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die Zeitgenossen sich – im wahrsten Sinn des Wortes – ein Bild
von der neuen Grenzsituation
machen wollten, ist leicht vorstellbar und erklärt das Vorhandensein der Karte in der Sammlung.
Bei der Karte mit der Signatur 108.9-115 handelt es sich um eine Karte, die nicht mit den
aktuellen politischen Ereignissen in Verbindung gebracht werden kann. Die Karte ist eine
Umgebungskarte von Wien, die das Gebiet von St. Pölten bis zum Neusiedler See zeigt und vom
Verlag als „topographische Karte“ bezeichnet wurde. Auf dieser Karte sind die einzelnen
Landschafts- und Vegetationsformen der Wiener Umgebung eingezeichnet.
338
Der
Besitz dieser
Karte im Schottenstift lässt sich mit der lokalen Nähe des abgebildeten Gebietes und dem großen
Interesse am Wesen der eigenen Region erklären.
339
4.1.4.3 Kunst- und Industrie-Comptoir
340
Das Kunst- und Industrie-Comptoir wurde 1801 von dem Kupferstecher Joseph Anton Kapeller
und dem Juristen Jakob Holler gegründet, die beide ursprünglich aus Tirol stammten.
341
Als
Kapeller schon ein Jahr später wegen einer Erkrankung aus dem Unternehmen ausschied, folgte
ihm der Wiener Autor Joseph Schreyvogel nach. Er führte den Verlag alleine weiter, nachdem
1805 auch Holler aus dem Geschäft ausgestiegen war.
342
Die Karten des Kunst- und Industrie-Comptoirs besaßen aufgrund
ihrer hohen inhaltlichen
Qualität einen guten internationalen Ruf, da bedeutende Kartographen bei diesem Unternehmen
engagiert wurden, wie Joseph Karl Kindermann, von dem die beiden in Sammelatlas 1 mit der
Signatur 99.a.1 enthaltenen Karten stammen. Kindermann trat 1801 ins Unternehmen ein, um an
einem Österreich-Atlas zu arbeiten. Er starb allerdings noch im selben Jahr an einer schweren
Krankheit, nachdem er acht Kartenblätter fertiggestellt hatte.
Kindermann war um die
Jahrhundertwende einer der bedeutendsten Wissenschaftler der Monarchie, weswegen seine
Biographie hier kurz angeschnitten werden soll.
1744 wurde Joseph Karl Kindermann in der Nähe von Budapest geboren. Nach Wien kam er, um
Medizin zu studieren. Er widmete sich jedoch bald der Mathematik und Physik. 1768 zog er in
338
Dörflinger, 19.
Jahrhundert, 432 Kat. Mol 11.
339
Das Prinzip der Nähe ist auch heute noch ein Erfolgsfaktor, wenn man zum Beispiel an die regionalen Chronik-
Teile bzw. Beilagen bei diversen Tageszeitungen denkt, die wesentlich zur Leserbindung beitragen.
340
Schottenstift, 99.a.1.-28, Joseph Karl Kindermann, Charte von Oesterreich unter der Enns (Wien 1803).
Schottenstift, 99.a.1.-29, Joseph Karl Kindermann, Charte von Oesterreich ob der Enns (Wien 1802).
Dörflinger, 19. Jahrhundert, 522 Kat. KIC 1/9f.
341
Dörflinger, Landkarten und Atlanten, 66.
Dörflinger, 19. Jahrhundert, 508.
Ritter, Konkurrenten, 192.
342
Dörflinger, 19. Jahrhundert, 508-510.
