Rudolf steiner



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des Lebens hingibt, sondern ohne Rücksicht auf seine eigensüch-
tigen Zwecke sich in den ewigen Gang der Dinge objektiv ein-
lebt: der soll genial sein. «Die Objektivität, die Liebe, das rein
sachliche Interesse ist es, die den genialen Menschen dazu bringt,
sich in einen Gegenstand zu vertiefen, sich ganz seinem Eindruck
hinzugeben» (S. 15). «Objektivität, Liebe ist das Geheimnis der
Genialität, also auch der künstlerischen Intuition. Der Künstler
liebt den Gegenstand, den er anschaut, er will seine Existenz, und
infolgedessen betrachtet er ihn nicht einseitig, nicht nur auf ge-
wisse Merkmale hin, die ein praktisches Interesse haben, sondern
allseitig, nach allen Richtungen hin, die für die Existenz des
Dinges selbst wesentlich sind. Im Walde sieht er nicht, wie der
Holzhändler, nur einen Begriff, eine Summe Geldes, nein, er liebt
das Ding, den Wald selbst» (S. 17 f.). «Ist Genialität gleichbedeu-
tend mit Objektivität oder Selbstlosigkeit, so wird das praktische
Verhalten des genialen Menschen dahin zielen, alles, was zu tun
ist, mit ganzer Seele zu tun, mit voller Hingabe an das Werk
selbst, sei es, was es sei» (S. 55). Man sieht, überall macht Her-
mann Türck denselben psychologischen Fehler. Er hat eine Tat-
sache richtig beobachtet, nämlich die, daß das genialische Handeln
den Charakter der Selbstlosigkeit an sich trägt; aber er sieht nicht
zugleich, daß diese Selbstlosigkeit dem Genie eine sich bis zur

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geistigen Wollust steigernde Befriedigung gewährt. Das Charak-
teristische am Genie ist die Höhe seiner Kultur, die ihm gestattet,
an den höheren Notwendigkeiten der Natur ein ebensolches Inter-
esse zu haben wie der Holzhändler an der Summe Geldes, die ihm
sein Wald bringt.

Ich bin von tiefem Mißtrauen erfüllt gegen die Menschen, die


viel von Selbstlosigkeit, von Altruismus sprechen. Mir scheint,
gerade diese Menschen haben kein rechtes Gefühl für das ego-
istische Behagen, das eine selbstlose Handlung gewährt. Die Men-
schen, die behaupten, man solle nicht an dem Zufälligen, Unwe-
sentlichen, Zeitlichen des Daseins kleben bleiben, sondern nach
dem Notwendigen, Wesentlichen, Ewigen streben: sie wissen nicht,
daß das Zufällige und Zeitliche sich in Wirklichkeit von dem
Ewigen und Notwendigen gar nicht unterscheidet. Und das genia-
lische Verhalten ist gerade dieses, das aus dem Zufälligen, Un-
bedeutenden überall das Notwendige, Bedeutende hervorzaubert.
Türck sagt: «Wo das persönliche Interesse, wo die Subjektivität,
wo die Selbstsucht ins Spiel kommt, geht die Wahrheit zum Teu-
fel. Sind also Selbstsucht, Subjektivität und Lüge verschwistert, so
ist der Gegensatz der Selbstsucht, die Liebe, das reine sachliche
Interesse, die Objektivität aufs engste verbunden mit der Wahr-
heit» (S. 4). Nein, und dreimal nein! Wo das persönliche Inter-
esse, die Subjektivität, die Selbstsucht eines Menschen so veredelt
sind, daß er nicht an der eigenen Person allein, sondern an der
ganzen Welt Anteil nimmt, da ist allein Wahrheit; wo der Mensch
so kleinlich ist, daß er nur durch Verleugnung seines persönlichen
Interesses, seiner Subjektivität die großen Geschäfte der Welt zu
besorgen vermag: da lebt er in der schlimmsten Daseinslüge.

Ganz anschaulich wird Hermann Türcks Irrtum an seiner Be-


handlung des Goetheschen Faust. In Faust hat Goethe die genia-
lische Persönlichkeit dargestellt. Die Hingabe an die Magie soll
nur ein Symbol für die Hingabe an die ewigen Mächte der Welt
sein. Solange Faust diese magische Kraft des Genies in sich fühlt,
solange vermag ihm Mephistopheles nicht beizukommen. Er küm-
mert sich nicht um die zeitlichen Sorgen des Daseins. Er ist in das
Ewige vertieft. Da tritt die Sorge an ihn heran. Sie macht ihn er-

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blinden. Jetzt soll er keinen Sinn mehr haben für die ewigen
Mächte. Jetzt geht er in den zeitlichen Sorgen des Daseins auf.
In einer Alltagstätigkeit findet er seine Befriedigung. Ich bin mit
Hermann Türck vollständig darin einverstanden, daß die Sorge die
größtmögliche Veränderung in Faust hervorbringt. Türcks Inter-
pretation ist geistreich. Sie beweist aber genau das Gegenteil von
dem, was Türck beweisen will. Faust war, bevor die Sorge an ihn
herangetreten ist, gegenüber allem Zeitlichen in völliger Sorglosig-
keit. Er wollte das Ewige haschen. Als die Sorge über ihn kommt,
lernt er den Wert des Zeitlichen, der unmittelbaren alltäglichen
Daseinsziele schätzen. Das Zeitliche wird ihm nun das Ewige. Das
unmittelbare Dasein gewinnt für ihn einen unendlichen Wert. Es
kann die Spur von seinen Erdentagen nicht in Äonen untergehen.
Er sucht eben nicht mehr aus egoistischem Gelüst ein jenseitiges
Ewiges; ihn gelüstet jetzt, in selbstlosem, diesseitigem Schaffen sich
zu befriedigen. Als ihn der Schein nicht mehr blendet, als er er-
blindet, geht ihm im Endlichen das Ewige auf. Die meisten Men-
schen sind das ganze Leben hindurch blind, Faust erblindet am
Ende. Aber das Erblinden Fausts hat einen ganz anderen Sinn als
das der meisten Menschen. Diese können ihr ganzes Leben lang
das Ewige nicht sehen, weil ihr Egoismus zu eng, zu beschränkt
ist, um überhaupt zu diesem Ewigen vorzudringen. Sie hängen in
ihrer Blindheit an dem Zeitlichen. Faust hängt sein ganzes Leben
lang nicht an diesem Zeitlichen, weil er einem Trugbild des Ewi-
gen nachjagt; am Ende des Lebens hängt er sich an das Zeitliche.
Er wird da also scheinbar wie die meisten Menschen. Er erblindet.
Aber das Motiv, warum er sich an das Zeitliche hängt, ist ein ganz
anderes als bei den meisten Menschen. Er hat den unendlichen
Wert dieses Zeitlichen, seinen Ewigkeitswert erkennen gelernt.
Früher glaubte er, die ganze Welt müsse nur für ihn da sein, um
ihn zu befriedigen. Deshalb will er durch die Kraft der Magie
zum höchsten Genüsse sich erheben. Am Ende findet er, daß er in
dem Tun für die Welt den höchsten Selbstgenuß findet. Die
Selbstlosigkeit befriedigt erst seine aufs höchste gesteigerte Selbst-
sucht.

