Rudolf steiner



Yüklə 2,15 Mb.
səhifə25/33
tarix02.01.2018
ölçüsü2,15 Mb.
#19355
1   ...   21   22   23   24   25   26   27   28   ...   33
men kann, leugnet Hobbes. «Die sinnliche Wahrnehmung, die
Imagination und die Aufeinanderfolge unserer Vorstellungen, die
wir Erfahrung nennen, ist das uns von der Natur Gegebene.»
(Grimm, S. 85—86.) «Als Vernunft bezeichnet Hobbes jene Tätig-
keit, durch welche wir Vorstellungen und Worte zusammenset-
zen.» (Grimm, S. 87.) So beruht nach Hobbes die Wissen-
schaft nicht auf einem denkenden Begreifen der Welt, sondern
lediglich auf vernünftigem Gebrauch und richtigem Verständnis
der Worte. Daß die Worte Ideen vermitteln und erst auf diesen
unsere Erkenntnis beruht, ist ein Satz, der für Hobbes nicht exi-
stiert. Daß unter solchen Umständen das Wissen keinen selbstän-
digen Zweck mehr haben kann, ist wohl begreiflich. Daher findet
Hobbes: «Das Wissen ist um des Könnens willen da, die Mathe-
matik um der Mechanik, alle Spekulation um irgendeines Werkes,
irgendwelchen Handelns willen.» (Grimm, S. 99.) Gewiß: ein Wis-
sen, das nur aus Worten besteht, kann keinen selbständigen Wert
haben. Allerdings glaubte Hobbes, das, was er wollte, nur dadurch
erreichen zu können, daß er der Wissenschaf t diese Wendung gab.
Was wir in einzelnen Fällen beobachten, erfahren, hat ja nur eine
eingeschränkte Wahrheit. Wir können nie wissen, ob es sich auch
in allen den Fällen bewahrheitet, die wir nicht beobachtet haben.
Die Worte aber stellen wir willkürlich fest; bei ihnen wissen wir
also genau, wie weit das Gültigkeit hat, was sie behaupten. Ver-
hängnisvoll wurde diese Ansicht Hobbes für seine Grundlegung
der Sitten- und Staatslehre. Denn beruht alles, was objektive Gül-
tigkeit hat, nur auf der Willkür der Worte, so hört jeder wirkliche

490


Unterschied von «Gut» und «Bös» auf. Auch diese Begriffe wer-
den zu willkürlichen Geschöpfen des Menschen. «Es gibt keine
allgemeine Regel über Gut und Böse, die aus dem Wesen der
Dinge selbst genommen wäre.» (Grimm, S. 135-136.) Und im
Staate kann die Ordnung nicht dadurch aufrechterhalten werden,
daß die Menschen durch Vernunft, durch freie Einsicht ihre
Triebe beherrschen, sondern allein dadurch, daß ein despotischer
Herrscher die Beobachtung der willkürlich aufgestellten Sitten-
gesetze erzwingt.

Im Mittelpunkt des Grimmschen Werkes steht John Locke. Er


ist ja «der erste Philosoph, der die Frage nach der Erkenntnis als
eine durchaus selbständige und für sich bestehende Aufgabe in
den Mittelpunkt der Forschung stellt». (Grimm, S. 173.) Auf dem
Kontinente ist Rene Descartes (Cartesius 1596—1650) der Begrün-
der einer neuen, aus den Banden des Aristoteles sich befreienden
Philosophie. Dieser sieht den Grund, warum wir zu einem un-
bedingten und unzweifelhaften Wissen kommen können, darin-
nen, daß uns gewisse Ideen angeboren sind. Wir brauchen die-
selben bloß aus den verborgenen Tiefen unserer Seele heraufzu-
heben und in das volle Licht des Bewußtseins zu stellen. Dieser
Ansicht setzte nun Locke den Satz entgegen, daß wir gar keine
angeborene, sondern nur erworbene Erkenntnisse haben. Wir brin-
gen, nach Locke, keinerlei Erkenntnisse mit uns zur Welt, sondern
allein die Fähigkeit, uns solche zu erwerben. Von dieser Einsicht
ausgehend, sucht er die Quellen und die Gültigkeit unseres Wis-
sens zu untersuchen. Er gelangt dabei zu einem Satze, der heutzu-
tage geradezu einen Bestandteil des modernen Bewußtseins aus-
macht, nämlich, daß nur Masse, Gestalt, Zahl und Bewegung
Eigenschaften sind, die wirklich in den Körpern existieren, wäh-
rend Farbe, Ton, Wärme, Geschmack und so weiter nur Wirkun-
gen der Körper auf unsere Sinne seien, nicht aber etwas in den
Körpern selbst.

George Berkeley behauptet nun, daß auch die erstgenannten


Eigenschaften kein von unserem Vorstellen unabhängiges Dasein
haben, sondern daß sie nur existieren, insofern wir sie vorstellen.
Es gibt überhaupt keine Dinge, die unseren Vorstellungen ent-

491


sprechen. Berkeley leugnet das Dasein einer Körperwelt und läßt
nur Geister existieren, in denen das göttliche Wesen durch seine
alles beherrschende Kraft die Vorstellungen hervorruft. «Was ich
wahrnehme, das muß ich auch vorstellen; etwas, wovon ich gar
keine Vorstellung habe, kann auch nicht Gegenstand meiner Wahr-
nehmung oder Erfahrung sein, das existiert für mich überhaupt
nicht.» «Deshalb gibt es über die Grenze der Vorstellung hinaus
keine Wahrnehmung, keine Existenz, keine Erfahrung.» (Grimm,
S. 385.)

David Hume endlich nimmt den Standpunkt Lockes, daß wir


alle unsere Erkenntnisse nur durch Beobachtung gewinnen kön-
nen, wieder auf. Da wir aber durch Beobachtung immer nur Auf-
schluß über einzelne Fälle gewinnen können, so haben wir auch
nur solches auf Einzelnes bezügliches Wissen und keine allgemein
gültige Erkenntnis. Wenn ich sehe, daß ein Ding immer auf das
andere folgt, so nenne ich das letztere Ursache, das erste Wirkung.
Ich erwarte, daß in ähnlichen Fällen dieselbe Ursache dieselbe
Wirkung hervorruft. Daß dies so sein muß, kann ich nie wissen.
All unsere Überzeugung beruht auf der Gewohnheit, das immer
vorauszusetzen, was wir öfter bewahrheitet gefunden haben. So
gelangt Hume zu einem vollständigen Zweifel an aller eigent-
lichen Erkenntnis.

Dieser Zweifel hat Kant, nach dessen eigenem Bekenntnis, aus


seinem wissenschaftlichen Schlummer gerissen und zu seinem gro-
ßen, die wissenschaftliche Welt in allen Tiefen aufrührenden
Werke, zur «Kritik der reinen Vernunft», angeregt. Dadurch hat
Hume, und insofern dieser auf seinen genannten Vorgängern
fußt, auch letztere auf die deutsche Wissenschaft einen maßgeben-
den Einfluß ausgeübt.

Die Gedankenentwickelung und die Bedeutung der von Grimm


behandelten Forscher zu kennen, ist für das Verständnis der neue-
ren Philosophie ein unbedingtes Erfordernis. Daher hat sich der
Verfasser durch sein Buch ein bleibendes Verdienst erworben. Mit
durchdringender Klarheit zeigt er uns die Fäden, welche die fünf
Männer miteinander verbinden, mit bewundernswerter Schärfe
weist er immer auf jene Seite hin, in der jeder von ihnen einen

492


und denselben Grundgedanken entwickelt hat. Eigentlich ist es
ja eine Frage, die sie alle behandeln; nur führt sie die verschie-
dene Beleuchtung, in die sie dieselbe rücken, immer zu anderen
Folgerungen. Alle sind beseelt von dem Streben nach befriedigen-
der Erkenntnis, und ebenso sind sie von der Überzeugung durch-
drungen, daß nur Beobachtung und Erfahrung uns wahrhaft Er-
kenntnisse liefern. Nicht weniger ausgezeichnet als die Darlegung
der Abhängigkeit der einzelnen Darlegungen voneinander ist
Grimms Beleuchtung des Entwickelungsganges, den dieselben
durchgemacht haben. Besonders charakteristisch ist derselbe für
Berkeley und Hume. Grimm erweist sich in der Klarstellung die-
ser Verhältnisse auch als Meister psychologischer Analyse.

Wir glauben nicht zu viel zu sagen, wenn wir unser Urteil


über Grimms Buch in den Worten gipfeln lassen: Für den Fach-
mann ist es ein Werk, an dem er nicht vorübergehen darf, wenn
er der in Rede stehenden Epoche nähertreten will, für den Ge-
bildeten eine interessante, ihn über unzählige Fragen orientie-
rende Lektüre.

ALLAN KARDEC • DER HIMMEL UND DIE HÖLLE

oder die göttliche Gerechtigkeit nach den Aufschlüssen der Kunde
vom Geist; sodann beleuchtet an zahlreichen Beispielen bezüglich
der wirklichen Lage der Seele während und nach dem Tode. Ins
Deutsche übertragen von Christ. Heinr. Wilh. Feller. Berlin 1890

Wir leben in einer Zeit, in der ein großer Teil des wissenschaft-


lichen Treibens vollständig zur Verstandessache geworden ist, und
in der auch die bedeutendsten Vertreter der Gelehrsamkeit nichts
mehr zu bieten wissen, was den Bedürfnissen des Herzens und
Gemütes irgendwie Genüge leisten könnte. Da ist es denn auch
kein Wunder, wenn religiös angelegte Naturen das auf einem von
der Wissenschaft abgelegenen Wege zu erreichen suchen, was

493


ihnen diese versagr. Man könnte nun glauben, daß die Religion
selbst einen solchen Weg eröffne. Das wäre auch der Fall, wenn
nicht eine auf Erfahrung und Augenscheinlichkeit gegründete
Denkweise den Geist vieler unserer Zeitgenossen in eine Rich-
tung gebracht hätte, die sich mit der unbefangenen Anschauungs-
art religiöser Menschen nicht verträgt. Man hat ein Bedürfnis
nach religiösen Wahrheiten, aber man will sie nicht glauben, son-
dern erfahrungsgemäß beweisen. Man will mit den Mitteln der
Anschauung und des Versuches das erkennen, was die Religionen
durch den Glauben zu vermitteln suchen. Auf diese Weise ent-
steht ein ganz unklares und ungesundes Gemisch von Religion
und scheinbarem Erfahrungswissen, das nach keiner Seite hin eine
Existenzberechtigung hat. Das Werk, dem diese Zeilen gewidmet
sind, trägt alle schlechten Eigenschaften an sich, die aus der ge-
kennzeichneten Verschmelzung zweier nicht zusammengehöriger
Halbheiten entspringen. Es entwickelt zuerst, und zwar vom Stand-
punkte einer ganz egoistischen sittlichen Weltansicht aus, die
Lehren von Himmel, Hölle, Engel, Teufel und von dem Fortleben
nach dem Tode. Dann werden ganz unkritisch scheinbare Tat-
sachen als Beweise für diese Lehren angeführt. Eine Reihe von
Verstorbenen soll den Mitgliedern einer «Geisterforschungsgesell-
schaft», der auch der Verfasser angehörte, erschienen sein und
Mitteilungen über das Jenseits gemacht haben. Bei der Erzählung
dieser «Tatsachen» wird auch nicht mit einem Worte erwähnt,
ob denn bei den Versammlungen irgendwelche Vorkehrungen ge-
troffen worden sind, um absichtliche oder unabsichtliche Täu-
schungen auszuschließen. Daß sie Maßregeln dieser Art treffen,
suchen doch heute selbst die Anhänger des plumpsten Spiritismus
der Welt beizubringen. Wir sind nicht so kurzsichtig, daran zu
zweifeln, daß es Erscheinungen geben könne, für deren Erklärung
unsere augenblicklichen wissenschaftlichen Anschauungen sich zu
eng zeigen; aber solche Tatsachen müssen ebenso methodisch und
objektiv-wissenschaftlich untersucht werden wie die Phänomene
der Optik und Elektrizität. So wenig es uns zu einem Ziele führte,
wenn wir die Lichtbrechung oder die elektrischen Erscheinungen
mit Zuhilfenahme von «Geistern» erklärten, ebensowenig kann es

494


einen Wert haben, mit solchen Mitteln jenem kleinen Reste von
Tatsachen beikommen zu wollen, der übrigbliebe, wenn man aus
den Behauptungen und Erzählungen der «Spiritisten» und «Spiri-
tualisten» alles entfernte, was auf Täuschung und Schwindel be-
ruht.

