Rudolf steiner



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DIE AUFSTELLUNG VON NATURFORSCHER-BÜSTEN


AUF DER POTSDAMER BRÜCKE

In Berlin ärgern sich die Lokalpatrioten. Die Stadtväter haben


beschlossen, auf der neuerrichteten Potsdamer Brücke Denkmäler
von vier Naturforschern aufzustellen. Gauß, Werner Siemens,
Helmholtz und Röntgen sollen wir in Zukunft erblicken, wenn
wir nicht mehr nötig haben werden, uns durch das wüste Gerolle
und Geschütt, das gegenwärtig die Potsdamer Straße in zwei Teile
teilt, durchzuarbeiten. Nun steht es zwar fest, daß unser Zeitalter
das der Naturwissenschaften und der technischen Fortschritte ist,
aber einige Menschen möchten doch, daß das spezifische Berliner-
tum betont werden solle, wenn eine Brücke — doch wohl mit
Hilfe der modernen Technik und nicht mit dem spezifischen
Berlinertum — gebaut wird. Solche Menschen schimpfen jetzt über
die Stadtväter, die dem Geiste der Naturwissenschaft huldigen
und Gauß, den Braunschweiger, Siemens, den Hannoveraner,
Helmholtz, den Brandenburger, und Röntgen, den Rheinländer,
auf der Potsdamer Brücke aufstellen. Kein einziger Urberliner
darunter, sagen die Leute. Röntgen komme nur deshalb hin, weil
er bei Hof beliebt ist. Nun, ich wünschte, daß man nur Menschen
Anerkennung brächte, die es ebenso verdienen, bei Hofe beliebt
zu sein wie Röntgen. Wenn man mit dem Beschluß, den genialen
Entdecker der Röntgenstrahlen auf die Potsdamer Brücke hinzu-
stellen, dem Hofe einen Dienst hat erweisen wollen, so möchte
ich nur, daß man durch die Untertänigkeit dem Bedürfnisse der
Zeit immer so entgegenkäme wie in diesem Falle.

KÜNSTLERBILDUNG

Vor einigen Tagen hatte ich einen Traum. Ich träumte von einem
Leitartikel der «Zukunft». Ich las ganz deutlich in einer Aus-
einandersetzung, die über die Berechtigung des Bundes der Land-
wirte, über Stirner, Nietzsche und das monarchische Gefühl han-
delte, einen Satz über Kant. Ich traute meinen Augen nicht, aber

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in diesem Satze stand wörtlich: «die Kategorie des Imperativs».
Ich war — im Traume — sehr verwundert, denn solche Blößen
gibt sich doch Maximilian Harden nicht. Er hat zwar einmal
einen Satz in einem Leitartikel der «Zukunft» geschrieben, in
dem er zeigte, daß er von Kants «Kategorischem Imperativ»
keinen rechten Begriff hat; aber daß er gar «Die Kategorie des
Imperativs» schreibt statt «Der kategorische Imperativ»: das ver-
setzte mich - selbst im Traume — in Verwunderung. Ich wachte
auf, rieb mir die Augen und sagte mir: o du Träumer, das kam
wieder von solch einem Ärger über die Schriftstellerei. Du ärgerst
dich so furchtbar über den vielen Unsinn, der dir täglich durch
die «Ritter der Feder» vor Augen tritt, daß dich der Ärger im
Schlafe verfolgt. Aber meine Träume übertreiben. Es ist nicht
wahr, daß jemals in einem Leitartikel der «Zukunft» «Die Kate-
gorie des Imperativs» zu lesen war.

Sie werden wohl recht haben, meine Träume. Denn Alfred,


mein Kerr, hat mir einmal gesagt: ich wolle nicht so recht ins
Zeug gehen und nach Herzenslust schimpfen. Der verbissene
Groll wird es wohl sein, der mich im Schlafe als Alpdrücken
verfolgt.