Hermann Türcks Betrachtungsweise ist also einseitig. Deshalb

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kann er auch zur Würdigung solcher Menschen wie Stirner nicht


kommen. Ihm ist Stirners Weisheit Antisophie. Stirners Verherr-
lichung des Einzigen ist ihm Ausfluß des bornierten Egoismus.
Er bemerkt gar nicht, daß gerade solche Geister das im höchsten
Maße anstreben, was er vom Genie fordert: Wahrheitsliebe. Sie
wollen nicht die heuchlerische Daseinslüge kultivieren, als wenn
der Mensch auf der höchsten Stufe seines Daseins sich völlig seines
Selbst entäußerte, um selbstlos zu wirken. Nein, diese Menschen
wollen nichts weiter als wahr sein, wahr gegen sich und wahr
gegen alle Welt. Hinweg mit der Lüge, als wenn es eine Selbst-
entäußerung, eine Selbstlosigkeit gäbe um ihrer selbst willen. Es
gibt selbstlose Menschen, die in hingebungsvoller Liebe ihr Leben
hinbringen. Aber es ist nicht wahr, daß sie dies durch Aufgeben
ihres Selbst tun. Sie lieben, weil ihnen die Liebe einen höchsten
Selbstgenuß bereitet; sie lieben, weil es ihnen Wollust ist, sich hin-
zugeben. Und wenn ein Gott aus Liebe die Welt geschaffen hätte, so
hätte er es getan, weil er in dieser Selbstentäußerung zugleich eine
göttliche Wollust, einen göttlichen Selbstgenuß empfunden hätte.
Türcks Buch ist ein höchst verdienstvolles. Es regt an. Aber in
der rechten Weise wird nur der durch dasselbe angeregt, der die
gegenteiligen Folgerungen von denen des Verfassers zieht. Der
Dualismus von Egoismus und Altruismus, von borniertem und
genialischem Individuum, den Türck vertritt, muß in einen Monis-
mus aufgelöst werden. Nicht selbstlos soll der Mensch werden; das
kann er nicht. Und wer sagt, er kann es, der lügt. Aber die Selbst-
sucht kann sich bis zu den höchsten Weltinteressen aufschwingen.
Ich kann die Angelegenheiten der ganzen Menschheit besorgen,
weil sie mich ebenso wie meine eigenen interessieren, weil sie zu
meinen eigenen geworden sind. Der «Eigene» Stirners ist nicht
das bornierte Individuum, das sich einkapselt und die Welt Welt
sein läßt; nein, dieser «Eigene» ist der wahre Repräsentant des
Weltgeistes, der sich die ganze Welt als sein «Eigentum» erwirbt,
um so die Angelegenheiten der ganzen Welt als seine eigenen zu
behandeln. Erweitert euer Selbst nur erst zum Welt-Selbst, und
dann handelt immerzu egoistisch. Seid wie das Hökerweib, das
Eier auf dem Markte verkauft. Nur besorgt nicht das Eiergeschäft

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aus Egoismus, sondern besorgt das Weltgeschäft aus Egoismus!
«Unser ganzes Kunststück besteht darin, daß wir unsere Existenz
aufgeben, um zu existieren», sagt Goethe. Und Hermann Türck
interpretiert das so: «Unser ganzes Kunststück besteht darin, daß
wir unsere selbstsüchtige und persönlich beschränkte Existenz auf-
geben, um erst wahrhaft, in erhöhter Weise zu existieren.» Ich
möchte aber so interpretieren: «Unser ganzes Kunststück besteht
darin, daß wir unsere nur an engen Interessen hängende und
interessierte Existenz aufgeben, um mit den höheren Interessen zu
existieren, in ihnen unsere selbstsüchtige Befriedigung zu finden.»
Nun wird gewiß mancher kommen und sagen: das alles sei nur
sophistisch. Ich deute nur die Selbstlosigkeit in einen höheren
Grad von Selbstsucht um. Mag sein. Aber ein solcher sollte beden-
ken, daß aller Fortschritt des Erkennens in der Umdeutung vorher
falsch angesehener Tatsachen beruht. Wer den Darwinismus nur
als eine umgedeutete Bibel ansehen will, der mag es tun. Ihm ist
nicht zu helfen. Auf ihn kann aber auch nicht gerechnet werden,
wenn es sich um wahre Erkenntnisfragen handelt. Es ist einfach
nicht wahr, daß irgendein Mensch selbstlos sein kann. Wahr ist
aber, daß seine Selbstsucht sich so veredeln kann, daß er Interesse
nicht nur an seinen eigenen, sondern an den Angelegenheiten der
ganzen Menschheit gewinnt. Predigt den Menschen nicht: sie sol-
len selbstlos sein, aber pflanzet in sie die höchsten Interessen, auf
daß sich an diese ihre Selbstsucht, ihr Egoismus hefte. Dann
veredelt ihr eine Kraft, die wirklich in dem Menschen liegt; sonst
redet ihr von etwas, was es nie geben kann, was aber die Men-
schen nur zu Lügnern machen kann.

DAS CHAOS

Vor einiger Zeit ist ein höchst merkwürdiges Buch erschienen, das
mit ähnlichen literarischen Erscheinungen seines Genres in der
Gegenwart das Schicksal teilt, viel zu wenig beachtet zu werden:
«Das Chaos in kosmischer Auslese» von Paul Mongre. Es verdient

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aber ein anderes Schicksal. Wer ungeblendet durch Zeitvorurteile
das Buch durchnimmt, wird finden, daß es heute wenig gibt, was
so anregend, ja, für den, der sich intensiv für die höchsten Daseins-
fragen interessiert, sogar aufregend wirkt. Der Verfasser bekennt,
in philosophischen Dingen eigentlich Dilettant zu sein. Er hat
keine gründliche Belesenheit in der philosophischen Literatur.
Deshalb geht er auch nicht mit der Befangenheit an die Lösung
seiner Aufgabe wie viele unserer philosophisch geschulten Zeit-
genossen. Das gibt dem Buche etwas Philosophisch-Naives. Paul
Mongre gesteht, daß nicht seine Persönlichkeit es ist, die zu dem
Problem hingetrieben hat, sondern daß ihn sozusagen das Problem
überwältigt hat, daß es an ihn herangetreten ist und ihn nicht los-
gelassen hat, bis er eine Stellung, ein Verhältnis zu ihm gewonnen
hat. Das hat etwas viel Natürlicheres, als wenn jemand durch
einen philosophischen Bildungsweg zu einer solchen Aufgabe
kommt. Wer von der Philosophie als solcher ausgeht, bei dem
müssen wir uns nur allzu oft fragen: wäre dieser Mann denn über-
haupt zu seinen Fragen gekommen, wenn er zufällig nicht Philo-
soph, sondern sagen wir Mediziner oder Chemiker geworden
wäre? Und wenn wir dann die Schriften einer solchen Persönlich-
keit lesen, dann werden wir immer wieder und wieder durch alles
mögliche an diese Frage erinnert. Bei Paul Mongre ist das nicht
der Fall. Wir werden vielmehr stets gemahnt, wie machtvoll die
aufgeworfenen Fragen auf der Menschenseele lasten, wie sie,
gleichgültig was wir sonst im Leben treiben, uns quälen, wie das
Verhältnis, das wir zu ihnen gewinnen, unendlich einflußreich für
unser Lebensglück ist.

Der Verfasser kommt von der Mathematik her. Das verrät sich


in jedem Satze. Mathematisch ist seine ganze Denkweise. Nun
hat diese Denkweise ebensoviel Vorteile wie Nachteile. Die
Schlußfolgerungen der Mathematik tragen eine mustergültige Zu-
verlässigkeit in sich. Wer mathematisch geschult ist, wird auch
dann, wenn er über andere Dinge nachdenkt, nach ebensolcher
Zuverlässigkeit streben, wie er sie von seiner Wissenschaft her ge-
wohnt ist. Aber das mathematische Denken bereitet Klippen. Es
hat als solches unmittelbar mit der Wirklichkeit nichts zu tun.