AUCH EIN KAPITEL ZUR «KRITIK DER MODERNE»

Bei einem großen Teile unserer Zeitgenossen herrscht heute die
Überzeugung, daß der Stil der geistigen Lebensführung, wie er
seinen letzten gewaltigen Ausdruck in dem Wirken der deutschen
Klassiker gefunden hat, und wie er in Gesinnung und Schaffen
der Epigonen ein allerdings mattes Dasein noch führt, vom Schau-
platze zu verschwinden hat und einer vollständig neuen Lebens-
gestaltung weichen soll. Nicht etwa als ein Irrweg, den man ver-
lassen muß, wird die «alte Kultur» von den jüngeren, schöpferi-
schen Geistern bezeichnet, sondern als ein Bildungs-ideal, das alles
gezeitigt hat, was es aus sich heraus entsprießen lassen konnte,
und aus dem neue Blüten nicht mehr zu gewinnen sind. Wir
müssen uns das ganze geistige Leben neu einrichten, an die Stelle
des klassischen müssen wir den modernen Geist setzen, so lautet
das Feldgeschrei der jungen Generation. Es ist ein großer Fehler,
von seiten der Anhänger der «alten Richtung» dieses Feldgeschrei
einfach zu überhören oder es ungeprüft als unreif hinzustellen.
Ein solches Vorgehen ist schon deshalb gerichtet, weil auf geisti-
gem Gebiete kein Ding der Welt mit dem für etwas ganz Frem-
des zugerichteten Maßstabe gemessen werden kann, sondern nur
mit dem aus der Sache selbst gewonnenen. Es ist geradezu
komisch, wenn Leute, die in jedem Satze, den sie niederschreiben,
zeigen, daß ihre ästhetische Urteilskraft gerade hinreicht, um philo-
logische Silbenstecherei zu treiben, über eine Richtung gering-
schätzend sich äußern, deren Vertreter an Geist weit höher stehen
als jene angeblichen Kunstrichter aus der klassischen Schule. Wer
nicht den Willen hat, mit der Gegenwart sich auseinanderzu-

495


setzen, der sollte auch seine Betrachtungen über geistiges Schaffen
der Vergangenheit sich ersparen. Goethe, Schiller oder Lessing
kann heute nur der beurteilen, der sich auf einen freien Stand-
punkt gegenüber der geistigen Gegenwart erhoben hat. Auf den
Standpunkt der «alten Schule» wollen wir also durchaus verzich-
ten, wenn wir darangehen, die kritische Sonde an die Grund-
Tendenzen der «Moderne» anzulegen. Auch bemerken wir zum
voraus, daß wir uns darauf beschränken werden, die Strömungen
nur innerhalb des deutschen Geisteslebens in skizzenhafter Weise
zu charakterisieren.

Der Geist, der innerhalb dieses Gebietes eine Neugestaltung


aller Lebensführung im weitesten Sinne anstrebt, ist Friedrich
Nietzsche. Auch die beiden letzten Publikationen Hermann Bahrs
(Die Überwindung des Naturalismus. Dresden 1891, E. Piersons
Verlag, 323 S.) und Conrad Albertis (Natur und Kunst. Beiträge
zur Untersuchung ihres gegenseitigen Verhältnisses. Leipzig 1891,
Wilhelm Friedrich), die zu diesen Zeilen den unmittelbaren An-
laß geben, beweisen dies, indem sie ausdrücklich in der Welt-
anschauung Friedrich Nietzsches eine von den Haupttriebkräften
der Kultur der Zukunft sehen. Nietzsches Hauptverdienst liegt
zunächst darinnen, in scharfer Weise die Ansicht vertreten zu
haben, daß alle Maßstäbe, an denen wir das messen, was Menschen
tun und hervorbringen, ein geschichtlich Gewordenes, kein für
die Ewigkeit absolut Feststehendes sind. Die Werte, die wir heute
den Handlungen der Menschen beilegen, sind nicht absolut, son-
dern nur relativ richtig, und sie können, wenn die Zeit gekommen
ist, durch vollständig neue ersetzt werden. Und diese Zeit hält
Nietzsche für gekommen, denn er wollte seinen fortwährend an
der Grenzscheide zwischen «Wahnsinn und Genialität» schweben-
den Büchern zunächst das über die «Umwertung aller Werte» nach-
folgen lassen. Die Umnachtung des Geistes hat diesen Mann verhin-
dert, ein Werk zu schaffen, das jedenfalls zu den merkwürdigsten
aller Zeiten gehört hätte. Wir sind es müde geworden, weiter so
zu urteilen, wie wir es bisher getan, wir müssen neue sittliche An-
sichten gewinnen, das ist Nietzsches Überzeugung. Dieses Müde-
sein des Alten, dieser Glaube, daß für den geistig strebenden

496


Menschen die Grundsätze und Grundgefühle der alten Zeit nicht
mehr ausreichen, dieses zunächst ganz unbestimmte Herausbegeh-
ren aus den geschichtlichen Bahnen und das Sehnen nach neuen
Schaffensformen, dies ist der Grandzug der jüngsten literarischen
Bestrebungen in Deutschland. Wer sich nun mit den freilich
durchaus unklaren Zielen dieser Bestrebungen bekanntmachen
will, dem können die schon erwähnten Werke Bahrs und Albertis
als gute Führer empfohlen werden. Hermann Bahr ist ohne Zweifel
der bedeutendste Theoretiker dieser jungen Richtung. Genial veran-
lagt, etwas leichtsinnig in seinen Urteilen, zu flott, um immer ernst,
zu tiefblickend, um stets leicht genommen zu werden, von einer
fabelhaften Leichtigkeit im Produzieren, von zynischer Unverfro-
renheit in oberflächlicher Abschätzung mancher für ihn doch zu
tief sitzender geistiger Elemente ist Hermann Bahr für uns über-
haupt der bedeutendste Kopf, insofern wir uns auf das Gebiet der
Literatur und Ästhetik des jüngsten Deutschlands beziehen.

So wenig irgend etwas in der Natur, so wenig sind die Prozesse


im geistigen Leben der Menschen etwas Stillstehendes. Eine jede
Kulturströmung ist von dem Punkte an, wo sie einsetzt, in fort-
währender Entwickelung begriffen. Die Träger derselben suchen
sie immerfort zu vertiefen, suchen immer neue Seiten derselben
an die Oberfläche zu bringen. Das Kennzeichen für die innere
Gediegenheit und den Wert derselben wird der Umstand sein,
daß die Wahrheit und Größe immer mehr zum Ausdruck kommt,
je weiter die Entwickelung fortschreitet. In sich widersprechende
und wertlose Richtungen aber sind dadurch charakterisiert, daß
sie sich von innen heraus, durch Weiterentfaltung ihres eigenen
Prinzipes selbst ad absurdum führen. Ja, man kann eine Richtung
nur dann wahrhaft widerlegen, wenn man zeigt, daß sie bei stren-
ger Verfolgung ihrer Ausgangspunkte in dieser Weise sich selbst
aufzehrt. Hermann Bahr hat nun die möglichen Entwickelungs-
stadien der «Moderne» mit einer geradezu nervösen Hast durch-
laufen und in seinem letzten Buche dasjenige erreicht, von dem
ausgehend ihm demnächst ganz gewiß selbst die Absurdität der
ganzen Richtung einleuchten muß.

Den Anfang machte das jüngste Deutschland damit, daß es den

497

schablonenhaften Kunstformen eines mißverstandenen Klassizis-


mus gegenüber die Forderung stellte: man müsse sich mit wirk-
lichem Leben wieder durchdringen, man müsse darstellen, was
man selbst beobachtet, nicht was man von den Vorfahren erlernt
habe. Wir wollen das Leben zeichnen, wie wir es sehen, wenn
wir die Augen öffnen, nicht wie es uns erscheint, wenn wir es
durch die Brille betrachten, die wir uns durch Vertiefung in die
Vorzeit zubereiten. Und wir wollen vor allen anderen Dingen
kein Gebiet der Wirklichkeit von der künstlerischen Verarbei-
tung ausschließen. Das führte zunächst zur Aufnahme neuer Stoffe
in die Kunst. Die tieferen, arbeitenden Schichten des Volkes hat-
ten ja bis in die jüngste Zeit herein nur eine untergeordnete
Rolle in der Kunst gespielt. Daher holten nun die Dichtung und
auch die Malerei ihre Stoffe. Die Leiden und Freuden auch des
einfachsten Mannes können ja künstlerisch dargestellt werden,
die ganze ästhetische Rangleiter vom Burlesken bis zum Hoch-
tragischen findet sich ja bei der Arbeiterfamilie nicht weniger als
im Fürstenschlosse. Diese rein stoffliche Erweiterung der Kunst
konnte sich natürlich vollziehen, ohne die Formen der alten Ästhe-
tik zu sprengen. Das Stoffliche macht ja das Künstlerische nicht
aus, und die Kunstformen können ja dieselben bleiben, ob sie nun
mit diesem oder mit jenem Stoffe erfüllt werden. Aber der Um-
stand, daß die Vertreter der jüngeren Richtung nicht genug Tiefe
der Bildung besaßen, führte sogleich am Beginne zu einem ver-
hängnisvollen Irrtum. Der Mann der unteren Klasse stellt näm-
lich in weit geringerem Maße als der «Gebildete» eine sogenannte
Individualität dar. Er ist weit mehr das bloße Ergebnis von Er-
ziehung, Beruf und Lebensverhältnissen als der gesellschaftlich
höher Stehende. Das ist ja gerade das Streben der Arbeiterbil-
dungsvereine, aus bloßen Schablonenmenschen durch Bildung
Individualitäten zu schaffen. Nimmt man also ein Mitglied des
vierten Standes einfach, wie es heute ist, so wird man gewahr
werden, daß das Zentrum der Persönlichkeit, der Born des Indi-
viduellen fehlt, daß das Charakterisieren von innen heraus un-
möglich, dagegen die Ableitung aus dem Milieu zur Notwendig-
keit wird. Das jüngste Deutschland sah dies nun nicht bloß als

498


eine besondere Folge des Stoffgebietes an, das es sich gewählt
hatte, sondern es bezeichnete es geradezu als Forderung der «neuen
Kunst», den Menschen nicht mehr aus dem Mittelpunkt seines
Wesens heraus zu charakterisieren, sondern aus Zeit- und Orts-
verhältnissen, kurz aus dem Milieu. Dies war das erste Stadium
der «Moderne». Es ist damit aber auch der Standpunkt angegeben,
den das Buch von Conrad Alberti einnimmt. Der Verfasser begeht
dabei freilich noch einen zweiten Fehler. Er bringt die Kunst in
eine ganz ungerechtfertigte Abhängigkeit von der wissenschaft-
lichen Überzeugung, die in irgendeiner Zeit herrschend ist. Er
glaubt, die Kunst, die vom Individuellen, vom Innern ausgegan-
gen ist, hätte in dem Momente ihrer Auflösung entgegengehen
müssen, da die Psychologie «die alte Legende von dem freien
Willen des Menschen zerstört» habe. Diese Leistung schreibt er
der von Wundt begründeten psychologischen Weltanschauung
zu. Wenn irgend etwas aber unbestreitbar ist, so ist es der Satz,
daß eine solche Einmischung der Theorie, des Verstandes der
Tod aller wahren Kunst ist. Was für eine Verkehrtheit liegt doch
in dem Bestreben, die Kunst zu einem Ausdrucksmittel wissen-
schaftlicher Sätze zu machen! Das wissenschaftliche Treiben muß
sich unter allen menschlichen Verrichtungen am allermeisten von
der Wirklichkeit entfernen, um seiner Aufgabe gerecht zu wer-
den. Die Wissenschaft gelangt oft auf langen Umwegen mittel-
bar zu ihren Ergebnissen. Indem die Wissenschaft die Gesetze des
Wirklichen erforscht, streift sie gerade dasjenige ab, was die
Kunst in unmittelbarer Auffassung ergreifen muß: das Leben in
seiner vollen Frische. Es ist das tragische Verhängnis der «Mo-
derne», daß sie in ihrem Wirklichkeits-Enthusiasmus so weit ging,
das Allerunwirklichste für das Allerwirklichste zu halten. Das
Buch von Conrad Alberti steht also auf der ersten Stufe des mo-
dernen Wirklichkeitsdusels, der Wirklichkeit fordert, aber keine
Ahnung davon hat, wo eigentlich Wirklichkeit sitzt. Gegenüber
Hermann Bahrs «Die Überwindung des Naturalismus» muß die
Ansicht Albertis als antiquiert gelten. Hermann Bahr verwarf
diese erste Entwickelungsstufe gerade aus dem Grunde, weil er
fand, daß sie durchaus die Wirklichkeit nicht wiedergebe. Er