Ich kleidete mich an, trank Kaffee, und dann mußte ich mir


aus einem Geschäfte der Potsdamer Straße etwas holen. Ich sah
zum ersten Male die beiden plastischen «Kunstwerke», die auf der
Potsdamer Brücke aufgestellt sind. Ein biederer, jovialer Mann
sitzt da, mit milden Zügen. Ich könnte ihn für einen braven
Werkmeister einer Fabrik halten, in der Kabeltaue und elektrische
Apparate hergestellt werden. Es soll Werner Siemens, der größte
Elektrotechniker, sein. Da ich nicht ausgegangen war, die Ge-
heimnisse der plastischen Kunst zu studieren, so ging ich vorüber,
nicht sonderlich unbefriedigt, sie nicht gefunden zu haben.
C. Moser hat das Denkmal gemacht.

Ich gelangte ans andere Ende der Brücke. Da sitzt ein anderer


Mann. Ein Schulmeister, der eben nachdenkt, wie er den Kindern
das ABC beibringen soll. Doch nein — es soll Hermann Helm-
holtz sein. Ich habe immer geglaubt: der plastische Künstler soll
mit den äußeren Zügen eines Mannes auch dessen Bedeutung der

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Nachwelt überliefern. Und bei Helmholtz scheint mir das so gar
schwierig nicht zu sein. Wer sich in seine Schriften vertieft, wird
eine scharf umrissene Vorstellung von der Persönlichkeit dieses
Mannes erhalten. Und wer diese Vorstellung vergleicht mit den
Zügen seines Gesichtes, wird den Einklang der körperlichen und
der geistigen Physiognomie erkennen, die bei ihm so auffällig
war. Und Helmholtz hat ja auch Lebenserinnerungen geschrieben.
Wer ihn je gesehen hat, muß bei jeder Zeile an die äußere Er-
scheinung des Forschers denken. Der Mann, der, von Max Klein
gebildet, das eine Ende der Potsdamer Brücke zieren soll, erinnert
in keinem Zuge an den Schreiber dieser Erinnerungen.

Aber noch mehr. Hermann Helmholtz ist wie wenige Forscher


Typus innerhalb einer gewissen naturwissenschaftlichen Richtung
der Gegenwart. Er ist nicht ein Genie wie sein großer Lehrer
Johannes Müller. Er hat zu den Entdeckungen und Erfindungen,
die sich an seinen Namen knüpfen, nicht den ersten Anstoß ge-
geben. Wer mir das nicht glauben will, der lese darüber in den
erwähnten Erinnerungen. Er hat mit großem Scharfblick und
durch unermüdliche Arbeit die Konsequenzen aus den Leistungen
seiner Vorgänger gezogen. Aus vielem möchte ich die Erfindung
des Augenspiegels herausheben. Als Helmholtz an die Unter-
suchungen ging, die ihn zu dieser Erfindung führten, waren die
von den Vorgängern geleisteten Arbeiten so weit gediehen, daß
es nur einer Kleinigkeit bedurfte, um das wichtige Instrument zu
konstruieren, eines letzten Schrittes auf einem Wege, der genau
vorgezeichnet war. Und ebenso war es auf den anderen Gebieten,
auf denen Helmholtz arbeitete. Er lebte in einer Zeit, die reif war
zu ganz bestimmten naturwissenschaftlichen Entdeckungen, weil
die Vorarbeiten zu ihnen in überreicher Fülle da waren. Diese
Zeit forderte exakte wissenschaftliche Arbeiter, die durch scharf-
sinnig konstruierte Werkzeuge, durch sorgfältige Laboratoriums-
arbeit, durch unermüdliches Experimentieren die wissenschaft-
lichen Ideen einer vorangegangenen Zeit im einzelnen durchführ-
ten. Johannes Müller, Purkinje und andere haben in der ersten
Hälfte des Jahrhunderts leitende Ideen angegeben; Helmholtz,
Brücke, Ludwig, Du Bois-Reymond sind von den übernommenen