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Es ruht auf Voraussetzungen, die rein ideal sind. Wenn ein Punkt
in einer Ebene sich so bewegt, daß seine Entfernung von einem
festen Punkte immer dieselbe bleibt, dann entsteht ein Kreis. Und
von dem Kreis gelten alle die Gesetze, die wir durch die Mathe-
matik kennenlernen. Alle diese Gesetze wären auch richtig, wenn
es in der Wirklichkeit nirgends einen Kreis gäbe. Jedenfalls sind
die Gründe, warum wir diese Gesetze für richtig halten, ganz
anders als diejenigen, aus denen wir die Richtigkeit irgendeines
wirklichen Vorganges behaupten. Die Mathematik ist gewisser-
maßen ein großes Gedicht. Wenn ich den pythagoreischen Lehr-
satz beweisen will, so messe ich nicht die beiden Katheten eines
rechtwinkligen Dreieckes und dann die Hypothenuse, um zu be-
weisen, daß das Quadrat über der letzteren gleich der Summe der
über den beiden ersteren ist. Ich beweise das mit mathematischen
Mitteln an einem rein idealen Gebilde. Dennoch muß sich an
einem wirklichen rechtwinkligen Dreieck das, was ich rein gedank-
lich festgestellt habe, rechtfertigen. Ich entscheide in der Mathe-
matik über Verhältnisse in der Wirklichkeit, ohne diese erst zu
fragen. Und sie gibt mir stets bezüglich aller Folgerungen recht,
wenn sie meine Voraussetzungen erfüllt. Wenn irgendwo ein
rechtwinkliges Dreieck oder ein Kreis vorhanden sind, dann er-
füllen sie die Gesetze, die ich, ohne erst die Wirklichkeit zu fra-
gen, über sie festgesetzt habe. Das scheint den meisten Menschen
so selbstverständlich. Wer aber tiefer geht, für den enthüllt sich
hier eine große Frage. Es ist doch jeder davon überzeugt, daß die
mathematischen Gesetze, die er sich hier mit seinem Erdenkopfe
ausgedacht hat, auch auf dem Mars gelten. Er hat aber die Ver-
hältnisse auf dem Mars gar nicht danach gefragt. Wir erdichten
mathematische Gesetze, und die Wirklichkeit ist immer so gut, sie
uns zu erfüllen.

Von der Sicherheit, die gerade durch diese Stellung der Mathe-


matik zur Wirklichkeit ihren Urteilen innewohnt, ist jeder Mathe-
matiker erfüllt. Der Chemiker ist nicht in der gleichen Lage. Er
kann die Eigenschaften von Wasserstoff und Sauerstoff in ihrer
Trennung noch so gut kennen; wie sie sich verhalten, wenn sie in
Zusammenhang gebracht werden: darüber muß ihn erst die Wirk-

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lichkeit belehren. Und er ist sich, wenn er die Grundlagen seiner
Wissenschaft beachtet, immer bewußt, daß er im Unsicheren
tappt. Er muß immer erst die Wirklichkeit fragen. Allerdings,
wenn er sein Erfahrungsfeld ausdehnt, so nähert er sich in bezug
auf die Sicherheit seiner Urteile bis zu einem gewissen Grade der
mathematischen. Aber das ist doch immer nur ein Annähern.

Ich will nun zunächst gar nicht darüber sprechen, was es eigent-


lich ist, was die mathematischen Urteile von denen über wirkliche
Dinge unterscheidet. Und auch davon nicht, ob es noch anderes
in unserm Leben gibt, was ebensolche oder ähnliche Sicherheit in
sich trägt wie die Mathematik. Aber von den subjektiven Denk-
gewohnheiten wollte ich sprechen, die den Mathematiker unter-
scheiden von demjenigen, der in einem ändern Wissenszweige
sich betätigt.

Der Mathematiker ist daran gewöhnt, nur sich, nur seine Denk-


notwendigkeiten zu fragen, wenn er Entscheidungen trifft. Und
er ist ebenso daran gewöhnt, seine Wahrheiten in der Wirklich-
keit unbedingt gültig zu finden. Mit solchen Gefühlen betritt er
im Grunde jede Sphäre, in die ihn das Leben führt.

Und mit solchen Gefühlen betritt Paul Mongre den Boden der


großen Daseinsfrage. Das ist seine Gefahr. Es ist zweifellos, daß
seine Schlußfolgerungen für diese höchsten Daseinsfragen maß-
gebend sein werden, wie der pythagoreische Lehrsatz für die Wirk-
lichkeit maßgebend ist, wenn für jene Schlußfolgerungen die Vor-
aussetzungen der Wirklichkeit ebenso zutreffen wie für den pytha-
goreischen Lehrsatz. Ja, wenn dieses «wenn» nicht wäre!!! Erdichtet
mathematische Zusammenhänge. Es gibt für euch zwei Möglichkei-
ten. Entweder in der Wirklichkeit sind irgendwo solche Vorausset-
zungen, wie ihr sie macht, dann könnt ihr auch die Folgerungen,
welche die Wirklichkeit aus diesen Voraussetzungen zieht, in euer
mathematisches Netz einspinnen. Erfüllt euch aber die Wirklich-
keit eure Voraussetzungen nicht, dann schwebt ihr mit euren
mathematischen Erdichtungen im Leeren. Aber das eine wie das
andere schadet der Wahrheit eurer Behauptungen gar nichts. Der
pythagoreische Lehrsatz bliebe wahr, auch wenn er in keiner Wirk-
lichkeit sich erfüllte. Die Wahrheit des Mathematischen ist also in

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dieser Hinsicht von der Wirklichkeit gar nicht abhängig. Der
Mathematiker hat es somit lediglich mit sich selbst zu tun.

Was beweist das alles? Ich glaube, sonnenklar geht daraus her-


vor, daß etwas wahr sein kann, ohne daß durch diese Wahrheit
über die Wirklichkeit etwas ausgemacht ist. Bei den großen Welt-
problemen greifen wir aber unbedingt in die Wirklichkeit hin-
über. Wir fühlen uns gar nicht gefördert dadurch, daß wir sagen
können: wenn gewisse Voraussetzungen zutreffen, dann sind ge-
wisse Folgerungen unbedingt notwendig. Wir wollen wissen, ob
und inwiefern die Voraussetzungen zutreffen. Ich bleibe bei dem
Beispiel des pythagoreischen Lehrsatzes. Er ist wahr. Er ist erfüllt,
wenn es rechtwinklige Dreiecke in der Welt gibt. Damit bin ich
zufrieden. Ist das aber ebenso der Fall, wenn ich nach dem Ur-
sprung des Menschen frage? Hat ihn ein Gott geschaffen? Hat er
sich aus niederen organischen Wesen entwickelt, so wie der Dar-
winismus feststellt? An solchen Fragen bin ich ganz anders inter-
essiert als an den mathematischen. Ich muß, wenn ich nicht an
aller Einsicht verzweifeln soll, an die Voraussetzungen selbst heran.
Und kann ich nicht, dann muß ich eben an meiner Einsicht ver-
zweifeln. Dann muß ich mir eben sagen: ich wandle im Dunkel
durch die Welt, ohne zu wissen, was ich bin, woher ich gekom-
men, was aus mir werden soll. Ich möchte in einer paradoxen
Form dem Mathematiker sagen, woher das kommt. Es kommt
davon, weil er Mathematiker ist und nicht rechtwinkliges Dreieck.
Als Mathematiker interessiert ihn sein Satz. Wenn er aber recht-
winkliges Dreieck wäre, so wäre ihm nicht nur die Wahrheit dieses
Satzes interessant, sondern auch das wirkliche Zutreffen der Vor-
aussetzungen. Ich stehe als rechtwinkliges Dreieck dem Mathe-
matiker gegenüber. Der sagt sich: wenn dies Ding existiert, so
muß es dieses Gesetz erfüllen. Damit bin ich, das rechtwinklige
Dreieck, nicht zufrieden. Ich will über dieses «wenn» mich er-
klären. Zur «Wahrheit» will ich noch etwas anderes.