499


suchte nun zunächst die Erlösung darinnen, daß er die Faktoren,
aus denen er den Menschen-Charakter konstruieren wollte, von
der äußeren Natur in die innere, in den Organismus, in die Ner-
ven verlegte. Der Mensch ist nicht das bloße Ergebnis der äuße-
ren Verhältnisse, sondern er ist so, wie es die Konstitution seines
Nervensystems bedingt. Wollt ihr einen Menschen erkennen und
charakterisieren, dann schlagt ihm den Schädel ein, zerfasert sein
Gehirn, zieht ihm die Haut ab und legt seine Nervenstränge bloß,
so sagte der gehäutete Bahr zunächst. Daß sich mit dieser Ansicht
doch auch sehr wenig anfangen lasse, sah denn Hermann Bahr
bald ein, und er schritt weiter auf der Wanderung, die ihm end-
lich die volle Wirklichkeit vermitteln sollte. Und heute sagt er:
alle alte Kunst zeigte die Wirklichkeit, wie sie durch den mensch-
lichen Geist hindurchgegangen, wie sie von der Phantasie erfaßt
und gestaltet ist, also sie brachte ein Ableitungsprodukt der Wirk-
lichkeit, nicht diese selbst. Wir müssen das anders machen. Wir
müssen Werke schaffen, die ganz so auf uns wirken, wie die
Wirklichkeit selbst. Der Maler darf nicht eine Fläche so malen,
daß sie in der Einbildungskraft des Betrachters denselben Effekt
hervorruft wie die wirkliche Fläche, sondern sie muß mein Ner-
vensystem genau in derselben Weise beeinflussen wie die Wirk-
lichkeit selbst. Das heißt aber aus dem Bahrisch-Paradoxen in ge-
sundes Deutsch übertragen: die Kunstprodukte sollen nicht Kunst-
produkte, sondern Naturerzeugnisse sein. Was nun der Künstler
überhaupt noch in der Welt soll, das mag Hermann Bahr wissen,
wir nicht. Da sollte man doch lieber das rein Natürliche von der
Natur selbst schaffen lassen. Denn wenn es darauf ankommt, die
Wirklichkeit selbst zu gestalten, dann, fürchte ich, wird der
genialste Künstler der Natur gegenüber immer nur ein Stümper
sein. So stellt denn der Standpunkt, den Hermann Bahrs neuestes
Buch erreicht, denjenigen dar, in dem die «neue Kunst» an ihren
eigenen Prinzipien, an ihrer Grundforderung nach reiner Wirk-
lichkeit sich selbst ad absurdum führt. Hätte Hermann Bahr mit
seinem interessanten, geistreichen Werke die Selbstironie der
«Moderne» schreiben wollen, er könnte diesen Versuch gar nicht
besser angefangen und durchgeführt haben.

500


Der Verfasser dieses Artikels hofft, die in demselben aufgenom-
menen Gedankengänge demnächst in einer kleinen Schrift gehörig
erweitern und tiefer begründen zu können. Dieselbe soll die
Hauptströmungen des geistigen Lebens der Gegenwart und deren
Bezug zur Vergangenheit und einer möglichen Zukunft darstellen.

ADOLF STEUDEL • DAS GOLDENE ABC DER PHILOSOPHIE

Einleitung zu dem Werke «Philosophie im Umriß». Neu heraus-
gegeben und mit Bemerkungen versehen von Max Schneidewin.
Friedrich Stahn. Berlin 1891

Dieses Buch gehört in die Gruppe der vielen unnötigen, die die


Literatur der Gegenwart hervorbringt. Steudel befand sich als
Philosoph auf jenem flachen Standpunkt, der glaubt, das überall-
her zusammengelesene Wissensmaterial durch bloße Verstandes-
erwägungen, die über die einzelnen Erfahrungstatsachen an-
gestellt werden, zu philosophischen Resultaten vertiefen zu kön-
nen. Daß die Philosophie ein Objekt braucht, das nicht in der
Sphäre des «sinnenfällig und verstandesmäßig» Gegebenen liegt,
davon hatte Steudel keine Ahnung. Daher fehlt ihm auch ganz
das Organ, um die großen Fortschritte der Philosophie durch
Fichte, Schelling und Hegel würdigen zu können, und er möchte
alle tiefere Intuition von dem aus Nicolaischer Gesinnung her-
vorgehenden Verstandesraisonnement, das jene Leuchten der
Wissenschaft trotz ihrer großen Fehler in so gewaltigen Geistes-
schlachten zu Boden streckten, wieder abgelöst sehen. Er will
gegenüber dem absoluten Vernunfturteil das absolute Verstandes-
urteil geltend machen. Der Unterschied ist nur der, daß das Ab-
solute der Vernunft tief, das des Verstandes aber oberflächlich ist.
Bei alledem muß man das redliche Streben Steudels anerkennen,
und für den philosophischen Fachmann ist es von Interesse,
Steudels «Philosophie im Umriß» als das konsequenteste Werk
des seichten Menschenverstandes, den ja noch immer viele - oder

501


vielmehr heute erst recht viele — für den einzig gesunden halten,
durchzulesen. Wem aber mit einem besonderen Abdruck der Ein-
leitung, die gar keinen selbständigen Wert hat, sondern einen
solchen nur im Zusammenhang mit dem ganzen Werke erhält,
gedient werden soll, das vermögen wir nicht zu erkennen.

J. R. MINDE • ÜBER HYPNOTISMUS


Vortrag. München 1891

Kurze Zusammenstellungen der Haupttatsachen des Hypnotismus


und der Suggestion, wenn sie mit vollkommener Beherrschung
des Gebietes gemacht werden, sind in der Gegenwart sehr zweck-
mäßig. Sie kommen einem brennenden Interesse der Zeit ent-
gegen. Daß alle wissenschaftlichen Anforderungen bei der in
Rede stehenden Schrift erfüllt sind, dafür bürgt der Name ihres
Verfassers. Daß sie sich fast nur an Ärzte und weniger an das
gebildete Laienpublikum wendet, wollen wir ihr nicht zum Vor-
wurf machen. Das letztere hat an der ausgezeichneten Schrift von
Forel ein alle Ansprüche wegen rascher und allseitiger Orientie-
rung erfüllendes Mittel. Wer aber naturwissenschaftliche Bildung
genug besitzt, um sie zu verstehen, für den bietet auch die
Mindesche Broschüre vortreffliche Gelegenheit, von dem Um-
fange der beim Hypnotismus in Betracht kommenden Erschei-
nungen sich Kenntnis zu verschaffen. Daß vor den Gefahren ge-
warnt wird, die daraus erwachsen können, wenn nach der Ansicht
einiger unberufener Heißsporne der Hypnotismus und die Sug-
gestion als Erziehungsmittel oder behufs Festhaltung von Gemüts-
stimmungen für künstlerische Zwecke verwendet würde, finden
wir ganz berechtigt. Der Hinweis darauf, daß mit der physiologi-
schen Lösung des Rätsels, das den Schlaf einhüllt, auch jene des
Problems der Hypnose nähergerückt erscheinen wird, scheint uns
am Platze. Dankbar wird jeder Leser auch für die Zusammen-

502


Stellung der Daten am Schlüsse sein, die eine klare Übersicht dar-
über verschaffen, wann und durch wen - den von uns unter dem
Namen der hypnotischen bezeichneten — verwandte Erscheinun-
gen bereits früher beobachtet und zu erklären versucht worden sind.

WILHELM SCHÖLERMANN • FREILICHT!


Eine Plein-air-Studie. Düsseldorf 1891

Das Schriftchen behandelt eine in das Kunstleben der Gegenwart


tief eingreifende Frage: inwiefern ist der Realismus in der Ma-
lerei, und zwar in jener Form, wie er sich am deutlichsten bei
Liebermann und Uhde darstellt, künstlerisch gerechtfertigt? Es
ließe sich erst darüber streiten, ob denn die ganze Fragestellung
überhaupt gerechtfertigt ist. Der Künstler schafft, wie er kann,
und fragt nicht nach ästhetischen Prinzipien. Wenn irgend jemand
besondere Anlage hat zur treuen phantasielosen Wiedergabe der
Natur und ein besonderes Auge für gewisse häßliche Seiten der-
selben, so werden seine Werke ein dementsprechendes Gepräge
tragen. Ob die Ästhetik dann solchen Werken einen höheren oder
niederen Rang anweist, ist freilich eine andere Sache. Momentane,
von der Mode abhängige Urteile mögen die Schöpfungen der
Kunst vielleicht für eine kurze Zeit völlig anders abschätzen als
die Ästhetik. Die letztere darf sich dadurch nicht beirren lassen.
Nur wer sein Urteil frei erhält von den Launen des Zeit-
geschmackes und feste Prinzipien hat, kann als wissenschaftlich
gebildeter Ästhetiker in Betracht kommen. Mit den Prinzipien
einer solchen Ästhetik werden die Künstler aber immer im Ein-
klang stehen, selbst wenn sie sich dessen nicht voll bewußt sind.
Nur wird eine wissenschaftliche Ästhetik nie auf das Was, auf
den Stoff der Kunstwerke losgehen, sondern stets auf das Wie,
auf das von dem Künstler aus dem Stoffe Geformte. Darauf zielt
es, wenn Heine sagt: «Der große Irrtum besteht immer darin, daß

503


der Kritiker die Frage aufwirft: was soll der Künstler? Viel rich-
tiger wäre die Frage: was will der Künstler?» Schölermann zitiert
auf Seite 4l diese Stelle, aber ich finde, daß er sie im Verlaufe
seiner Ausführungen viel zu wenig beherzigt. Sonst müßte sich
seine Untersuchung auf die Frage zuspitzen: was wollen die mo-
dernen Künstler, und was können sie in der Art, wie sie schaffen,
erreichen? Sie wollen ein treues Abbild der Natur wiedergeben.
Aber die Mittel, mit denen der Maler arbeitet, sind viel geringer
an Zahl als die, mit denen die Natur selbst schafft. Der Maler
vermag in sein Bild nichts hineinzuarbeiten als die Projektion der
Form auf eine zweidimensionale Raumgröße, das Hell-Dunkel
und die Farbe. Was steht der Natur außer diesen Mitteln noch
alles zur Verfügung, um eine Landschaft, eine Person hervorzu-
bringen? Und doch muß der Maler mit seinen wenigen Mitteln
eine ähnliche Totalwirkung hervorbringen wie die Natur mit
ihrem Übermaße. Daraus folgt, daß er die Farbe, die Kontur und
so weiter im einzelnen wird anders gestalten müssen als die Na-
tur, wenn er in dem Gesamteindruck die letztere erreichen will.
Wiedergabe der Natur im ganzen bedingt mannigfache Abwei-
chung im einzelnen. Diese Grundmaxime aller ästhetischen Be-
trachtungen scheint der Verfasser nicht zu kennen; deshalb er-
scheint uns sein Versuch der Wissenschaft gegenüber prinzipien-
los, als launenhafte Sammlung von Aphorismen, denen die rechte
Grundlage fehlt; der Malerei gegenüber lieblos, nach vorgefaßten
Meinungen aburteilend, nicht berücksichtigend, daß nur die selbst-
lose Vertiefung in die Schöpfungen eines Künstlers wie Uhde zu
einem Urteile berechtigt.