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Gesichtspunkten aus zu epochemachenden Einzelentdeckungen ge-
kommen. Der Scharfblick für die Einzelheiten des Naturwirkens,
für experimentelle Forschung, für unermüdliche Beobachtung sind
die Eigenheiten des Typus eines Naturforschers, den Helmholtz
darstellt. Will man sich diesen Typus an seinem Gegensatz klar-
machen, so braucht man sich nur an Ernst Haeckel zu erinnern.
Dieser ist ganz anders als die zu der genannten Gruppe Gehö-
rigen. Auch er hat die Konsequenzen eines großen Vorgängers
gezogen. Aber er ist nicht nur im einzelnen über Charles Darwin
hinausgegangen. Er hat ein Gebäude aufgeführt, zu dem sein Vor-
gänger den Unterbau geliefert hat; Helmholtz und die anderen
Genannten haben die Einrichtungsstücke zu einem fertigen, aber
allerdings im Innern noch leeren Gebäude geliefert. Diese typische
Bedeutung Helmholtzens müßte die bildliche Darstellung seiner
Gestalt veranschaulichen.

Aber dazu hätte allerdings der Künstler, dem eine solche Auf-


gabe zugefallen ist, die wissenschaftliche Eigenart und Bedeutung
Helmholtzens aus seinen Werken studieren müssen. Ich bin so
naiv zu glauben, daß dies jeder Künstler tut, bevor er einen Mann
im Bilde darstellt. Das Helmholtz-Denkmal auf der Berliner Pots-
damer Brücke hat mich allerdings vom Gegenteile überzeugt.

Da lagen zu Füßen des Forschers Bücher, obenauf ein Buch,


auf dessen Rücken stand - o Physiker, wendet rasch das Auge
weg, bevor es zu sehr beleidigt wird —: «Die Physiologie der
Optik.» Der bildende Künstler ist also nicht einmal bis zum Titel-
blatte - ja nicht einmal bis zum Rücken eines gebundenen Exem-
plars — von Helmholtzens «Physiologischer Optik» vorgedrungen.

Was mir mein Traum von einem Schriftsteller nur vorgegau-


kelt hat: ein bildender Künstler hat es in Wirklichkeit umgesetzt.
Denn statt «Physiologische Optik» zu sagen «Die Physiologie der
Optik» ist gerade so, als wenn man statt «Kategorischer Impera-
tiv» sagte «Die Kategorie des Imperativs». Aber so etwas macht
nicht einmal ein Leitartikler. Wir Schriftsteller sind doch bessere
Menschen.

Aber «Die Physiologie der Optik» ist nicht das einzige, was


laut schreiend die «Bildung» eines bildenden Künstlers charak-

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terisiert. Unter dieser «Physiologie der Optik» liegt noch ein
anderes Buch. Dieses ist etwa vier Zentimeter dick. Auf seinem
Rücken steht: «Die Erhaltung der Kraft.» Nun hat Helmholtz über
diesen die moderne Physik beherrschenden Begriff eine nur
wenige Seiten starke Abhandlung geschrieben. Herr Max Klein
hat zwar die vorhandenen Werke Helmholtzens keines Blickes
gewürdigt, er hat aber dafür im Geiste ein nicht vorhandenes
gesehen.

Die Gelehrten der Berliner Zeitungen haben die Sünde wider


den Geist jeglicher Bildung gerügt; und deshalb ist der — eine der
Fehler gutgemacht worden. Ich weiß nicht, ob die Worte, die ein
paar Tage hindurch zum Ärger vorübergehender gebildeter Leute
am Helmholtz-Denkmal zu lesen waren, um die Schande zu ver-
bergen, bei nachtschlafender Zeit in die richtige Lesart verwandelt
worden sind. Heute lesen wir allerdings das korrigierte: «Die
physiologische Optik.» Dagegen wird sich ein wohlwollender
Korrektor wegen des zweiten «Versehens» schon noch einmal be-
mühen müssen. Dünner wird ja dieses zweite Buch nicht zu ma-
chen sein; aber man kann doch einen besseren Zeitungsleser fra-
gen, und der wird raten, auf dieses Werk zu setzen: «Tonempfin-
dungen», denn daß Helmholtz eine «Lehre von den Tonempfin-
dungen» geschrieben hat, weiß eben ein besserer Zeitungsleser.