In keinem anderen Falle wie das rechtwinklige Dreieck dem


Mathematiker gegenüber ist nun aber der Mensch dem mathema-
tischen Denker gegenüber. Das zu übersehen, ist nun gerade ein
mathematischer Denker zu sehr geneigt. Er glaubt leicht: er könne

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über das Weltproblem wie über Aufgaben der Mathematik spre-
chen. In diesen Fehler verfällt Paul Mongre. Ein Beispiel. Er
bringt den auch schon anderwärts geltend gemachten Gedanken
vor: «Wegen der Relativität unseres Messens fallen die absoluten
Maße der Raumgebilde nicht in unser Bewußtsein — wir würden
nichts davon merken, wenn das Weltall seine wirklichen Dimen-
sionen plötzlich hundertfach vergrößerte oder verkleinerte, da an
dieser Gesamtveränderung sowohl die zu messenden Objekte als
auch unsere Maßstäbe teilnehmen. Soll das nun etwa heißen, das
Weltall wäre wirklich, im transzendent realistischen Sinne, ein
beliebig aufschwellender oder einschrumpfender Gummiball?
Nein, sondern nur, daß jenseits unserer relativen Größenwahrneh-
mung der Begriff räumlicher Größe überhaupt gegenstandslos
wird.» Das ist mathematisch gedacht. Aber nehmen wir an, jemand
ginge nun weiter und ziehe aus diesem unzweifelhaft wahren
Gedanken den Schluß: wenn außer unserem Bewußtsein alles seine
Gültigkeit ebenso verliert wie die Maßbestimmungen es zu tun
scheinen, so könnte es auch richtig sein, daß wir innerhalb unseres
Bewußtseins uns mit Recht als von niederen Organismen abstam-
mend betrachten; außerhalb aber könnte ein Dämon walten, der
die Menschengebilde äfft. Für mathematisches Denken ist gegen
das Ziehen eines solchen Schlusses gar nichts einzuwenden. Wenn
er gültig wäre, dann hätte ich es immer nur mit Schlußfolgerun-
gen, mit Wahrheiten zu tun, die für mich — innerhalb meines
Bewußtseins — gelten; außerhalb desselben läge die endlose Mög-
lichkeit - für mich das Chaos, über das ich nichts weiß, über das
ich nicht einmal reden darf, ohne mir klarmachen zu müssen, daß
ich über das hinausgehe, was ich behaupten darf. Zweierlei wäre
dann sicher. Ich hätte Wahrheiten; diese gelten für mich. Sie
gelten aber für nichts außer mir. Ich suche die Gesetze, nach denen
die Dinge wirken, die vor meinen Sinnen ausgebreitet sind; ich
suche die Gesetze meines eigenen Wirkens. Aber außer mir könnte
das alles nicht so sein, wie es mir erscheint. Da könnte statt der
Gesetze des Lichtes ein Dämon wirken, da könnte statt meiner
psychologischen und physiologischen Gesetze, nach denen ich den
Fuß zum Vorwärtsgehen lenke, ein Dämon sein, der ihn vorwärts

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schiebt. Dies ist das eine. Das andere ist: ich kenne die Grenzen,
bis zu denen meine Wahrheiten reichen. Ich baue mir innerhalb
dieser Grenzen eine gesetzmäßige Welt auf. Und dennoch sage
ich: bis hierher und nicht weiter. Der Mathematiker sagt: ich
messe die Dinge. Sie haben in bezug auf meinen Maßstab diese
bestimmte Größe. Wenn alles und damit mein Maßstab wächst,
dann bin ich am Ende. Weiter darf ich nicht gehen. Und für mich
sind wir an einem entscheidenden Punkte. Hat es denn überhaupt
einen Sinn, von Größe zu sprechen, wenn wir nicht messen kön-
nen? Was soll es heißen: das Weltall wird größer, wenn gar nichts
seine frühere Größe behält? Ist ein Weltall wirklich größer ge-
worden, wenn nichts seine ursprüngliche Größe behalten hat? Ist
eine Größe überhaupt vorhanden, ohne daß sie mit einer ändern
verglichen wird? Wenn es aber keinen Sinn hat, von Größer-
werden zu sprechen, wo nicht gemessen wird, ist es dann nicht
zugleich sinnvoll, das Messen unbedingt dort gelten zu lassen, wo
eben gemessen wird? Oder in weiterer Perspektive: Wenn es
keinen Sinn hat, von einer tierischen Abstammung des Menschen
außer unserer Welt zu sprechen: ist es denn nicht zugleich richtig
zu sagen, es hat unbedingten Sinn innerhalb dieser Welt und
kann gar nicht anders sein?

Wollte ich alle die mathematisch gedachten Einzelheiten bespre-


chen, welche Paul Mongre vorbringt, so müßte ich selbst ein Buch
schreiben, mindestens so stark wie das seinige. Ich will aber nur
seine Denkweise charakterisieren. Dazu wird es genügen, eine
möglichst einfache Sache in dem Sinne zu behandeln, der seine
ganze Betrachtungsweise beherrscht. In der Erfahrungswelt, in der
wir leben, sehen wir den Sohn auf den Vater, auf den Sohn den
Enkel folgen. Dieses Folgen stellt sich im Zeitablauf dar. Wenn
wir nun diesen Zeitablauf betrachten, ist in demselben keine
andere Folge denkbar als die: Vater — Sohn — Enkel? Denkbar ist
auch eine andere. Wir können uns vorstellen, daß es irgendeinen
Weltbeschauer gebe, der nicht wie wir vorwärts, sondern rück-
wärts sehe, also: Enkel — Sohn — Vater. Wieder einen anderen
Beschauer könnten wir denken, der folgenden Ablauf sehe: Sohn -
Enkel — Vater, einen weiteren: Enkel — Vater — Sohn. So stellt sich,

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was wir sehen, nur als ein Spezialfall von anderen möglichen, in
abstrakto denkbaren Fällen dar. Dehnen wir nun diese Betrach-
tung in der mannigfachsten Weise auf die ganze uns vorliegende
Erfahrungswelt aus, so können wir uns vorstellen, daß alle Gere-
geltheit, die wir als kosmischen Zusammenhang wahrnehmen, nur
ein spezieller Einzelfall unendlich vieler denkbarer Welten sich
darstellte. Alle Gesetze, alle Begriffe, die wir auf unsere Welt an-
wenden, sind nur Spezialfälle. Wohin kommen wir, wenn wir alle
kosmische Gesetzmäßigkeit in dieser Weise als Spezialfall vorstel-
len? Wir kommen dazu, daß in der Unsumme von allgemeinen
Welten keines der in unserer geltenden Gesetze statthat, daß darin
keiner unserer Begriffe gilt. Wir kommen dazu, sagen zu müssen,
daß, wenn wir aus unserer Welt hinaus- und in eine andere hin-
eingehen, wir in die Gesetz- und Regellosigkeit, in das Chaos ein-
münden. Und zuletzt kommen wir noch weiter. Nichts nötigt die
verschiedenen außer uns bestehenden Möglichkeiten (in unserem
Beispiel: Sohn — Enkel — Vater; Enkel — Vater — Sohn und so
weiter), gerade die bestimmte für uns gegebene besondere Daseins-
form anzunehmen (in unserem Beispiele: Vater — Sohn — Enkel
zu werden). Ja, es braucht gar keine der denkbaren Möglichkeiten
zu existieren. Und da für das Denken die unsrige gar keinen Vor-
zug hat vor den anderen denkbaren, so braucht auch unsere nicht
notwendig zu existieren. Unsere ganze Welt, die wir wahrneh-
men, braucht also vor einer höheren Instanz (im transzendenten
Sinne, wie es in Paul Mongres Terminologie heißt) nicht zu exi-
stieren. «Warum den Namen scheuen? Unser Idealismus läuft
hier, wenn es die letzte Konsequenz gilt, in die scharfe und ge-
fährliche Spitze eines transzendenten Nihilismus aus» (S. 188).