504


FRANZ BRENTANO • DAS GENIE

Vortrag, gehalten im Saale des Ingenieur- und Architektenvereins


in Wien. Leipzig 1892

Über das Genie ist in letzter Zeit vieles geschrieben worden. In


weiteren Kreisen hat namentlich Lombrosos Buch: «Genie und
Irrsinn» großes Aufsehen gemacht. Mit umfassender Sachkenntnis
sucht der italienische Gelehrte alle die Fälle auf, in denen geniale
Äußerungen des menschlichen Geistes an das unheimliche Gebiet
der Geistesstörungen grenzen. Eine Reihe der größten Geister
zeigten entweder in der Blüte ihres Strebens Irrsinnserscheinun-
gen oder verfielen dem Wahnsinne am Abende ihres Lebens. Das
würde zu der Annahme führen, daß Genialität nicht eine Ent-
wickelungsstufe des gesunden menschlichen Geistes ist, sondern
eine abnorme Erscheinung desselben. Diese Meinung scheint im-
mer mehr Anhänger für sich zu gewinnen. Abweichend davon ist
Eduard von Hartmanns Ansicht. Nach derselben liegt das Genie,
im Gegensatz zur vollbewußten, verstandesmäßigen Geistestätig-
keit, in einem Entfalten von Elementen, die im unbewußten
Mutterschoße der Seele ruhen. Nur derjenige, bei dem diese Ele-
mente aus diesen geheimnisvollen Tiefen herauf sich in die Sphäre
des Geistes arbeiten, bringt Geniales hervor. Charakterisiert Hart-
mann auf diese Weise das Genie als etwas durchaus Normales, so
sieht er es doch aber als ein von der Begabung des normalen
Menschen qualitativ Verschiedenes an. Beiden hiermit angedeute-
ten Anschauungen steht diejenige Brentanos ablehnend gegen-
über. Sie sieht in dem genialen Schaffen nur eine quantitative
Steigerung derjenigen Tätigkeit des Geistes, die jeder Durch-
schnittsmensch fortwährend vollbringt. Die geistigen Funktionen
des gewöhnlichen Menschen: Perzeption, Apperzeption, Repro-
duktion und Kombination vollziehen sich beim Genie nur leichter,
rascher und in einer Weise, die dem Inhalt der Sachen mehr ent-
spricht, als das bei der Mehrzahl der Individuen der Fall ist. Das
Genie ist für geheime Beziehungen der Dinge zueinander emp-
fänglicher als der Durchschnittsmensch. Was dieser erst auf dem

505


mühevollen Wege eifrigen Forschens entdeckt, durchdringt jenes
auf den ersten Blick. Brentano sucht nachzuweisen, daß nur aus
dieser Steigerung der geistigen Vermögen die Schöpfungen New-
tons, Kants, Goethes und Mozarts entsprungen sind. Diese Aus-
führungen sind geeignet, das Bewußtsein des Durchschnittsmen-
schen zu heben. Sie wollen die Kluft aus der Welt schaffen, die
man zwischen Geistern ersten und zweiten Ranges annimmt. Uns
scheint aber die Fragestellung keine ganz richtige zu sein. Geniali-
tät erscheint uns als das inhaltschaffende Vermögen des Geistes
und den Gegensatz zu bilden zu der bloß formalen Verstandestätig-
keit. Beide Vermögen sind in jedem Menschengeiste vorhanden;
bei dem einen überwiegt das erste, bei dem ändern das zweite.
Genie nennen wir einen Menschen, bei dem das inhaltschaffende
Vermögen in hervorragendem Maße ausgebildet ist. Nicht als
Steigerung der formalen Anlagen erscheint uns die Genialität,
sondern als eine hervorstehende Ausbildung einer besonderen
Seite des Geistes, die bei der Mehrzahl der Menschen nur wenig
entwickelt ist.

KARL BLEIBTREU • LETZTE WAHRHEITEN


Leipzig 1892

Wenn jemand, wie es nach dem Titel gerechtfertigt erschiene, in


diesem Buche die Resultate philosophischer Erwägungen suchte,
so wird er sich arg getäuscht sehen. Ansichten wird man finden,
wie sie Laune und Willkür eines geistreichen, aber den Ernst
ruhigen Denkens scheuenden Mannes aufstellen, aber man wird
sich auch beleidigt fühlen über die Zumutung, das allersubjek-
tivste Gerede in Dingen hinnehmen zu sollen, worüber nur die
Vernunft sprechen sollte, die sich bis zu einem möglichst hohen
Grade der Objektivität durchgearbeitet hat. Bleibtreu spricht über
das Wesen des Menschen, über Geschlechtsverhältnis und Liebe,
über Ehe und Familienleben, über das Genie, über Intellekt und
Wille, über Strafgesetz und Sozialismus alles aus, was ihm ge-

506


fällt, ohne sich weiter darüber Skrupeln zu machen, daß persön-
liche Vorliebe für eine Ansicht doch noch kein Kriterium ihrer
Wahrheit ist. Herrn Bleibtreu vorzuwerfen, daß durch solche
Schriften, wie die seinige es ist, das Gefühl für die Gewissenhaf-
tigkeit in den großen Lebens- und Weltfragen abgestumpft wird,
dazu bin ich nicht Philister genug, habe mich auch vielleicht
beim Lesen derselben zu gut amüsiert. Auch mir hat manche
geistreichelnde, halb-, viertel- und achtelwahre Behauptung ganz
gut gefallen. Aber das Buch ist doch schlecht, und zwar deshalb,
weil Herr Bleibtreu keine Ahnung davon hat, daß ein jeglich
Ding viele Seiten hat. Von jedem Satze, den er aufstellt, ist auch
das Gegenteil wahr. Ein deutscher Schriftsteller, der das nicht
weiß, erscheint wie ein Überbleibsel aus dem vorigen Jahrhun-
dert. Seit die Deutschen eine Philosophie und Goethes Werke
haben, wissen sie, daß ein Augpunkt nicht genügt, um ein Ding
zu betrachten, sondern daß man um dasselbe herumgehen und es
von allen Seiten ansehen muß. Es ist ja prächtig, was Herr Bleib-
treu vom Genie sagt, daß es sein eigener Maßstab ist, daß es ohne
ein fast bis zum Größenwahn gehendes Selbstbewußtsein nicht
bestehen kann; aber damit ist das Wesen des Genies nur von
einer Seite beleuchtet, und das gibt immer ein Zerrbild, eine
Karikatur. Bleibtreu ist ein Karikaturenzeichner der «letzten
Wahrheiten». Er tritt für Monogamie mit Auflöslichkeit der Ehe
ein. Die Kinder sollen der Mutter gehören. Vaterliebe hält er für
Heuchelei. Wer A sagt, der muß auch B sagen. Das heißt in
diesem Falle: wer Dinge wie Bleibtreu fordert, muß uns auch die
sozialen Verhältnisse schildern, unter denen dieselben möglich
sind. Die Verwandtschaft von Genie und Irrsinn behauptet Bleib-
treu im Anschlüsse an Lombroso. Er will die Sache sogar genauer
formulieren: Unter ungünstigen Umständen tritt überall da Irr-
sinn ein, wo unter günstigen Umständen Genialität. Hat denn
Herr Bleibtreu nie gehört, daß sich die Genialität auch unter den
ungünstigsten Umständen entwickelt hat? Oder sagt er einfach:
ja, dann waren diese Umstände nur scheinbar ungünstig; in Wahr-
heit aber gerade dem Genie günstig, das durch diese oder jene
Schwierigkeit erst recht gestählt wurde? Auf diese Weise könnte

507


man natürlich jeden beliebigen Satz begründen. Bleibtreus Gründe
unterscheiden sich an Wert übrigens nicht sehr von diesen. Alles
in allem: Bleibtreus Buch hätte nur dann einen Sinn, wenn der
Verfasser ein Gott und seine Behauptungen göttliche Gebote
wären, eine Art von Offenbarungen, welche die übrige Mensch-
heit einfach kritiklos hinnehmen müßte. Wir halten den Herrn
Bleibtreu für keinen Gott, sein Buch aber für amüsantes, dilet-
tantenhaftes Geschreibsel.

GEGEN DEN MATERIALISMUS

Gemeinverständliche Flugschriften, herausgegeben von Dr. Hans
Schmidkunz. Stuttgart 1892. — I. Moriz Carriere, Materialismus
und Ästhetik. Eine Streitschrift. — II. Gustav Buhr, Gedanken eines
Arbeiters über Gott und Welt. Mit einer Einleitung von Theobald
Ziegler. — III. Ola Hansson, Der Materialismus in der Literatur

Eine aufrichtige Befriedigung muß diese Sammlung von Flug-


schriften gegen den Materialismus jedem Gebildeten bereiten, der
noch nicht von dem verführerischen Sirenengesänge des Materia-
lismus auf bedenkliche Abwege des Denkens gebracht ist. Hans
Schmidkunz erwirbt sich ein großes Verdienst dadurch, daß er die
Stimmen der Idealisten aufruft gegen die verheerenden Wirkun-
gen einer Weltanschauung, die geeignet ist, einen weiten Anhän-
gerkreis zu gewinnen, weil sie eine Grundeigenschaft hat, durch
die man die Menge immer anzieht: die Banalität. Hans Schmid-
kunz hat auch durch seine eigenen Schriften bewiesen, daß sein
Hauptstreben dahin geht, dem Materialismus einen Damm ent-
gegenzusetzen. Er hat die schwierigen Gebiete des Hypnotismus
und der Suggestion für die Psychologie zu durchforschen gesucht,
weil er hier Aufgaben zu finden glaubte, denen der Materialismus
mit seinen Trivialitäten nicht beikommen kann. In diesem Sinne
begrüßen wir das Unternehmen als ein im eminenten Sinne zeit-
gemäßes. Wenn wir nun auf die drei ersten Schriften der Serie

508


eingehen, so müssen wir als die weitaus beste, ja als eine ganz
einzige Leistung in ihrer Art die von Carriere rühmen. In seiner
vornehmen, von tiefer philosophischer Einsicht ebenso wie von
feiner Kunstkennerschaft geleiteten Art weist der hervorragende
Ästhetiker nach, wie der Materialismus nie imstande sein wird,
das Wesen des Schönen zu begreifen und eine Ästhetik zu be-
gründen. Der Naturalismus und Materialismus sind nach seinen
Ausführungen weder imstande, das Schöne hervorzubringen noch
es zu begreifen. Wer nicht an eine ideale Welt glaubt, hat keine
Veranlassung und damit auch keine Berechtigung, der Welt der
Natur eine solche der Kunst gegenüberzustellen. Die gemeine
Wirklichkeit durch eine Art photographisches Verfahren in der
Kunst einfach wiederzugeben, ist keine durch die Natur des Men-
schen gegebene Aufgabe. Nur wer Sinn und Verständnis für eine
ideale Welt hat, der weiß, warum die Wirklichkeit mit Notwen-
digkeit aus sich selbst heraus ein höheres Reich, das des Idealismus,
gebiert. Mit schlagenden Worten zeigt Carriere, wie die gemeine
Sinnenwelt in jedem ihrer Punkte uns über sich selbst hinausweist.
Wir verstehen sie nicht, wenn wir bei ihr stehenbleiben.

In zweiter Linie steht die Schrift von Ola Hansson. Es wird in


der Gegenwart viel gesprochen von diesem Manne, namentlich
die jüngere Generation tut es. Es ist auch immer viel Anregendes
in seinen Aufsätzen und Schriften. Aber sein ganzes geistiges We-
sen erscheint uns wie ein Organismus ohne Rückgrat. Es vibrieren
alle Nerven an seinem Leibe in der regsten Weise bei dem leise-
sten Eindrucke der Außenwelt. Dann fühlt sich auch sein Geist
zu den mannigfaltigsten, immer geistreichen Bemerkungen veran-
laßt. Er sagt dann auch manches Triviale, aber nie in trivialer
Weise. Nur fehlt all seinem Schaffen das Zentrum. Seine ein-
zelnen Aussprüche und Ansichten stimmen nicht zusammen. Es
fehlt an einem gemeinsamen Zug, der sein ganzes Wesen durch-
zöge. Dieser Mangel seiner ganzen Persönlichkeit tritt uns auch
hier entgegen. Er sagt vieles Interessante, aber es greift keine
Totalanschauung durch. Seine Ausführungen gipfeln auch nicht
recht in greifbaren Schlußergebnissen. Was er über die Mechani-
sierung unserer ganzen Literatur sagt, über die Verdrängung des

509


Künstlers durch den Schriftsteller, den Journalisten, ist treffend,
aber es entbehrt jeder Tiefe. Die Schrift ist eine Sammlung geist-
reicher Apercus, aber durchaus nicht geistvoller. Wer nach Car-
riere, dem Idealisten, der auf der gründlichen, tiefen deutschen
Philosophie fußt, den modernen, prinzipienlosen Vielredner hören
will, und zwar in einer typischen Form, der lese diese Broschüre
von Ola Hansson. Wir schreiben diesen Satz in einem guten Sinne
nieder, denn von Rechts wegen soll jeder Gebildete, der mit der
Gegenwart lebt, diesen Typus kennenlernen.