Wer mich einen kleinlichen Nörgler nennt, weil ich dies


schreibe, dem entgegne ich: Es ist mir im Grunde ganz einerlei,
was auf den Denkmälern der Potsdamer Brücke steht, aber mir
erscheint die Sache wie ein betrübendes Symptom. Wie muß es
mit der «Bildung» bildender Künstler beschaffen sein, denen
solche «Versehen» passieren? Und welches Bild kann ein Künst-
ler der Nachwelt von einem Manne überliefern, den er so kennt,
wie der Schöpfer des Helmholtz-Denkmals dessen Schriften?

Man höre ihnen nur einmal zu, den bildenden Künstlern, wenn


sie sich über die Auslassungen, die Schriftsteller über ihre Werke
machen, belustigen. Und man tröste sich, wenn man Schriftsteller
ist und über die Potsdamer Brücke in Berlin geht, damit, daß
wohl kaum ein «Schreibender» über einen «Bildenden» einen ähn-
lichen Unsinn schreiben wird, wie ein «Bildender» hier über

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einen «Schreibenden» gebildet hat. Ja, ja, wir Schreibenden sind
doch bessere Menschen, und keinem von uns kann es passieren,
daß er bei noch so gründlicher Unkenntnis von Kants philoso-
phischen Anschauungen statt «Kategorischer Imperativ» schreibt
«Die Kategorie des Imperativs». So etwas kann uns nur ein böser,
boshafter Traum vorgaukeln.

DIE SIEBZIGSTE VERSAMMLUNG


DEUTSCHER NATURFORSCHER UND ÄRZTE

Die siebzigste Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte


wird in der Zeit vom 19. bis 24. September in Düsseldorf statt-
finden. Die Themen der angekündigten Vorträge sind vielverspre-
chend. Es werden sprechen: Professor Dr. Klein (Göttingen) über:
«Universität und technische Hochschule», Professor Dr. Tillmanns
(Leipzig) über: «Hundert Jahre Chirurgie», Professor Dr. Martius
(Rostock) über: «Krankheitsursachen und Krankheitsanlagen»,
Professor van t'Hoff (Berlin) über: «Die zunehmende Bedeutung
der anorganischen Chemie». Neben anderen Vorträgen hat auch
noch Professor Virchow einen Vortrag über ein später zu bestim-
mendes Thema zugesagt. Außer den schon bestehenden Sektionen
soll eine neue für angewandte Mathematik und Ingenieurwissen-
schaften sowie eine solche für Geschichte der Medizin errichtet
werden. Mit der Versammlung sollen vier Ausstellungen verbun-
den sein: 1. eine historische, 2. eine solche, welche die Photo-
graphie im Dienste der Wissenschaft darstellt, 3. eine solche von
naturwissenschaftlichen, medizinisch - chirurgischen, pharmazeuti-
schen und hygienischen Apparaten, Präparaten und so weiter, und
4. eine physikalische und chemische Lehrmittelausstellung. Mit
dieser Naturforscherversammlung — heute darf nirgends ein
moderner Zug fehlen - wird ein Kongreß alkoholfeindlicher
Ärzte verbunden sein.