Zu solchen Extravaganzen des Begriffes hat nun Paul Mongre


sein mathematisches Denken verführt. Der Mathematiker sondert
im Gedanken die Zeit, den Raum von dem ändern Gehalt der
Welt ab und hantiert dann mit ihnen als mit abstrakten Gebilden.
Er kann von dem Zeitablauf sprechen, der neben der Folge:
Vater - Sohn — Enkel existiert. Aber in Wirklichkeit ist dieser
Zeitablauf überhaupt nicht als solcher vorhanden. Er ist nicht ge-
trennt von der inhaltlichen Folge: Vater — Sohn — Enkel. Der

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Sohn ist nur möglich als Folge des Vaters und der Enkel nur als
Folge des Sohnes. Sie geben sich selbst die Zeitfolge. Und diese
letztere hat ohne sie gar keinen Sinn, ist ein leeres Abstraktum.
Ein anderer Weltbeschauer mag meinetwegen zuerst den Enkel,
dann den Sohn, dann den Vater sehen. Das ändert nichts daran,
daß die Reihenfolge, die nicht er den drei Gliedern gibt, sondern
die sie sich selbst geben, dieselbe bleibt. Paul Mongre sondert erst
seine vielen denkbaren Welten durch Abstraktion aus unserer
wirklichen heraus. Sie sind denkbar. Aber das tut nichts. Sie sind
nur als Abstraktionen aus der wirklichen denkbar. Sie sind ohne
sie nichts. Wir können mit noch so kühnen Spekulationen nicht
aus unserer Welt hinaus. Wir bleiben innerhalb derselben. Wir
können es gar nicht mit einer Mehrheit von Welten zu tun haben,
sondern nur mit der einen, mit unserem Kosmos. Und weil das
so ist, so ist auch dieser Kosmos notwendig, so hat er durch sich
seine Gesetzmäßigkeit in sich. Er ist kein Einzelfall aus unermeß-
lich vielen; er ist die Einheit, die Richtung und Ursache, die aber
auch den Grund ihrer Existenz in sich hat. Paul Mongres Schluß-
folgerung können wir auch durch folgenden Vergleich anschaulich
machen. Ein Herrscher regiere sein Volk im Sinne bestimmter
Gesetze. Diese sind herausgewachsen aus den Empfindungen, Ge-
wohnheiten und so weiter des Volkes. Sie haben nur durch letz-
teres Bestand. Nun komme jemand und sage: Sondern wir den
Herrscher von den Gesetzen ab. Diese können nun auch andere
sein. Wir können uns unzählige Möglichkeiten denken; wie er
sein Volk regiert, ist nur ein Einzelfall von unzähligen möglichen.
Hier sieht wohl jeder sofort das Unzulässige der Schlußfolgerung.
Wir können uns zwar unendliche Möglichkeiten des Herrschers
denken, aber ein solches Denken spielt im vollständig Leeren. Wie
dieser Herrscher regiert, ist durch die Eigenheit des Volkstums
nur auf die eine Weise möglich. Paul Mongres ganze Schluß-
folgerung ist unstatthaft. Sie darf gar nicht angestellt werden.

Ich bin (wie man aus meiner vor mehreren Jahren erschienenen


«Philosophie der Freiheit» sehen kann) im Resultat mit Mongre
insoweit einverstanden, als auch ich alle Weltbetrachtung auf die
uns gegebene Erfahrungswelt einschränke, als auch ich jedes Den-

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ken über eine andere (transzendente) Welt ablehne. Aber mir ist
auch unsere Welt zugleich die einzige, wovon wir zu reden be-
rechtigt sind. Paul Mongre lehnt eine Metaphysik ab, weil ihr
Inhalt das Chaos ist; ich lehne sie ab, weil nichts aus unserer Welt
hinausführt und man nicht von dem redet, wovon zu reden keine
Veranlassung ist. Aber ich komme auch nicht zum Nihilismus,
weil ich mir nicht sage: da keine der denkbaren Welten vor einer
anderen etwas voraus hat, muß auch unsere nicht existieren, kann
sich also als Schein und Traumbild aus dem Chaos des Nichts
herausheben, sondern ich sage mir: weil es außer unserer keine
uns denkbare gibt, ist unsere notwendig, muß durch sich, nicht
durch Auslese aus unendlich vielen so sein, wie sie ist.

DIE KÄMPFE UM HAECKELS «WELTRÄTSEL»

Ein Ereignis, das tief im Geistesleben unserer Zeit wurzelnde
Gegensätze in ihrer schroffsten Form an die Oberfläche des litera-
rischen Kampfes gebracht hat, sahen wir in den letzten Monaten
sich abspielen. Der Mann, der vor nahezu vier Jahrzehnten mit
seltenem Denkermute die folgenschweren Gedanken Darwins über
die Entstehung der Lebewesen zur umfassenden Weltanschauung
ausgebildet hat, ist mit einer Schrift: «Die Welträtsel, Gemein-
verständliche Studien über monistische Philosophie» hervorgetre-
ten. Ernst Haeckel wollte in diesem Buche eine «kritische Be-
leuchtung» der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse unserer Zeit
für weitere gebildete Kreise geben und auf Grund seiner reichen
Forscherarbeit die Frage beantworten: «Welche Stufe in der Er-
kenntnis der Wahrheit haben wir am Ende des neunzehnten Jahr-
hunderts wirklich erreicht? Und welche Fortschritte nach unserm
unendlich fernen Ziele haben wir im Laufe desselben wirklich

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gemacht?»* Über die Ausführungen des Vorkämpfers der Dar-
winschen Vorstellungsart hat sich nun ein Kampf erhoben, dessen
hervorstechendste Eigenschaft die ist, daß er nicht im Tone ruhiger
leidenschaftsloser Auseinandersetzung, sondern in erbitterter, stür-
mischer Art geführt wird. Nicht logische Verirrungen, nicht unbe-
wiesene Behauptungen, nicht Erkenntnisfehler allein sind es, die
Ernst Haeckel zum Vorwurf gemacht worden sind, sondern das
wissenschaftliche Gewissen, der moralische Sinn, die Fähigkeit zu
wissenschaftlichem Forschen überhaupt sind ihm abgesprochen wor-
den. Darwin hat von Haeckels «Natürlicher Schöpfungsgeschichte»
gesagt: «Wäre dieses Buch erschienen, ehe meine Arbeit (über die
) geschrieben war, würde ich sie
wahrscheinlich nie zu Ende geführt haben; fast alle Folgerungen,
zu denen ich gekommen bin, finde ich durch diesen Forscher be-
stätigt, dessen Kenntnisse in vielen Punkten viel reicher sind als
meine» (Einleitung des Werkes ).

Und jetzt, da dieser von dem großen Reformator der Natur-


wissenschaft einst in dieser Weise ausgezeichnete Forscher die
Summe seiner Lebensarbeit in einer abschließenden Schrift zieht,
sehen wir ihn in der maßlosesten Weise von vielen Seiten gerade-
zu als den Typus eines Denkers hingestellt, wie er nicht sein soll.
Denn die Richtung, in welcher der ganze Kampf geführt wird, ist
durchaus charakterisiert durch die Worte, die einer seiner Gegner,
der in weiten Kreisen angesehene Philosoph Friedrich Paulsen, im
Juliheft der «Preußischen Jahrbücher» gebraucht hat. «Es war
nicht Freude an dem Inhalt, es war vielmehr Indignation, die
mich ... zu lesen trieb, die Indignation über die Leichtfertigkeit,
womit hier von ernsten Dingen gehandelt wurde. Daß es ein
Mann von Ruf war, der hier sprach, ein Mann, den Tausende als
Führer verehren, der selbst mit Stolz in Anspruch nimmt, dem

* Der Verfasser dieses Aufsatzes hat die Bedeutung der Haeckelschen


Weltanschauung und ihre Stellung im gegenwärtigen Geistesleben bereits
einmal vor dem Erscheinen der «Welträtsel» nach dem damaligen Stande
der Sachlage in dieser Zeitschrift geschildert. Vergleiche mein «Ernst
Haeckel und seine Gegner» in L. Jacobowskis «Freier Warte», Bd. I (J. C.
C. Bruns' Verlag, Minden i. W. 1900).