Was endlich Buhrs Schrift betrifft, so ist es immerhin interes-


sant zu vernehmen, was ein einfacher Arbeiter - ein solcher ist
Buhr — über Gott, Welt und Menschenwesen denkt. Doch müssen
wir gestehen, daß wir solche Anschauungen schon öfter, sogar
häufig, aus dem Munde von Arbeitern gehört haben. Buhr hat vor
anderen nur voraus eine gewisse Beherrschung der Sprache, die
ihn in den Stand setzt, seine Gedanken in klarer, verständlicher
Form auszusprechen. Diese Eigenschaft ist allerdings hoch anzu-
schlagen bei der geringen Belesenheit Buhrs, wie sie uns Theobald
Ziegler in seiner sehr lesenswerten Einleitung schildert. Wer eine
Arbeiter-Individualität in ihrer vollen Tiefe kennenlernen will,
dem wird diese Schrift von großem Nutzen sein.

Damit möchten wir die drei ersten Schriften gegen den Mate-


rialismus als eine in unserer Zeit sehr beachtenswerte und ver-
dienstvolle Erscheinung den weitesten Kreisen empfohlen haben.

DAS DASEIN ALS LUST, LEID UND LIEBE

Die altindische Weltanschauung in neuzeitlicher Darstellung.
Ein Beitrag zum Darwinismus, Braunschweig 1891

Zeus im Frack mit weißer Binde, das ist der Eindruck, den uns


die indische Evolutionslehre, als moderner Darwinismus drapiert,
macht. Man braucht nur zweierlei Bedingungen zu erfüllen: die
Esoterik der Inder grobanschaulich zu nehmen und den Darwinis-

510


mus mißverständlich über das Reich der Körperwelt auszudehnen,
dann kann man ein philosophisches Ungeheuer schaffen, wie es
dieses Buch ist. Die intuitive Weisheit des Orients strömt in
einem tiefen Bette. Nur der Forscher, der sich in das für die Er-
kenntnis gefährliche Element wagt, kann den Grund erreichen.
Der Verfasser dieses Buches will mit Verstandesaugen bis zu dem-
selben sehen. Er muß daher den Fluß in ein breites, seichtes Bett
ableiten. Das ist ihm gelungen. Man kann ohne geistige Schwimm-
kunst bei dem Werke auskommen. Das Wasser der mechanischen
Naturerklärung, zu dem der Verfasser — er steht nicht auf dem
Titelblatt - uns führt, reicht kaum bis an die Knöchel. Wer im
Individuum den Allgeist, im Einzelwesen die Summe von Exi-
stenzen, die dasselbe zu durchlaufen hat, erkennen will, der muß
vor allen ändern Dingen begreifen, daß dies nur durch Vertiefung
in sein Inneres geschehen kann, nicht durch eine äußerliche Be-
trachtungsweise. Wer seine eigene Individualität als Menschen-
wesen versteht, der findet alle niederen Daseinsformen in sich;
er sieht sich als oberstes Glied einer weiten Stufenleiter; er weiß,
wie alles andere lebt, wenn er es nachzuleben, wiederzuleben ver-
steht. Ein höheres Leben vermag jedes niedere in sich aufzuneh-
men und in seiner Art wieder zu vergegenwärtigen. Darauf beruht
die Möglichkeit des Verstehens der Welt durch den Menschen.
Diesen Gedanken als eine in der Zeitenfolge vor sich gehende
Verkörperung des Individuums in verschiedenen, immer vollkom-
meneren Formen vorzustellen ist bloß bildliche Darstellung. So
meint es die Esoterik. Wer die Bilder für die Sache nimmt, weiß
nichts von Esoterik. Es ist geradezu eine Eigentümlichkeit des
morgenländischen Geisteslebens, daß es Bilder schafft, die mit bis
ins einzelne gehender Genauigkeit und Anschaulichkeit große
Menschheitsgedanken ausdrücken. Man sollte für die weiteste Ver-
breitung dieser Bildermassen sorgen, aber man soll sie nicht durch
Aufpfropfung abendländischen Realismus entstellen. Das vorlie-
gende Buch besorgt das bis zur Unkenntlichkeit.

WEIMARER GOETHE-AUSGABE


BERICHT DER REDAKTOREN UND HERAUSGEBER

Zweite Abteilung, Band 6 und 7

Der sechste und siebente Band der zweiten Abteilung (naturwis-
senschaftliche Schriften) enthält Goethes morphologische Arbei-
ten, insofern sie sich auf Botanik beziehen. Was aus den Heften
«Zur Morphologie» (1817—1824) in die «Nachgelassenen Werke»
übergegangen ist, wurde hier vereinigt mit den noch ungedruck-
ten Abhandlungen und Skizzen zu diesem Gegenstande, an denen
das Archiv besonders reich ist. Dadurch ist Goethes «Theorie der
Pflanze» in ihrer vollen Ausdehnung und in sich geschlossenen
Gestalt in diesen beiden Bänden enthalten. Die in den «Nach-
gelassenen Werken» veröffentlichten Aufsätze ließen manche Frage
offen über die Prinzipien, auf denen diese Theorie beruht, und
über die Konsequenzen, die Goethe daraus gezogen hat. Der kun-
dige Leser mußte durch eingefügte Hypothesen die Sache erst ab-
runden. Manche der hiermit angedeuteten Lücken erscheinen
durch die Veröffentlichung des handschriftlichen Nachlasses nun-
mehr ausgefüllt.

Als Grundstock des sechsten Bandes wurde angesehen, was in


dem 1831 erschienenen «Versuch über die Metamorphose der
Pflanzen. Übersetzt von Friedrich Soret, nebst geschichtlichen
Nachträgen» enthalten ist. Das Archiv enthält für den größten
Teil dieser Partie die handschriftlichen Unterlagen. Daran schließt
sich das Zugehörige aus dem ungedruckten Nachlaß in solcher
Anordnung, daß Goethes Ideen in jener systematischen Folge er-
scheinen, die durch ihren Inhalt gefordert ist, und zwar: 1. Zur
Morphologie der Pflanzen im allgemeinen, die Prinzipien enthal-
tend (S. 279-322); 2. Spezielle Fragen und Beispiele aus der
Metamorphosenlehre (S. 323-344); 3. Naturphilosophische Grund-
lagen und Konsequenzen der ganzen Lehre (S. 345—36l); 4. Auf
Grenzgebiete zwischen Morphologie und Ästhetik Bezügliches
(S. 362-363). Diese Aufsätze enthalten die Grundprinzipien der

512


Goetheschen Anschauungen über Organik, seine Gedanken über
das Wesen und die Verwandtschaft der Lebewesen und über die
notwendigen Anforderungen an eine wissenschaftliche Systematik
derselben. Paralipomena I (S. 401—446) umfassen Vorarbeiten über
die Metamorphose der Insekten; Paralipomena II (S. 446—451)
eine Definition der Morphologie in jenem großen Stile, wie sich
Goethe diese Wissenschaft dachte, und Anmerkungen zu den ein-
zelnen Sätzen der Metamorphosenlehre, endlich Skizzen über die
Metamorphose der Würmer und Insekten. Alles unter «Parali-
pomena» Untergebrachte ist bisher ungedruckt.

Der siebente Band bringt alle botanischen Arbeiten Goethes aus


der Zeit vor der Entdeckung der Metamorphose, in denen sich
erst das Ringen mit dieser Idee kundgibt, dann die Aufsätze,
welche die Auseinandersetzung mit gleichzeitigen oder geschicht-
lichen Erscheinungen vom Standpunkte der Metamorphosenlehre
enthalten. In die erste Reihe gehören die «Vorarbeiten zur Mor-
phologie» (bisher ungedruckt), in die zweite die Aufsätze über
die Spiraltendenz der Vegetation, über die Systematik der Pflan-
zen, Rezensionen botanischer Werke, die Arbeit über Joachim
Jungius, die Aphorismen «Über den Weinbau» (ungedruckt), die
Übersetzung des Kapitels «De la symetrie vegetale» aus de Can-
dolles «Organographie vegetale» (ungedruckt), die Besprechung
des in der französischen Akademie zwischen Geoffroy de Saint-
Hilaire und Cuvier ausgebrochenen Streites und endlich der «Ver-
such einer allgemeinen Vergleichungslehre» (ungedruckt), welcher
die letzte Konsequenz der Goetheschen Organik zieht und mit der
teleologischen Naturanschauung Abrechnung hält. Für den ge-
druckten Teil waren wieder die im Archiv befindlichen Hand-
schriften maßgebend. Die «Paralipomena» enthalten durchwegs
Ungedrucktes, und zwar: Goethes Notizen über Botanik, wie er
sie sich auf der italienischen Reise gemacht hat, seine Studien
über die Infusorien und über die Wirkung des Lichtes und der
Farben auf die Pflanzen, zuletzt Skizzen und Vorarbeiten und so
weiter. Bei der Frage, was von dem handschriftlichen Nachlasse
in den Text aufgenommen werden sollte, trat die Rücksicht auf
die formelle Vollendung in den Hintergrund gegenüber der Not-

513


wendigkeit, daß im Wissenschaftlichen alles beigebracht werden
muß, was dem Gedankengebäude Goethes angehört. Auch Frag-
mentarisches und Skizzenhaftes wurde aufgenommen, wenn es zur
Anschauung Goethes Neues hinzubrachte oder anderwärts ausge-
sprochene Ideen in einem neuen Zusammenhange zeigte. Grund-
satz war: alle vorhandenen Materialien so zusammenzustellen, daß
der Leser ein vollständiges, lückenloses Bild von Goethes «System
der Botanik» erhält.

Zweite Abteilung, Band 9

Der neunte Band der naturwissenschaftlichen Schriften enthält alle
Arbeiten Goethes, die durch eine entsprechende Anordnung einen
Umriß seiner geologischen Ideen geben. Untersuchungen über
Einzelfragen und weitere Ausführungen zu seinen grundlegenden
Vorstellungen wurden hier ausgeschieden und in den zehnten
Band verwiesen. Band 9 und 10 sollen sich hinsichtlich der Geo-
logie ebenso ergänzend zueinander verhalten wie Band 6 und 7 in
bezug auf die Morphologie. Die Verteilung des Stoffes wurde in
diesem Bande gemäß der Art vorgenommen, wie sich Goethes
Gedanken naturgemäß zu einem systematischen Ganzen zusam-
menschließen. Die Betrachtungen über die empirischen Grund-
lagen bilden den Anfang, daran schließen sich theoretische Erwä-
gungen über die Entstehung einzelner geologischer Gebilde, den
Schluß bilden die umfassenden Ansichten über Erd- und Welt-
bildung. In die erste Abteilung gehören die Aufsätze: «Zur Kennt-
nis der böhmischen Gebirge und der in ändern Gegenden»; in die
zweite die Arbeiten über Entstehung und Bedeutung des Granits
und anderer Gesteine; in die dritte Goethes Beiträge zu den gro-
ßen Fragen des Vulkanismus und Neptunismus, seine Ausführun-
gen über Atomismus und Dynamismus in der Geologie und seine
schematischen und skizzenhaften Aufzeichnungen zur höheren
Geologie und Kosmologie. In bezug auf die zweite Reihe ist im
besonderen zu erwähnen, daß sich an die zuerst in der Hempel-
schen Ausgabe veröffentlichte Abhandlung über den Granit, die

514


Goethe 1784 verfaßte, eine bisher ungedruckte anschließt, welche
die Gedanken jener ersten in wissenschaftlich strengerer Form
ausspricht. Im dritten Kapitel wird die ebenfalls zuerst in Hem-
pels Ausgabe gedruckte Disposition zu einer Abhandlung über
den Bildungsprozeß der Erde und die dabei wirksamen Agentien
ergänzt durch handschriftlich im Archiv vorhandene Arbeiten
(Entwurf einer allgemeinen Geschichte der Natur, Schema zum
geologischen Aufsatz, Gesteinslagerung), die als Vorarbeiten zu
einer «allgemeinen Geschichte der Natur» aufzufassen sind. Auch
für Goethes Verhältnis zu den Vulkanisten und Neptunisten er-
gab das Handschriftenmaterial des Archivs die wichtigen Skizzen:
«Ursache der Vulkane wird angenommen» und «Vergleichs-Vor-
schläge, die Vulkanier und Neptunier über die Entstehung des
Basalts zu vereinigen».