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In den Bemerkungen, die in der letzten Nummer* dieser Zeit-
schrift über die siebzigste Versammlung deutscher Naturforscher
und Ärzte enthalten waren, ist des Vortrags gedacht worden, den
Professor J. Baumann über den Bildungswert von Gymnasien und
Realgymnasien und über die Bedeutung des naturwissenschaft-
lichen Unterrichts gehalten hat. Eine schöne Ergänzung zu den
Ausführungen Baumanns lieferte ein anderer Redner dieser Ver-
sammlung: Professor Pietzker (Nordhausen). Er sprach sich dar-
über aus, wie der naturwissenschaftliche Unterricht nach seiner
Meinung eingerichtet werden müsse, wenn er den Erfordernissen
des modernen Geisteslebens entsprechen soll. Es ist vor allen Din-
gen eine Durchdringung des Wissensstoffes mit philosophischem
Geiste notwendig. Nicht nur der klare Blick für die augenfälligen
Vorgänge, sondern auch das Denken über diese Vorgänge soll
gepflegt werden. Es ist erfreulich, daß sich wieder Stimmen ver-
nehmen lassen, die dem Nachdenken zu seinem Rechte verhelfen
wollen, nachdem es fast ein halbes Jahrhundert hindurch von sei-
ten der Naturforscher mit dem Bann belegt und dafür die ge-
dankenlose Beobachtung gehätschelt worden ist.

PREISAUFGABE DER BERLINER AKADEMIE


DER WISSENSCHAFTEN ÜBER «LEIBNIZ»

Die Berliner Akademie der Wissenschaften hat eine Preisaufgabe


gestellt: «Darstellung des Systems von Leibniz, welche in eindrin-
gender Analyse der Grundgedanken und ihres Zusammenhanges
sowie in der Verfolgung ihrer Quellen und allmählichen Ent-
wicklung über die bisherigen Darstellungen wesentlich hinaus-
geht usw.» — heißt das Thema. Der brave Mann, der dieses «zeit-
gemäße» Thema zur Zufriedenheit der Herren von der Berliner
Akademie lösen wird, soll 5000 Mark erhalten. Von vornherein
erkläre ich: vor gelehrten Arbeiten habe ich allen schuldigen
Respekt; wenn aber eine solche Körperschaft heute 5000 Mark
übrig hat für die Darstellung eines Gedankensystems, das uns gar
nichts mehr angeht, so kann ich doch nicht umhin, meine Ver-

* Siehe Hinweis, Seite 589.

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wunderung darüber auszudrücken. Wenn auch Leibniz der Stifter


der Berliner Akademie ist: heute für sein Gedankensystem einen
Preis auszuschreiben, würde er selbst nicht billigen. Wir haben
wahrhaft Wichtigeres zu tun. Unsere gegenwärtige Wissenschaft
stellt uns notwendige Probleme. Und die Berliner Akademie fin-
det es angemessen, einen Preis auszuschreiben für ein Thema, das
man einem Liebhaber ganz gut überlassen könnte. Die Lösung
dieser Frage käme noch immer im rechten Moment. Wann wird
doch die Zeit kommen, in der auch die gelehrten Körperschaften
lernen werden, ihre Kräfte in den Dienst der Zeit zu stellen?

«HUXLEY-VORLESUNG» VON VIRCHOW


IN LONDON

Am 3. Oktober hielt Virchow in London die Huxley-Vorlesung


zur Eröffnung des Wintersemesters der medizinischen Schule des
Charing-Croß-Hospitals. Er charakterisierte Huxley als den Mann,
der die Konsequenzen der Darwinschen Lehre als kühner Denker
gezogen und deren Gesichtspunkte für weite Gebiete der For-
schung fruchtbar gemacht hat.

