, sie soll für die Fische unsichtbar
sein; jedenfalls ist sie für mich gänzlich
unsichtbar, wenn ich keine Brille habe.
„Aber ich habe keinen Angelschein“,
sagte ich.
„Egal, wahrscheinlich fangen wir doch
nichts.“
Er hatte recht, wir fingen nichts.