In den Paralipomenis sind enthalten: 1. Eine mit kritischen Be-


merkungen Goethes versehene Inhaltsangabe des Noseschen Wer-
kes: «Kritik der geologischen Theorie, besonders der von Breislak
und jeder ähnlichen», die für die Auffassung von Goethes eigenen
Ansichten von Bedeutung ist. 2. Ergänzende Skizzen zu den Auf-
sätzen über die Gebirge Böhmens und anderer Gegenden.

Die Notwendigkeit einer neuen Anordnung der Aufsätze dieses


Bandes ergab sich aus dem Umstände, daß sie in Goethes Heften
«Zur Naturwissenschaft» in der zufälligen Folge ihres Entstehens
gedruckt sind. Diese Folge, die dann auch in den Nachgelassenen
Schriften beibehalten wurde, entspricht aber keineswegs dem
Inhalte.

Zweite Abteilung, Band 10

In ähnlicher Weise wie im sechsten und siebenten Bande mit den
botanischen Arbeiten Goethes wurde im neunten und zehnten mit
den geologischen verfahren. Alles zu einem systematischen Gan-
zen sich Zusammenschließende, Goethes geologische Anschauun-
gen im allgemeinen Charakterisierende, wurde dem neunten Bande
einverleibt; alles aus der systematischen Ideenentwickelung Her-

ausfallende wurde in den zehnten Band aufgenommen. Dieser ent-


hält daher die den Inhalt des neunten Bandes ergänzenden und
erweiternden Aufsätze und Skizzen. Sie sind von dreierlei Art:
1. Entwickelungen von Goethes Gedanken über mineralogische
und geologische Grundbegriffe, im Anschluß an entsprechende
Naturobjekte (S. 1-71); 2. Ansichten über die Grundgesetze des
Wirkens der unorganischen Naturkräfte, die anfangen mit den
Bildungsgesetzen der Kristalle und endigen mit den Ursachen der
Gebirgsgestaltung (S. 73—97); 3. Darstellungen über geologische
Objekte und Phänomene in ihrer Abhängigkeit von bestimmten
örtlichen Verhältnissen (S. 99-207). Der wichtigste Aufsatz des
ersten Abschnittes ist der bisher ungedruckte über den Ausdruck
«Porphyrartig» (S. 7-17). Goethe hat ihn am 12. März 1812, an-
geregt durch die Schrift von Raumers «Geognostische Fragmente»,
zu diktieren begonnen (vgl. Tagebuchnotiz). Er enthält die termi-
nologische Auseinandersetzung über den für Goethes geologische
Betrachtungsweise wichtigsten Begriff von einer ursprünglichen
unterschiedlosen Einheit der einzelnen ein bestimmtes Gestein bil-
denden Mineralmassen, aus der im Laufe der Zeit die Bestandteile
durch Differenzierung entstanden sind. Weitere Ausführungen
dieses der materialistisch-atomistischen Anschauung von der Ag-
gregation der ursprünglich als getrennt angenommenen Bestand-
teile eines Gesteins entgegengesetzten Gedankens enthalten die
S. 18-45. Hier werden die Bedingungen dargelegt, unter denen
sich die Scheidung der Bestandteile einer Gesteinsgrundmasse voll-
zieht, und die Störungen, die dieser Prozeß erleiden kann, geschil-
dert. Als eine Art Darlegung des Verhältnisses der einzelnen
Gesteine zueinander schließt sich der Aufsatz «King Coal» an
(S. 46-50). Den Schluß des Abschnittes bilden die Bemerkungen
Goethes über Begleiterscheinungen der Gletscher, Schichtung von
Gebirgsmassen, Gangbildung, Zerreißen unorganischer Massen.
Alles hier Beigebrachte, mit Ausnahme von S. 46-50, ist bisher
ungedruckt.

Der zweite Abschnitt enthält Auseinandersetzungen über die


Bildung unorganischer Formen der festen (S. 75—82) und der fest-
flüssigen Materie (Gerinnen, S. 83—84). Dann folgt der Aufsatz

516


über die «Bildung der Edelsteine» (S. 85-87), den Goethe auf eine
Anfrage des Geologen Leonhard im März 1816 geschrieben hat.
Die Gedanken, die er hier über die Entstehung einer besonderen
Art von Naturkörpern ausspricht, leiten hinüber zu den Ausfüh-
rungen über die bei der Gesteins- und Gebirgsbildung in Betracht
kommenden Kräfte chemischer Art, denen das Kapitel «Che-
mische Kräfte bei der Gebirgsbildung» (S. 88—89) gewidmet ist.
Die Aufsätze über «Eiszeit» (S. 90—97) enthalten die Daten, die
Goethe zusammenzustellen in der Lage war, als induktive Basis
für die in der Abhandlung «Geologische Probleme und Versuche
ihrer Auflösung» rein deduktiv aus seiner Weltanschauung im all-
gemeinen entwickelten Ideen. Auch die Aufsätze dieses Abschnit-
tes sind bisher ungedruckt.

Der letzte Hauptteil des Bandes beginnt mit Ausführungen


über die geologischen Verhältnisse des Leitmeritzer Kreises, be-
sonders über die Zinnformation (S. 101-126). Dieses Kapitel er-
scheint hier als geschlossene Einheit, weil es von Goethe selbst als
solche aufgefaßt wurde. Er hat es zu einem Aktenfaszikel zusam-
menheften lassen und am 3. Januar 1814 mit einem einführenden
Briefe (der Paralipomena S. 251 mitgeteilt ist) an Knebel zur
Durchsicht gesandt. S. 129-182 enthält das dem Gebiet der rein
topographischen Geologie Angehörige. Bloße Verzeichnisse von
Mineralien- und Gesteinssammlungen wurden hier nicht aufge-
nommen, sondern nur dasjenige zusammengestellt, dem ein in
Goethes geologischen Ansichten wurzelnder Gedanke als Prinzip
der Aufzählung einzelner Objekte zugrunde liegt oder an das sich
ein solcher als Folgerung knüpft. Die Aufzeichnungen über
«Mineralogie von Thüringen und angrenzender Länder» (S. 135 ff.)
sind einem Faszikel entnommen, das aus dem Anfange der acht-
ziger Jahre stammt. Die Angaben über böhmische Mineralien
(S. 142-150) sind im Jahre 1822 in Eger niedergeschrieben (Tag-
und Jahreshefte 1822).

Anhangsweise wurde an den Schluß des Bandes gestellt, was


sich in keinem der drei Abschnitte unterbringen ließ, wie die Ge-
danken über einen Brief und ein Buch des Geologen von Eschwege
(S. 183-185), ein paläontologischer Aufsatz (S. 186-188) und die

517


Abhandlung über das am Tempel des Jupiter Serapis bei Puzzuoli
zu betrachtende Naturphänomen, endlich eine Auseinandersetzung
über geologische Methoden. Die letztere gehört an diese Stelle,
weil sie darauf hindeutet, wie Goethe die deduktive und induk-
tive Methode als Einseitigkeiten erkannt und gefordert hat, daß
sie in einer höheren Naturansicht aufgehen. Der Aufsatz schließt
auf diese Weise die Bände 9 und 10 zu einem Ganzen zusammen.
Ungedruckt sind von diesem letzten Abschnitt die S. 99-150,
174-176, 185-188, 205-207. Die Paralipomena des Bandes ent-
halten geologische Vorarbeiten Goethes und Aufzeichnungen ein-
zelner Gedanken, die sich in das Gefüge des Textes nicht ein-
reihen ließen.

Zweite Abteilung, Band 11

Der elfte Band der naturwissenschaftlichen Schriften soll ein Bild
liefern von Goethes naturphilosophischen Ideen und von seinen
Vorstellungen über naturwissenschaftliche Methoden. Bei der An-
ordnung der Aufsätze und Skizzen waren zwei Gesichtspunkte
maßgebend: erstens den inhaltlichen Zusammenhang der Ideen
selbst, zweitens die methodische Behandlung anschaulich zu ma-
chen, die die Naturwissenschaft unter ihrem Einflüsse erfährt.
Herangebildet an der Erforschung des organischen Lebens, haben
Goethes Vorstellungen über wissenschaftliche Methodik erst eine
feste Gestalt gewonnen, als er sich mit den weniger verwickelten
Erscheinungen der unorganischen Natur beschäftigte. Deshalb hat
er seine hierauf bezüglichen Aufsätze mit Anlehnung an seine
physikalischen Arbeiten geschrieben.

Das Prinzip der Anordnung für S. 1—77 ist: Vorangestellt sind


die Abhandlungen über die allgemeinen Intentionen in der Natur-
philosophie (S. 1-12); dann folgen die Auseinandersetzungen
über naturwissenschaftliche Methoden (S. 13-44: Glückliches Er-
eignis, Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt und
die ungedruckten Aufsätze: Erfahrung und Wissenschaft, Beob-
achtung und Denken); den Abschluß dieses Teiles bilden die Auf-

518


sätze, in denen Goethe in der zeitgenössischen Philosophie die
Rechtfertigung suchte für seine zuerst naiv beobachtete Methode
in der Organik (S. 45-55: Einwirkung der neueren Philosophie,
Anschauende Urteilskraft); S. 56-77 (Bedenken und Ergebung,
Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort, Vor-
schlag zur Güte, Analyse und Synthese, Ernst Stiedenroths Psycho-
logie zur Erklärung der Seelenerscheinungen) enthalten das, was
Goethe anzuführen hatte zur Rechtfertigung seines Hinausgehens
über die durch die damalige Philosophie gegebenen Grundlagen,
namentlich über die in der Organik herrschende teleologische
Betrachtungsweise.

War letztere der Goetheschen Anschauungsweise bei Betrach-


tung des organischen Lebens im Wege, so war es im Gebiete der
Physik die Alleinherrschaft der Mathematik. Die Aufsätze S. 78
-102 enthalten Goethes Ansichten über die Anwendbarkeit der
Mathematik in der Naturwissenschaft und über die Grenzen
dieser Anwendung. S. 103-163 enthält die Quintessenz der
Goetheschen Naturansicht in einzelnen Aphorismen. Die Mehr-
zahl derselben ist in den «Nachgelassenen Werken» gedruckt. Die
von Eckermann getroffene Anordnung ist beibehalten worden, nur
an zwei Stellen (S. 132, 6-10, und S. 132, 16 bis S. 133, 2) sind bis-
her ungedruckte Aussprüche, die notwendig hier ihre Stelle finden
müssen, eingeschoben worden. Alles übrige Ungedruckte ist an die
bereits gedruckte Masse als ein besonderes Kapitel angereiht wor-
den. Die Anordnung dieser Aphorismen in den «Nachgelassenen
Werken» ist deshalb beibehalten worden, weil aus den Daten, die
sich auf den vorhandenen Handschriften finden, hervorgeht, daß
Goethe zum größten Teile selbst noch mit Eckermann die Redak-
tion besorgt hat. Zu sondern, was Goethes Anteil und was
nachträgliche Arbeit Eckermanns ist, erscheint nicht möglich.
S. 164—166 behandelt die Polarität als allgemeines Urphänomen;
S. 167-169 die Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks für die Ur-
phänomene; S. 170-174 die Reihe der physikalischen Wirkungen,
geordnet nach den S. 11 gewonnenen Prinzipien der Polarität und
der Steigerung; S. 175 eine allgemeine physikalische Beobachtung;
S. 176—2 39 Goethes System der physikalischen Erscheinungen. Den