C. A. FRIEDRICH • DIE WELTANSCHAUUNG


EINES MODERNEN CHRISTEN

Leipzig 1897

Menschen, die mit ihren Empfindungen, mit ihrem Gemütsleben
hinter den Erkenntnissen zurückbleiben, die ihnen die fortschrei-
tende Wissenschaft und Erfahrung aufdrängen, wird es immer
geben. Was sich des Herzens bemächtigt hat, das ist durch ver-
nünftige Einsicht nicht so leicht zu widerlegen. Alles, was über
den Kampf zwischen Glauben und Wissen gesagt wird, läßt sich
zuletzt auf den Gegensatz zurückführen, der besteht zwischen den

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traditionellen Mächten, die sich im Gemüte eingenistet haben,
und den Ideen und Begriffen, denen sich die Vernunft nicht ver-
schließen kann. Starke Naturen werden diesen Kampf nicht emp-
finden. Sie bleiben entweder den gewohnheitsmäßigen Vorstel-
lungen, die sie von den Vätern ererbt haben, treu und lehnen alle
neuen Einsichten ab, oder sie segeln mir voller Kraft in das Neue
hinein und reißen ihr Herz los von dem Hergebrachten. Schwache
Naturen dagegen schwanken zwischen Altem und Neuem un-
sicher hin und her. Von jenem können sie nicht lassen; dieses
können sie nicht von sich weisen. Sie sind es dann, welche die
Versöhnung von Glauben und Wissen, von Religion und Erkennt-
nis, zum Gegenstande ihrer Betrachtung machen. Eine starke Na-
tur war der österreichische Erzbischof, der einst gesagt hat: «Die
Kirche kennt keinen Fortschritt.» Eine starke Natur ist Ernst
Haeckel, der einfach den Inhalt der modernen Natureinsicht an
die Stelle der alten Religion setzt. Eine schwache Persönlichkeit
dagegen ist der Verfasser der obengenannten Schrift. Er hat die
höchste Achtung vor der modernen Erkenntnis. Er möchte, daß
diese Erkenntnis so fruchtbar als möglich wirke. Aber alles, was
er über die modernen Anschauungen sagt, ist von christlich-
religiösen Empfindungen miteingegeben. Christliches Fühlen und
modernes Denken sucht er miteinander zu versöhnen. Der Wunsch
ist bei ihm der Vater des Gedankens. Er wünscht, daß dem moder-
nen Wissen die weiteste Verbreitung werde, und er wünscht auch,
daß die Menschen christlich fühlen. Seine Vorstellungen formen
sich nach seinen Wünschen. Er liefert den «Beweis», daß der
Mensch um so christlicher werden wird, je moderner er wird.
Für denjenigen, der die modernen Einsichten bereits in sein Füh-
len, in sein Herz aufgenommen hat, sind Friedrichs «Beweise»
durchaus keine Beweise. Er braucht auch solche Beweise nicht.
Denn ihm ist klar, daß sich mit der modernen Weltanschauung
vollkommen leben läßt, wenn man sich nur in sie eingelebt hat.
Alle Wärme der Empfindung, allen Enthusiasmus bringt er den
Vorstellungen dieser Weltanschauung entgegen, wie sie unsere
Vorfahren den christlichen Ideen entgegengebracht haben. Aber
der Verfasser des Buches «Weltanschauung eines modernen Chri-

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sten» hat für die alten Vorstellungen Wärme des Herzens, für die
modernen Anschauungen Kälte des Verstandes. Vergebens sucht
er aus den neuen Einsichten deshalb die Gefühle herauszupressen,
die sich aus der christlichen Theologie ergeben haben. Durch eine
strenge, sympathische Gesinnung, die aus dem Buche spricht, wird
es manchem interessant sein, der sich mit den Fragen zu beschäf-
tigen geneigt ist, die der Verfasser zu beantworten sucht. Aller-
dings wird für viele diese neuere Art von Pietismus und Gefühls-
duselei auch langweilig sein. Der Psychologe wird das Buch be-
rücksichtigen müssen. Der Verfasser ist als Typus für eine große
Anzahl von Menschen zu betrachten. Sie streben alle nach einer
Aussöhnung zweier geistiger Gebiete, die nicht auf die Dauer
nebeneinander bestehen können, zwischen denen es nur einen
Waffenstillstand, aber keinen Friedensschluß geben kann.