442


neuen Jahrhundert voranzugehen und den Weg zu weisen, das
steigerte die Indignation, und sie wurde nicht gemildert, sondern
geschärft dadurch, daß ich hier vielfach Gedanken, die mir wert
sind, in allerlei Verzerrungen wiederkehren sah... Ich habe mit
brennender Scham dieses Buch gelesen, mit Scham über den Stand
der allgemeinen Bildung und der philosophischen Bildung unseres
Volkes. Daß ein solches Buch möglich war, daß es geschrieben,
gedruckt, gekauft, gelesen, bewundert, geglaubt werden konnte bei
dem Volk, das einen Kant, einen Goethe, einen Schopenhauer be-
sitzt, das ist schmerzlich.»

Man fragt sich: Was hat der Mann getan, dem solche Vorwürfe


ins Gesicht geschleudert werden? Wer ruhig und leidenschaftslos
die «Welträtsel» durchliest und sich dabei lediglich in seinem
Urteile durch die naturwissenschaftlichen Ergebnisse der letzten
vierzig Jahre bestimmen läßt, der muß sich sagen: Haeckel hat,
allerdings mit rückhaltloser Schärfe, aber sachgemäß das Bekennt-
nis dargestellt, das er sich aus seiner unermüdlichen Forscherarbeit
heraus gebildet hat. Er hat eine reinliche Scheidung vollzogen zwi-
schen den Vorstellungen derer, die sich ihren «Glauben» auf
Grund der Naturgesetze bilden, und denen, die hierfür andere
Quellen anerkennen. Er wird selbst leidenschaftlich, wenn es gilt,
jahrhundertealte Vorurteile gegen die von ihm vertretene Anschau-
ung zu bestreiten, aber seine Leidenschaft ist die einer Persön-
lichkeit, die mit ganzem Herzen, mit tiefem gemütlichem Anteile
an dem hängt, was sie als richtig erkannt zu haben glaubt. Alles,
was Haeckel in den «Welträtseln» vorbringt, ist nichts anderes
als das Ergebnis dessen, was er fünf Jahre vorher in streng wissen-
schaftlicher Weise in seiner «Systematischen Phylogenie» ausge-
führt hat, in einer Arbeit, für die er eine der bedeutendsten
wissenschaftlichen Auszeichnungen der Gegenwart, den «Bressa-
Preis» erhalten hat, der von der Turiner Akademie der Wissen-
schaften dem Gelehrten zu erteilen war, der «im Laufe des Qua-
drienniums 1895—1898 die wichtigste und nützlichste Erfindung
gemacht oder das gediegenste Werk auf dem Gebiete der physi-
kalischen und experimentalen Wissenschaften, der Naturgeschichte,
der reinen und angewandten Mathematik, der Chemie, der Phy-

443


siologie und Pathologie veröffentlicht, ohne die Geologie, die Ge-
schichte, die Geographie und die Statistik auszuschließen». Im
weiten Umkreis aller dieser Geistesgebiete hat also die Akademie
der Wissenschaften zu Turin für die Jahre 1895 bis 1898 kein
«gediegeneres» Werk, ja keine Erfindung finden können, die
wichtiger und nützlicher wäre als Haeckels «Phylogenie». -
Könnte sich Ernst Haeckel damit begnügen, seine die gesamten
Lebenserscheinungen vom Standpunkte der gegenwärtigen Wissen-
schaft umfassenden Einsichten in einer Weise vorzutragen, die
von der «strengen Wissenschaft» unserer Zeit als die einer «exak-
ten» und «objektiven» Methode anerkannt ist: man würde sich
wahrscheinlich darauf beschränken, das Urteil der Turiner Aka-
demie zu einem allgemeinen zu machen und ihn den bedeutend-
sten Biologen nach Darwin nennen. Aber Haeckels geistiger Cha-
rakter verträgt keine Halbheit. Er ist nicht imstande wie so viele
seiner naturforschenden Zeitgenossen, sich zu sagen: hier das
naturwissenschaftliche Denken — hier der religiöse Glaube. Er for-
dert den strengen Einklang zwischen den beiden. Was seine Ver-
nunft als Grundwesen der Welt erkannt hat, das will sein Gemüt
auch religiös verehren. Die Wissenschaft hat sich bei ihm in der
natürlichsten Weise zum religiösen Bekenntnis umgeformt. Er
kann nicht zugeben, daß man «glauben» könne, was nicht im Sinne
der Wissenschaft gedacht ist. Deshalb führt er einen rücksichts-
losen Kampf gegen Glaubensvorstellungen, die für ihn im Wider-
spruch mit der Wissenschaft stehen. Er hat kein Verständnis für
diejenigen, die im Sinne Kants dem Wissen nur ein beschränktes,
diesseitiges Gebiet zuweisen möchten, damit im Felde des Un-
erkennbaren der Glaube sich um so sicherer festsetzen könne.

Man wird Haeckel nie verstehen, wenn man ihn, wie das Paul-


sen und wie es auch der allerdings in einem würdigeren Tone spre-
chende Julius Baumann («Haeckels Welträtsel nach ihren starken
und schwachen Seiten») tun, als dogmatischen Philosophen nimmt.
Alle seine Ausführungen werden dadurch verzerrt. Man muß ihn,
wenn man seinen Aussprüchen den rechten Sinn geben will, bei
seinen Gedankenbildungen belauschen. Charakteristisch ist zum
Beispiel, wenn er sagt: «Jeder Naturforscher, der gleich mir lange

444


Jahre hindurch die Lebenstätigkeit der einzelligen Protisten beob-
achtet hat, ist positiv überzeugt, daß auch sie eine Seele besitzen;
auch diese besteht aus einer Summe von Empfindun-
gen, Vorstellungen und Willenstätigkeiten; das Empfinden, Den-
ken und Wollen unserer menschlichen Seele ist nur stufenweise
davon verschieden.» Obwohl Haeckel hier von Empfindungen und
Willenstätigkeiten der einzelligen Lebewesen spricht, so behauptet
er von diesen Wesen nicht mehr, als er sieht. Er hat nicht den
Gedanken, daß irgendwie in der Zelle eine Seele verborgen sei;
er hält sich an die Erfahrung. Was seinem Auge sich darbietet,
das nennt er Empfindung und Wille, weil er findet, daß es sich
durch nichts anderes von den komplizierten Seelentätigkeiten der
höheren Tiere und des Menschen unterscheidet als dadurch, daß
es einfacher, primitiver ist. Der Irrtum bei den Philosophen, die
ihn beurteilen wollen, entsteht nun dadurch, daß sie der Ansicht
sind: man müsse irgend etwas hinzudenken zu dem, was die Sinne
darbieten, um eine Erklärung liefern zu können. Sie vergleichen
dann, was sie hinzudenken mit dem, was Haeckel nach ihrer Mei-
nung hinzudenkt. Dann finden sie seine philosophischen Begriffe
im Vergleich mit den ihrigen dilettantisch. Sie haben sich auf
Grund der Entwickelung, welche die Philosophie genommen hat,
bestimmte, scharf geprägte Vorstellungen davon gebildet, was Emp-
findung, was Wille ist. Es erscheint ihnen dann als nichts anderes
denn als philosophischer Unsinn, wenn Haeckel von Empfindung
und Wille einzelliger Gebilde spricht. - Wie weit das Mißver-
ständnis gehen kann, zeigt sich klar an Urteilen, die Paulsen fällt.
Er findet in der Stufenleiter der Seele, die Haeckel gibt, das
schlimmste Beispiel eines «öden und inhaltleeren Schematisierens»,
das ihm bekannt ist. Haeckel geht von den einfachsten Lebens-
tätigkeiten der niedersten Wesen aus und verfolgt, wie die Seele
immer reicher, komplizierter wird, wenn man stufenweise zu den
höheren Tieren hinaufsteigt. Was soll daran «öde und inhaltleer»
sein? Der Inhalt, um den es sich hier handelt, ist doch der denk-
bar reichste. Es sind die unübersehbaren Beobachtungen, die wir
über die Lebensäußerungen der Organismen gemacht haben. Wer
den Gedanken Haeckels voll zu Ende denken wollte, der müßte