Ankß, dieses System niederzuschreiben, gaben für Goethe die


Vorträge, die er im Winter 1805/06 einem Kreise von Weimarer
Damen gehalten hat. Da Goethe nicht etwa durch die Absicht,
eine leichtfaßliche Darstellung zu bieten, die wissenschaftlichen
Forderungen beeinträchtigen ließ, die er stellte, und für den an-
gegebenen Zweck die Physik in der individuellen Gestalt durch-
arbeitete, die sie seinen Prinzipien gemäß annehmen mußte, so
steht das Schema dieser Vorträge hier als Beispiel, wie er seine
methodischen Gesichtspunkte im besonderen durchgeführt wissen
wollte. Die schematische Darstellung der Farbenlehre erscheint an
dieser Stelle, weil sie hierher als ein integrierender Teil des physi-
kalischen Schemas gehört. Die Aufsätze: Polarität (S. 164—166),
Symbolik (S. 167-169), Physikalische Wirkungen (S. 170-174),
Allgemeines (S. 175), die Tabelle der physikalischen Wirkungen
zwischen S. 172 und 173 und das physikalische Schema waren bis-
her ungedruckt. An die physikalischen Schematisierungen schließt
sich dann der Aufsatz über ein «physisch-chemisch-mechanisches
Problem» (S. 240-243). Den Aufsätzen über den inneren (sach-
lichen) Zusammenhang der naturwissenschaftlichen Ideen folgen
die über die Entstehung derselben innerhalb der Entwickelung des
menschlichen Geistes (Einfluß des Ursprungs wissenschaftlicher
Entdeckungen S. 244-245, Meteore des literarischen Himmels
S. 246-254, Erfinden und Entdecken S. 255—262). Von den Apho-
rismen des letzten Kapitels sind bisher ungedruckt: S. 259, l bis
S. 26l, 5. — «Naturphilosophie» (S. 263—264) und «Eins und
Alles» (S. 265-266) gehören in die naturwissenschaftlichen
Schriften, das erste wegen des Inhalts, das zweite, weil Goethe es
selbst in die morphologischen Hefte (II, 1) aufgenommen hat.
Sie bilden den Schluß der zur «Allgemeinen Naturlehre» gezähl-
ten Aufsätze, weil sie Gedanken enthalten, welche über die Grenze
der Naturanschauung im engeren Sinne hinausgehen und von
dieser in die Goethesche allgemeine Weltanschauung hinüber-
leiten. Einem gleichen Zwecke dient die S. 313-319 gedruckte
Studie nach Spinoza, die wegen ihres rein erkenntnistheoretischen
Inhalts keinen Bestandteil der naturwissenschaftlichen Aufsätze
bilden kann, wohl aber als eine Art Anhang zu denselben zu be-

520


trachten ist. Der Aufsatz ist im XII. Band des Goethe-Jahrbuchs
durch Bernhard Suphan zuerst veröffentlicht. Angegliedert an die
naturphilosophischen Aufsätze sind die psychophysischen: «Das
Sehen in subjektiver Hinsicht» (S. 269—284) und die bisher un-
gedruckte «Tonlehre» (S. 287-294). Den Schluß des Bandes bil-
den die sämtlich hier zuerst gedruckten Aufsätze: Naturwissen-
schaftlicher Entwicklungsgang (S. 295—302), die biographische
Einzelheit (S. 303), und die der allgemeinen Wissenschaftslehre
angehörigen Skizzen: Dogmatismus und Skeptizismus (S. 307—
308), Induktion (S. 309-310), In Sachen der Physik contra Physik
(S. 311—312). Letztere Tabelle verteilt den für die Physik in Be-
tracht kommenden Erfahrungsstoff auf das mathematische, bezie-
hungsweise chemische Gebiet. Das sind rein didaktische Gesichts-
punkte; daher können sie nicht der fortlaufenden Ideenentwicke-
lung eingegliedert werden.

Zweite Abteilung, Band 12

Als wichtigster Bestandteil sind in diesem Bande Goethes Arbeiten
über Meteorologie enthalten. Sein Inhalt setzt sich aus folgenden
Stücken zusammen. Das erste bildet der Aufsatz «Wolkengestalt»
(S. 5-13), der mit Anlehnung an Luke Howards «On the Modifi-
cations of Clouds. London 1803» geschrieben ist. Goethe kannte,
als er seine Aufzeichnungen niederschrieb, nur ein Referat über
Howards Arbeit, das in Gilberts Annalen 1815 enthalten ist und
auf das er durch den Großherzog hingewiesen wurde (vgl. S. 6 des
Textes). Entstanden ist der Aufsatz im Herbst 1817; zuerst ab-
gedruckt wurde er im dritten Heft des ersten Bandes «Zur Natur-
wissenschaft». An diese Arbeit schließt sich in demselben Hefte
der Text unseres Bandes S. 15-41. Das folgende von S. 42-45, 3,
steht im vierten Heft des ersten; S. 45-58, 10, im ersten Heft des
zweiten Bandes «Zur Naturwissenschaft». Handschriftlich ist von
diesem Teile des Textes nur S. 5-13, Z. 15, im Archiv vorhanden.
Den zweiten Teil des Textes nimmt die Abhandlung «Über die
Ursache der Barometerschwankungen» (S. 59-73) ein. Sie steht

521


im zweiten Hefte des zweiten Bandes «Zur Naturwissenschaft»
und enthält eine vorläufige Mitteilung über die für Goethes ganze
naturwissenschaftliche Anschauungsweise besonders wichtige Hypo-
these, daß die Ursachen der Barometerschwankungen nicht kos-
mische, sondern tellurische seien und daß in einer gesetzmäßig
sich ändernden Stärke der Anziehungskraft der Erde diese Ursache
zu suchen sei. Die ausführliche Darlegung dieser Ansicht findet
sich erst in den «Nachgelassenen Werken» unter dem Titel: «Ver-
such einer Witterungslehre». Dieser Aufsatz enthält in systema-
tischer Folge Goethes Gedanken über meteorologische Phäno-
mene, deren gegenseitige Beziehungen und Ursachen. Wir haben
ihn zum dritten Teil des Textes gemacht (S. 74-109). Er ist hand-
schriftlich vorhanden, und zwar in einer Niederschrift, die zum
Teil von Eckermann, zum Teil von Goethes Schreiber John be-
sorgt ist. Goethe selbst hat den größten Teil noch sorgfältig durch-
korrigiert. Diese Niederschrift und der Druck in den «Nachgelas-
senen Werken» bilden die Grundlage für unsern Text. An diese
bereits gedruckten Teile des Bandes schließen sich die ungedruck-
ten Aufsätze «Karlsbad» (S. 110-114), Zur Winderzeugung
(S. 115), Wolkenzüge (S. 116-117), Konzentrische Wolkensphä-
ren (S. 118-119), Witterungskunde (S. 120), Bisherige Beobach-
tung und Wünsche für die Zukunft (S. 121-122), Meteorologische
Beobachtungsorte (S. 123—124). Der letzte Aufsatz verhält sich zu
den meteorologischen Arbeiten Goethes wie die methodologischen
Skizzen am Schluß des siebenten und zehnten Bandes zu den mor-
phologischen und geologischen Arbeiten. Er ist eine methodo-
logische Rechtfertigung der Goetheschen Anschauungsweise. An
die meteorologischen Teile schließen sich die «Naturwissenschaft-
lichen Einzelheiten»: Betrachtungen über eine Sammlung krank-
haften Elfenbeins, Über die Anforderungen an naturhistorische
Abbildungen im allgemeinen und an osteologische insbesondere,
Johann Kunckel, Jenaische Museen und Sternwarte. Diese Auf-
sätze lassen sich nicht in eines der gebräuchlichen naturwissen-
schaftlichen Fächer einreihen. Sie sind deshalb auch in den «Nach-
gelassenen Werken» schon in dem besonderen Kapitel «Natur-
wissenschaftliche Einzelheiten» untergebracht. Den Schluß des

522


Textes bilden einige an den Inhalt früherer Bände sich anreihende,
aber erst nach dem Druck derselben aufgefundene Skizzen. Den
Anfang der «Paralipomena» bildet die von Goethe bei meteoro-
logischen Beobachtungen zugrunde gelegte «Instruktion». Er hat
dieselbe mit Beihilfe der Jenenser Meteorologen im Jahre 1817
ausgearbeitet und 1820 verbessert. Er wünschte, daß nach dieser
Instruktion die Beobachtungen an einzelnen Orten gemacht wür-
den (vgl. S. 123). Den übrigen Teil der Paralipomena bilden Ein-
zelheiten, die dem Gebiet der Meteorologie angehören und die
sich dem systematischen Ganzen des Textes nicht eingliedern
ließen.

Mit dem zwölften Bande schließt die zweite, größere Hälfte


der naturwissenschaftlichen Abteilung, die Sammlung der Schrif-
ten zur Morphologie, Geologie und Meteorologie. Es wird diesem
Bande deshalb, auf Anordnung der Redaktion, ein die Bände 6-12
umfassendes Namen- und Sachregister beigegeben.

J.G.VOGT • DIE UNFREIHEIT DES WILLENS

(der Determinismus) und die Frage der Verantwortlichkeit für
unsere Handlungen. Leipzig 1892

Wir haben es hier mit einer Schrift zu tun, welche die Triviali-


täten der Kraft- und Stoffhelden wieder aufwärmt. Der Irrtum,
der hier zugrunde liegt, ist einfach der, daß Vogt, so wie alle
Deterministen, das Wesen der Kausalität verkennt. Es beruht auf
einer gewissen Dürftigkeit des Denkens, die Kategorie der Ur-
sächlichkeit für die einzige zu halten, von denen die Welterschei-
nungen beherrscht werden. Diese Dürftigkeit ist freilich heute
ein weit verbreiteter Mangel. Wir müssen es immer und immer
wieder hören, daß es die Aufgabe der Wissenschaft sei, zu den
Erscheinungen, die uns durch die Beobachtung gegeben werden,
die Ursachen zu suchen. Dies ist weiter nichts als eine ganz ein-
seitige, auf einem Vorurteil beruhende Forderung. Die Erschei-

523


nungen hängen noch in ganz anderer Weise miteinander zusam-
men als nach dem Gesetze von Ursache und Wirkung. Wir haben
einen Vorgang noch durchaus nicht begriffen, wenn wir seine
Ursache kennen. Wir müssen uns vielmehr in seine eigene We-
senheit vertiefen. Der Physiker studiert heute gar nicht mehr das
Wesen der Farben, sondern die sie verursachenden Wellenvor-
gänge, der Psychologe nicht mehr die Handlungen der Persön-
lichkeit, sondern deren unpersönliche Veranlassungen. Das soll
empirische Forschung sein! Wer sich wahrhaftig in die Natur der
menschlichen Persönlichkeit vertieft, der wird einfach die Freiheit
als eine Tatsache hinstellen müssen, die ebenso erfahrungsgemäß
gegeben ist wie die Wärme- und Lichtvorgänge.

Dr. R. v. KOEBER • DIE LEBENSFRAGE


Eine erkenntnistheoretische Studie. Leipzig 1892

Eduard von Hartmann vertritt in der Erkenntnistheorie den so-


genannten transzendentalen Realismus. Dieser nimmt die Idealität
der uns gegebenen Erscheinungswelt an, behauptet aber, daß der
Inhalt derselben auf ein transsubjektives Ding an sich tran-
szendental bezogen werden müsse. Er geht von der Ansicht aus,
daß unsere in den Formen des Raumes, der Zeit und der Kau-
salität vorhandene Sinnes- und Gedankenwelt durch und durch
subjektiven Charakter habe, daß jedoch diese Welt durch die Ein-
wirkung einer objektiven auf unser Subjekt zustande komme. Er
glaubt auf diese Weise den Illusionismus zu überwinden, der die
ganze Wirklichkeit in eine Summe subjektiver Erscheinungen
aufzulösen droht, hinter denen nichts Objektives steckt. Diese
erkenntnistheoretische Ansicht ist durch die realistischen Ele-
mente von Kants «Kritik der reinen Vernunft» entstanden, die
ein ganz unklares Durcheinander von Idealismus und Realismus
ist. Wer nur mit einigermaßen unbefangenem Blicke diesen tran-
szendentalen Realismus ansieht, der muß zu der Überzeugung

524


kommen, daß jenes von ihm hypothetisch angenommene «Ding
an sich» aber weiter nichts ist als eine Ablagerungsstätte für alle
möglichen unklaren Vorstellungen. Der christliche Offenbarungs-
glaube kann seinen ganzen Himmel mit sämtlichen Engeln, der
Spiritist all seine Spirits in jene dunkle Region versetzen, wo das
«Ding an sich» wuchert. Daß letzterer Fall wirklich eintreten
kann, dafür ist das uns vorliegende Buch ein vollgültiger Beweis.
Dr. Koeber bettet den ganzen spiritistischen Glauben der Aksakow
und Genossen in das bequeme Lager des «Ding an sich». Dem
transzendentalen Realismus steht der immanente Monismus gegen-
über, der in folgenden Sätzen wurzelt: 1. Die uns gegebene Welt
ist aus sich selbst erklärbar, ohne Zuhilfenahme eines außerhalb
liegenden Prinzips. 2. Für die Annahme eines «Ding an sich»
findet sich in unserem ganzen Begriffssysteme keine Notwendig-
keit. 3. Die Annahme, daß die uns gegebene Welt bloß eine
Summe von Vorstellungen ist, ist eine unberechtigte.