ROBERT ZIMMERMANN


Gestorben am 1. September 1898

Am 1. September ist der Philosoph Robert Zimmermann gestor-


ben. Er hat durch mehr als dreißig Jahre an der Wiener Universi-
tät Philosophie gelehrt. In seinen Anschauungen war er ein ortho-
doxer Schüler Herbarts. Seit dem Jahre 1848 hat er in einer
stattlichen Anzahl von Schriften die Lehre dieses Philosophen
weitergebaut. Die Ästhetik war sein Lieblingsgebiet. Er hat eine
Geschichte dieser Wissenschaft geschrieben und seinen eigenen
Standpunkt auf diesem Gebiete in einem Buche dargelegt.

ERNST HAECKEL • DIE KUNSTFORMEN DER NATUR


Leipzig 1899 ff.

Ernst Haeckel hat es unternommen, die unerschöpfliche Fülle


wunderbarer Gestalten, welche die Natur ihren organischen
Schöpfungen verleiht und «durch deren Schönheit und Mannig-

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faltigkeit alle vom Menschen geschaffenen Kunstformen weitaus
übertroffen werden», in einem Werke darzustellen, dessen erste
Lieferang vorliegt. «Die Kunstformen der Natur» ist der Titel
des Werkes, das zunächst fünf Lieferangen mit fünfzig Tafeln um-
fassen (das Heft zu zehn Tafeln) und das im Falle einer günstigen
Aufnahme um zehn weitere Hefte vermehrt werden soll. Nach
Vollendung von zehn Heften will Haeckel eine allgemeine Ein-
leitung zu dem Werke geben, welche die systematische Ordnung
sämtlicher Formengrappen enthält. Das erste Heft des interessan-
ten Werkes begleitet Haeckel mit einem Vorworte, dem wir fol-
gende Worte entnehmen: «Seit frühester Jugend von dem Formen-
reize der lebenden Wesen gefesselt und seit einem halben Jahr-
hunderte mit Vorliebe morphologische Studien pflegend, war ich
nicht nur bemüht, die Gesetze ihrer Gestaltung und Entwick-
lung zu erkennen, sondern auch zeichnend und malend tiefer in
das Geheimnis ihrer Schönheit einzudringen. Auf zahlreichen Rei-
sen, die sich über einen Zeitraum von fünfundvierzig Jahren er-
strecken, habe ich alle Länder und Küsten Europas kennengelernt
und auch an den interessantesten Gestaden des nördlichen Afrika
und des südlichen Asien längere Zeit gearbeitet. Tausende von
Figuren, die ich auf diesen wissenschaftlichen Reisen nach der
Natur gezeichnet habe, sind bereits in meinen größeren Mono-
graphien publiziert; einen anderen Teil will ich bei dieser Ge-
legenheit veröffentlichen. Außerdem werde ich bemüht sein, aus
der umfangreichen Literatur die schönsten und ästhetisch wert-
vollsten Formen zusammenzustellen.»

PAUL NIKOLAUS COSSMANN • ELEMENTE DER


EMPIRISCHEN TELEOLOGIE

Stuttgart 1899

Dieses Buch ist eine der in unserer Zeit leider gar nicht seltenen
literarischen Erscheinungen, deren Verfasser einen großen Teil
der Schuld an der bedauerlichen Tatsache tragen, daß die Philo-

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sophie immer mehr in Mißkredit kommt. Eine selbstverständliche,
von keinem Vernünftigen angezweifelte Wahrheit wird mit be-
haglicher Breite auf 129 Seiten abgehandelt. Etwas, was vor aller
Augen liegt, wird in abstrakteste Formeln gekleidet, und dabei
passiert dem Autor das Unglück, daß er in der Welt seiner Ab-
straktionen den sicheren Boden unter den Füßen verliert, und daß
er gar nicht ahnt, daß mit seinen «Formulierungen» gar nichts

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