445


die kurze Gedankenskizze, die er gibt, ausfüllen mit einem unend-
lichen Reichtum an Erfahrungen. Wer mit dem Schema nichts
anderes mitdenkt, als was darin unmittelbar dem Wortlaute nach
ausgesprochen ist, dem allerdings muß der Gedankengang als «ödes,
inhaltloses» Schematisieren erscheinen. Was also will Paulsen?
Man kann sich davon einen Begriff machen, wenn man sich an
eine in philosophischen Schriften auch der Gegenwart immer
wiederkehrende Behauptung hält: eine wirkliche Entwickelung
könne nur so verstanden werden, daß alle Wirkungen der Anlage
nach in der Ursache bereits vorhanden sind. Man glaubt, daß man,
wenn das nicht der Fall, nur von einer zeitlichen Aufeinanderfolge
eines Zustandes auf einen anderen, nicht aber von einer Evolution
des einen aus dem anderen sprechen könne. Wer diese Ansicht von
Entwickelung hat, der kann allerdings mit der Weltanschauung
Haeckels nichts anfangen. Für ihn bleibt der ganze Haeckelsche
Monismus unverständlich. Denn im Sinne dieses Monismus kann
von einem Vorhandensein der Wirkung in der Ursache allerdings
nicht die Rede sein. Alle Wirkungen sind dieser Weltanschauung
gemäß wahre, echte Neubildungen. Als die Erde ihre letzte Ent-
wickelungsphase noch nicht erreicht hatte, als es auf ihr noch
keine Menschen gab, da war in den damals lebenden menschen-
ähnlichen Affen der Mensch in keiner Weise schon vorhanden.
Er war ebensowenig vorhanden, wie in Sauerstoff und Wasserstoff
Wasser vorhanden ist. Auch das Wasser entwickelt sich aus Sauer-
stoff und Wasserstoff, aber weder der eine noch der andere Stoff
enthält der Anlage nach das Wasser. Es ist eine vollständige Neu-
bildung. Und nehmen wir einmal an, es wäre nirgends Wasser
vorhanden, wohl aber Sauerstoff und Wasserstoff, so könnte kein
intelligentes Wesen aus der Beobachtung sagen, was entsteht, wenn
man beide Stoffe verbindet. Das kann nur durch die Erfahrung
bestimmt werden. Auch die höheren Seelentätigkeiten sind der
Anlage nach nicht in den niederen enthalten. Sie sind durchaus
Neubildungen. So ist in gewissem Sinne für den Monismus
Haeckels die Entwickelung wirklich nur die Aufeinanderfolge
eines Zustandes auf den anderen und nicht das Herauswickeln des
einen aus dem ändern. Wer in dieser Richtung mit Haeckel nicht

446


mitgeht, der kann gar nicht wissen, was dieser mit der «Stufen-
leiter der Seele» will. Er wird sich sagen: ich mag die Begriffe,
die ich mir von den niederen Lebewesen gebildet habe, drehen
und wenden wie ich will; ich kann aus ihnen nicht entwickeln,
was sich mir als Seelenleben der höheren Wesen darstellt. Philo-
sophen von der Art Paulsens verlangen eben von der rein logi-
schen Begriffsentwickelung, was diese nimmermehr leisten kann,
was vielmehr nur die Beobachtung liefern kann. Weil sie nicht
in eben dem Sinne wie Haeckel fortwährend Beobachtungsstoff
aufnehmen, wenn sie von Begriff zu Begriff schreiten, bleiben sie
bei den ersten Begriffen, die sich Haeckel gebildet hat, stehen
und finden dann das Ganze «öde und inhaltleer».

Haeckel spricht den schärfsten Tadel über diejenigen Psycho-


logen aus, die «über das immaterielle Wesen der Seele, von dem
niemand etwas weiß, phantasieren und diesem unsterblichen Phan-
tom alle möglichen Wundertaten zuschreiben». Paulsen fertigt ihn
ab, indem er sagt: «Ich brauche nicht zu sagen, wie grotesk jedem,
der auch nur ein wenig in der psychologischen Literatur der letz-
ten Jahrzehnte bewandert ist, diese Schilderung ihres Zustandes
erscheinen muß. Es ist, als ob jemand von Psychologie redet, der
die letzten dreißig Jahre verschlafen und nur etwa aus Langes
oder aus Büchners
ein paar Reminiszenzen im Ohr hat.» Welche Verkennung dessen,
was Haeckel eigentlich will! Kann denn im Ernste diesem Denker
jemand zumuten, daß er der Ansicht sei: es gäbe keine nur durch
innere Anschauung zu beobachtenden Seelentätigkeiten? Kann
man wirklich Haeckel für so naiv halten, daß er die Molekular-
bewegungen des Gehirnes mit dem Inhalt der Psychologie ver-
wechselt? Auch Haeckel fällt es natürlich nicht ein zu glauben,
daß Gehirnphysiologie Psychologie sei. Wer die menschliche Seele
verstehen will, der muß hinuntersteigen in ihre ureigenen Zu-
stände; aus den Denkorganen im Gehirn wird er sie nimmermehr
erkennen. Aber ein anderes ist, eine Sache in der Eigenart ihres
Wesens erkennen; ein anderes sie wissenschaftlich erklären. Haeckel
hat das biogenetische Grundgesetz aufgestellt. Es besagt, daß jedes
höhere Lebewesen während seiner Keimesentwickelung in ab-

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gekürzter Weise die Formen annimmt, die seine Vorfahren im
Laufe ihrer Entwickelung durchgemacht haben. Wollen wir einen
Menschenkeim in seinen aufeinanderfolgenden Formen verstehen,
so müssen wir aufsteigen zu den tierischen Ahnen des Menschen.
Wer einen Menschenkeim für sich betrachtet, ohne auf die Her-
kunft des Menschen Rücksicht zu nehmen, der kann sich nur
allerlei abenteuerliche Vorstellungen über die aufeinanderfolgen-
den Formen bilden, die dieser Keim annimmt. Er kann allenfalls
sagen, ein göttlicher Wille prägt hintereinander diese Formen aus,
oder ein inneres mystisches Bildungsgesetz ist vorhanden, das die
Umformung bewirkt. Wer aber hinaufsteigt zu den Menschen-
ahnen, der findet die Wesen, die einmal so ausgesehen haben wie
der menschliche Embryo heute auf gewissen Stufen, und er sagt
sich, dieses Aussehen ist ein Ergebnis der Vererbung. In demsel-
ben Fall wie der Embryologe, der den Menschenkeim rein für
sich betrachtet, ist der Psychologe, der die Seele des Menschen für
sich betrachtet. Diese Seele wird nur erklärlich, wenn man von ihr
hinaufsteigt zu den niederen Lebensäußerungen, aus denen sie sich
entwickelt hat. Ebenso töricht wie es nun wäre, wenn jemand
sagte, man brauche den Menschenkeim nicht zu beobachten, denn
er ist ja nur eine Wiederholung früherer Formen, ebenso töricht
wäre es, wenn man behauptete, man brauche die Seele in ihrem
Eigenleben nicht selbst zu beobachten.