Weil der transzendentale Realismus die in Punkt 3 angedeutete


Annahme macht, muß er die Welt für eine Illusion erklären, falls
sie nicht in einem «Ding an sich» gegründet ist. In dieser An-
nahme liegt aber auch der Grundirrtum dieser Anschauung. Den
gesamten Weltinhalt für Illusion zu erklären, hat überhaupt gar
keinen Sinn. Die Vorstellung, daß etwas eine Illusion ist, hat nur
Berechtigung, wenn es sich herausstellt, daß jenes «Etwas» der
Sache nicht wahrhaftig gleichkommt, wofür man sie gewissen
charakteristischen Eigenschaften nach gehalten hat. Dazu muß
aber jenes andere, mit dem die Verwechselung stattgefunden hat,
überhaupt existieren. Den gesamten Weltinhalt kann man aber
doch nicht mit irgendeinem anderen verwechseln. Eine solche Ver-
absolutierung des Begriffes der Illusion ist ein Widerspruch in
sich selbst.

Eduard von Hartmanns großartige philosophische Schöpfungen


beruhen darauf, daß er in der Natur- und Geschichtswissenschaft
nicht den transzendentalen Realismus, sondern den immanenten,
konkreten Monismus zugrunde legt. Dadurch hat er jene ideali-
stisch-evolutionistische Richtung der Wissenschaft begründet, die
allein zu einer vernünftigen Weltanschauung führt. Ich stehe

525


nicht an, wegen dieses Umstandes die «Phänomenologie des sitt-
lichen Bewußtseins» und «Das religiöse Bewußtsein der Mensch-
heit» zu den bedeutendsten philosophischen Schöpfungen zu zäh-
len, die es gibt. Der «transzendentale Realismus» aber scheint mir
aus einem Irrtum zu entspringen und zu unzähligen Verirrungen
zu führen. Das Koebersche Buch ist eine solche.

FRANZ BRENTANO • ÜBER DIE ZUKUNFT DER PHILOSOPHIE

Mit apologetisch-kritischer Berücksichtigung der Inaugurationsrede

von Adolf Exner «Über politische Bildung» als Rektor der Wiener

Universität. Wien 1893

Brentano legt Wert darauf, einer der ersten gewesen zu sein, der


das Wort ausgesprochen hat: «Die Methode der Philosophie ist
keine andere als die der Naturwissenschaften.» Von der allgemei-
nen Anerkennung dieses Prinzips macht er in vorliegender Bro-
schüre das Schicksal der Philosophie in der Zukunft abhängig.
Wir müssen darinnen die Signatur einer unphilosophischen Den-
kungsart erkennen. Die Ausdehnung der naturwissenschaftlichen
Betrachtungsweise auf gewisse zum Beispiel psychologische Ge-
biete kann nichts liefern als einen Zuwachs der Naturwissen-
schaft, eine Erweiterung der letzteren um einen neuen Inhalt, nie-
mals aber Philosophie. Wundts Experimentalpsychologie ist ein
naturwissenschaftliches, kein philosophisches Kapitel. Die Philo-
sophie kann sich nicht damit begnügen, Erfahrungen zu sammeln
und zu systematisieren; sie muß um eine Stufe tiefer gehen und
fragen: was bedeutet überhaupt die Erfahrung; welchen Wert hat
sie? Durch das philosophische Denken können Erfahrungswahr-
heiten erst in das rechte Licht gerückt werden. Wer es versteht,
mit dem richtigen Begriffe irgendeine Sache zu betrachten, dem
zeigt sie sich von einer ganz anderen Seite als dem, der sie ein-
fach auf sich wirken läßt. Begriffe aber können wir nie erfahren.
Sie müssen im Denken erzeugt werden. Nie wäre Haeckel zum

526


ontogenetischen Grundgesetze gelangt, wenn er es nicht frei im
Denken (durch Intuition) konzipiert hätte. Es ist ganz vergebens,
die Tatsachen einfach zu beobachten. Wir müssen sie unter ge-
wisse Gesichtspunkte stellen. Auch das bloße Experiment reicht
dazu nicht hin. Ohne leitende Ideen bleibt es nur ein künstlich
hergestelltes Beobachtungsobjekt. Wenn wir beim Experiment
auch die Bedingungen einer Erscheinung selbst hergestellt haben
und daher genau den Zusammenhang zwischen Bedingung und
Bedingtem kennen, so erfahren wir dadurch doch gar nichts über
das Wesen dieses Zusammenhangs.

In der reinen Mathematik haben wir ein Beispiel, wie wir wirk-


lich zur Erkenntnis dieses Wesens kommen können. Dies ist des-
halb der Fall, weil wir hier mit Objekten zu tun haben, die wir
nicht von außen anschauen, sondern die wir restlos selbst erzeu-
gen. Die reine Mathematik kann im Gegensatz zu dem Erfah-
rungswissen als eine Erkenntnis des Wesens ihrer Objekte gelten.
Daher kann sie der Philosophie mit Recht als Vorbild dienen. Die
letztere muß nur die Einseitigkeit des mathematischen Urteiles
überwinden. Diese Einseitigkeit liegt in dem abstrakten Charak-
ter der mathematischen Wahrheiten. Sie sind bloß formal. Sie
bauen sich auf bloßen Verhältnisbegriffen auf. Sind wir imstande,
Gebilde selbst zu erzeugen, die einen realen Inhalt haben, dann
erhalten wir eine Wissenschaft nicht bloß von Formen, wie die
Mathematik eine ist, sondern von Wesenheiten, wie es die Philo-
sophie sein soll. Das oberste Gebilde dieser Art ist das «Ich».
Dies kann nicht durch Erfahrung gefunden, sondern nur durch
freie Intuition erzeugt werden. Wer diese Intuition zu erzeugen
vermag, der merkt alsbald, daß er damit nicht einen Akt seines
einzelnen, zufälligen Bewußtseins vollzogen hat, sondern einen
kosmischen Prozeß: er hat den Gegensatz von Subjekt und Objekt
überwunden; er hat die inhaltliche Welt in sich, aber auch sich
in der Welt gefunden. Von da ab betrachtet er nicht mehr die
Dinge wie ein Außenstehender, sondern wie einer, der innerhalb
derselben steht. In diesem Augenblicke ist er Philosoph geworden.
Die Philosophie will die Dinge erleben, nicht wie die Erfahrungs-
wissenschaft bloß betrachten. Dies ist ein prinzipieller Unter-

527


schied. Wer ihn nicht zugeben und die naturwissenschaftliche
Methode einfach auf die Philosophie anwenden will, der hat kei-
nen Begriff von der letzteren. Die allgemeine Anerkennung des
Brentanoschen Satzes wäre für mich gleichbedeutend mit dem
allgemeinen Verfall der Philosophie.

ZEITSCHRIFT FÜR PHILOSOPHIE UND


PHILOSOPHISCHE KRITIK

Im Verein mit mehreren Gelehrten vormals herausgegeben von

Dr. I. H. Fichte und Dr. H. Ulrici, redigiert von Dr. Richard Fal-

ckenberg, Professor der Philosophie in Erlangen. Neue Folge.

100. Band l. und 2. Heft, 101. Band 1. Heft. Leipzig 1892

Die «Zeitschrift für Philosophie» nimmt unter den philosophischen


Zeitschriften Deutschlands eine hervorragende Stelle ein. Die drei
uns vorliegenden Hefte beweisen das von neuem. Aus dem rei-
chen Inhalt des ersten hebe ich besonders hervor den Aufsatz von
Dr. Nicolaus von Seeland: «Über die Einseitigkeit der herrschen-
den Krafttheorie» und eine kurze Bemerkung Eugen Drehers über
das «Gesetz von der Erhaltung der Kraft» und über das Behar-
rungsvermögen. Die Kritik, welche Dreher, meines Erachtens
einer unserer begabtesten und leider verkanntesten Physiker, an
der genialen Konzeption Jul. Rob. Mayers übt, scheint mir im
höchsten Grade beachtenswert. Ich möchte hierbei die Gelegen-
heit ergreifen, auf Eugen Drehers Schriften und Aufsätze über-
haupt hinzuweisen. Bedauerlicherweise gelingt es diesem Gelehr-
ten nicht, über den Dualismus hinauszukommen und zum Monis-
mus sich durchzuringen. Wo aber dieser prinzipielle Mangel sei-
nes Denkens nicht in Betracht kommt, da sind seine Ausführun-
gen durch das Originelle seiner Betrachtungsweise von der größ-
ten Wichtigkeit.* Das zweite Heft enthält einen Beitrag von

* Auch im zweiten Heft finden wir einen bemerkenswerten Aufsatz


Drehers: Kritische Bemerkungen und Ergänzungen zu Kants Antinomien.

528


Robert Schellwien «Zur Erkenntnislehre Kants», den wir, gleich
der von demselben Verfasser von uns kürzlich im «Literarischen
Merkur» angezeigten Schrift, zu dem Bedeutendsten zählen, was
uns die philosophische Literatur der jüngsten Zeit vor Augen
gebracht hat. Schellwien ist nicht wie so viele unserer Zeitgenos-
sen blind gegen Kants Irrtümer. Er strebt eine über Kant hinaus-
gehende, von dessen Lehre unabhängige Lösung der philosophi-
schen Probleme an. Schellwien sagt, «daß das menschliche Be-
wußtsein, welches freilich nicht ursprünglich ist, sondern bestän-
dig nur aus der Aufhebung von Nichtwissen hervorgeht, nach-
schöpferische Identität des Wissenden und des Gewußten sein
könne, ja nach seinen eigenen Prinzipien von der Apriorität des
Erkennens sein müsse». Bis zu diesem Grade der Einsicht ist Kant
nie gekommen. Weil er es nicht ist, deshalb konstruierte er das
menschliche Bewußtsein aus zwei einander widersprechenden Be-
standteilen: dem passiven Aufnehmen und dem aktiven Verarbei-
ten des Erkenntnisstoffes, was zur Folge hatte, daß die «Kritik
der reinen Vernunft» das konfuseste Buch unter den Geisteswer-
ken ersten Ranges geworden ist.

In diesem Hefte begegnen wir noch dem Aufsatze: «Philo-


sophische Randbemerkungen zu den Verhandlungen über den
preußischen Volksschulgesetzentwurf» aus der Feder des scharf-
sinnigen, durch die Kühnheit seines Denkens uns von jeher sym-
pathischen Max Schasler.

Das nächste ist ein Jubiläumsheft. Die Zeitschrift eröffnet da-


mit das zweite Hundert ihrer Bändereihe. Aus diesem Grunde ist
dasselbe mit dem Bildnis I. H. Fichtes, des Begründers der Zeit-
schrift, geschmückt und bringt einen Bericht Rud. Seydels über
die Entstehung derselben, der sehr lesenswert ist. Er schildert in
anregender Weise die Bedürfnisse, denen das philosophische Unter-
nehmen seine Entstehung verdankt, und die Tätigkeit der an sei-
ner Gründung beteiligten Männer. Den Anfang der Abhandlun-
gen dieses Heftes machen «Psychologische Aphorismen» von Otto
Liebmann. Wie alles, was der kritische Geist dieses Forschers mit
seiner wahrhaft ätzenden Schärfe in Behandlung nimmt, erfährt
auch das psychologische Gebiet hier reiche Anregung durch scharfe


Yüklə 2,15 Mb.

Dostları ilə paylaş:
1   ...   21   22   23   24   25   26   27   28   ...   33




Verilənlər bazası müəlliflik hüququ ilə müdafiə olunur ©genderi.org 2024
rəhbərliyinə müraciət

    Ana səhifə