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die Niederlande, wo er für die Niederländische Ostindien-Kompanie arbeitete und nach Südafrika
reiste, wo er mehrere Jahre eine Stelle als Sekretär des Gouverneurs
innehatte und seinen
Forschertrieb ausleben konnte. 1774 kehrte er zu seiner Familie zurück, die mittlerweile in der
Steiermark lebte. Neben der Geographie war Kindermann auch an der Aufklärung der einfachen
Bevölkerung interessiert, was sich in seiner Tätigkeit als Redakteur der „Grätzer Zeitung“ in den
Jahren 1787 bis 1800 zeigte. Seine bekannteste kartographische Leistung liegt im zwölfblättrigen
Atlas „Die Provinz Innerösterreich“ aus den Jahren 1789 bis 1797.
343
1801 zog er nach Wien, wo
er, wie schon erwähnt, für das Kunst- und Industrie-Comptoir einen Atlas
von Österreich fertigen
sollte, den er durch seinen Tod im selben Jahr nicht fertigstellen konnte.
344
Weitere
hervorragende Kartographen, die ihre Karten beim Kunst- und Industrie-Comptoir verlegten,
waren Joseph Marx von Liechtenstern, Maximilian de Traux und Joseph Riedl.
345
Neben
Landkarten verlegte das Kunst- und Industrie-Comptoir genau wie Artaria und Compagnie und
Tranquillo Mollo auch Musikalien und Kunstdrucke.
346
343
Die Karten der Provinz Innerösterreich von Kindermann werden in einer Anzeige der „Wiener Zeitung“ vom 15.
07. 1798 ausführlich beworben und waren in Wien unter anderem bei Franz Xaver Miller erhältlich.
344
Johannes
Dörflinger, Kindermannm Joseph Karl. In: NDB, Bd. 11 (Berlin 1977).
Dörflinger, 18. Jahrhundert,
110-114.
Dörflinger, 19. Jahrhundert, 514f.
345
Dörflinger, 19. Jahrhundert, 511.
346
Dörflinger, 19. Jahrhundert, 510f.
76
5. Aufnahme der Atlanten
5.1 Bestandteile von Karten
Landkarten aus dem 18. und dem 19. Jahrhundert besitzen einige charakteristische Elemente. Zu
den inhaltlichen Elementen
gehören Titelkartuschen, die im Barock sehr üppig ausfielen und
unter dem Einfluss des Klassizismus schlichter wurden
347
, sowie Maßstabsleisten, anhand derer
zeitgenössische Betrachter die Größenverhältnisse der Karte abschätzen konnten.
Die barocken Titelkartuschen enthielten meistens allegorische Darstellungen, Wappen,
Herrscherportraits oder andere dekorative Elemente, die dazu dienen,
das dargestellte Gebiet zu
charakterisieren. Zu diesen repräsentativen Darstellungen des Gebietes zählen zum Beispiel
Personifikationen von wichtigen Flüssen oder Bilder typischer lokaler Wirtschaftszweige. In
diesem üppigen Stil sind vor allem die Kartuschen der süddeutschen Verlage gehalten.
348
Auch
die Maßstabsleisten konnten bei barocken Karten in eine üppige Kartusche eingefasst werden, die
jedoch selten figürliche Darstellungen enthielt.
349
Ein formales Element einer Kupferstichkarte ist die sog.
Repunze (platemark) der Kupferplatte,
die auf dem Papier sichtbar ist. Die Kupferplatte war natürlich etwas größer als das eingravierte
Bild, damit die Karte bei einer Abnützung der Plattenränder nicht beschädigt wurde. Da das
Kartenbild mit einem enormen Druck auf das angefeuchtete Papier übertragen wurde,
hinterließen die Plattenränder eine
Repunze am Papier. Dieses Kennzeichen
von Kupferstichen
dient dazu, die Herstellungstechnik der Karte mit Sicherheit als
Kupferstich oder
Radierung zu
identifizieren und lässt schlecht gemachte Fälschungen schnell auffliegen (Abb. 7).
350
347
Siehe Abb. 13f.
348
Manasek, Maps, 20 Abb. 2.6-2.9.
Heinz, „allerneueste Landkarten“, 127.
349
Manasek, Maps, 22f Abb. 2.10.
350
Manasek, Maps, 18.