Ernst Haeckel ist Naturforscher, nicht Fachphilosoph. Man


kann nicht leugnen, daß er den philosophischen Begriffen zu-
weilen Gewalt antut, wenn er sie verwendet. Einer wohlgeschul-
ten, in der Geschichte der Philosophie bewanderten Persönlichkeit
ist es natürlich ein leichtes, Haeckel Irrtümer in bezug auf die
Ideen der Philosophen nachzuweisen, denen er - wie Spinoza -
zustimmt oder die er - wie Kant — bekämpft. Paulsen schul-
meistert ihn denn gehörig wegen seiner Mißverständnisse in bezug
auf Kant. Ein anderer philosophischer Denker, Richard Hönigs-
wald, hat in der Schrift «Ernst Haeckel, der monistische Philo-
soph» nachzuweisen gesucht, wie wenig die von Haeckel gebrauch-
ten Ausdrücke «Monismus», «Dualismus», «Substanz» und so wei-
ter die Prüfung durch die gebräuchlichen philosophischen Diszi-

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plinen bestehen können. Es ist völlig überflüssig, sich mit derlei
gegnerischen Ausführungen einzulassen. Alle diese Herren haben
in gewissem Sinne von ihrem Standpunkte aus recht. Sie haben
sich in ein gewisses Begriffsnetz eingesponnen, und mit dem
stimmt nicht, was Haeckel sagt. Und dieser trifft oft nicht genau
den Sinn philosophischer Vorstellungen, wenn er von ihnen redet.
Kann es denn aber überhaupt die Aufgabe der philosophischen
Kritik sein, einen Forscher, der sich streng an die Beobachtung
hält, von dem Gesichtspunkte hergebrachter Vorstellungen zu
schulmeistern? Haeckel hat in allen Fällen, wo er solche Vorstel-
lungen bekämpft, ein sicheres Gefühl dafür, daß sich mit ihnen
im Hinblick auf die wirkliche Naturgesetzmäßigkeit nichts an-
fangen läßt. Seine Angriffe sind nicht immer logisch ganz zutref-
fend. In solchen Fällen hätten aber die Philosophen die Aufgabe,
den Naturforscher in seinem Sinne zu verstehen, zu zeigen, wie er
die Begriffe verwendet. Dann würden sie zuweilen finden, daß
man manches philosophisch schärfer, logischer im strengen Wort-
sinne sagen kann als er, nicht aber, daß er sachlich unrecht hat.
Man erhält keine günstige Vorstellung von den offiziellen Ver-
tretern der Philosophie in der Gegenwart, wenn man sieht, wie
diese ihre Aufgabe verkennen. Haeckel nennt seine Weltanschau-
ung «Monismus». Wäre es nicht eine würdigere Aufgabe, zu zei-
gen, in welchem Sinne Haeckel dieses Wort versteht, als immer
wieder und wieder darauf zu pochen, daß er doch Stoff und Kraft,
also eine Zweiheit annehme, folglich doch kein «Monist» sei.
Haeckel will für die organische Welt und für das geistige Leben
keine anderen Erklärungsmethoden, als diejenigen sind, die wir
in der unorganischen Natur anwenden. Er ist der Meinung, daß
mit derselben Notwendigkeit, mit der sich Wasserstoff und Sauer-
stoff unter gewissen Bedingungen zu Wasser verbinden, auch
Kohlenstoff, Stickstoff und andere Elemente unter gewissen Um-
ständen zu einem Lebewesen werden; und ferner, daß durch die
gleiche Art von Gesetzmäßigkeit, von der die stoffliche Welt
beherrscht wird, auch der «Geist» bedingt wird. Wenn ihm jemand
mit einem Begriff kommt wie die «rohe, unbelebte Materie, die
doch nie und nimmer zum Geist werden könne», so wird Haeckel

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erwidern: sieh dir doch diese Materie an, bringe Stoffe unter ge-
wissen Bedingungen in der Retorte zusammen und denke folge-
richtig, so wirst du nicht mehr sagen: aus Materie könne nicht
Geist werden, sondern dein Begriff von einer «rohen, unbelebten
Materie» ist eben ein falscher, ein solcher, der zu der Wirklichkeit
keine Beziehung hat. Die Einheitlichkeit in der ganzen Welterklä-
rung: das ist es, was Haeckel verlangt. Und diese Einheitlichkeit
nennt er monistisch. Man darf gegenüber dem Kampfe, den wir
in den letzten Monaten miterlebt haben, sagen: wer den Natur-
forscher will verstehen, muß in des Naturforschers Lande gehen.
Es kommt nicht darauf an, daß Paulsen, wie er uns versichert, an
keine «besondere, unsterbliche Seelensubstanz» und auch nicht
daran glaubt, daß «überhaupt die Welt einmal von einem men-
schenähnlichen Einzelwesen in ähnlicher Art wie ein Produkt
menschlicher Kunst hervorgebracht worden ist». Es kommt viel-
mehr darauf an, sich über die natürlichen Vorgänge solche Vor-
stellungen zu bilden, daß die ihnen widersprechende «besondere,
unsterbliche Seelensubstanz» und das «menschenähnliche Wesen»
wirklich innerhalb der Naturerklärung entbehrlich werden.

Und solche Vorstellungen trägt Haeckel in seinem Bekenntnis-


buche vor. Er fand sich genötigt, einmal schonungslos mit allem
abzurechnen, was zu ändern, ihnen widersprechenden Vorstellun-
gen gehört. Wer unbefangen urteilt, muß sich erhoben fühlen
durch die mutige Konsequenz, mit der er diese Abrechnung in
dem Kapitel über «Wissenschaft und Christentum» vollzieht. Man
wird vielleicht in diesem Abschnitt des Buches nicht alles ge-
schmackvoll finden, man wird zugeben können, daß für vieles ein
anderer Ton hätte gefunden werden können, ja auch, daß manches
zur Befestigung der monistischen Weltanschauung gar nicht hätte
gesagt zu werden brauchen. Aber gibt es denn gar keinen psycho-
logischen Sinn mehr in unseren gegenwärtigen Philosophen? Ist
es denn so unbegreiflich, daß einer der ersten Verkünder einer
Weltanschauung in seinen Ausführungen zu leidenschaftlich wird,
daß er mehr als «objektiv» zu nennen ist, begeistert für eine
Ideenwelt, die er Schritt für Schritt in unermüdlicher Forscher-
und Denkerarbeit erkämpft hat? Wer das nicht unbegreiflich fin-

450


det, wird nicht einstimmen können in den Zornesausbruch Paulsens
über die «äußerst peinlich berührende Neigung (Haeckels), das,
was Jahrhunderten heilig gewesen ist, in den Schmutz häßlicher
Anekdoten und niedriger Witzeleien herabzuziehen». Noch weni-
ger wird ein solcher aber irgendwelches Verständnis einer Schrift
entgegenbringen können wie der des Kirchenhistorikers Loofs in
Halle: «Anti-Haeckel. Eine Replik nebst Beilagen.» Loofs stellt
sich auf einen Standpunkt, der mit der Weltanschauung Haeckels
im Grunde nicht das allergeringste zu tun hat, der aber so geeignet
wie nur irgend möglich ist, von der Hauptsache abzulenken und
unter dem Schein, als ob Haeckel in einer Nebensache ein schwe-
res Unrecht begangen hätte, die Vorstellung hervorzurufen, er sei
ein ganz unwissenschaftlicher, aller wahren Methode hohn-
sprechender Geist. Haeckel stützt sich in den Ausführungen über
die christliche Kirchengeschichte auf das Werk eines englischen
Denkers (Stewart Roß), das unter dem Pseudonym Saladin er-
schienen ist und unter dem Titel «Jehovas gesammelte Werke,
eine kritische Untersuchung des jüdisch-christlichen Religions-
gebäudes auf Grund der Bibelforschung» in deutscher Übersetzung
vorliegt. Loofs stellt die Sache so dar, als ob es sich hier um ein
wüstes, von einem völligen Ignoranten und schmutzigen Gesellen
geschriebenes Pamphlet gegen das Christentum handelte, das mit
Ausschluß aller Kenntnisse in neuerer Bibelforschung und Kir-
chengeschichte geschrieben ist. Und was Loofs aus dem Buche vor-
bringt und was er über dasselbe sagt, ist allerdings nur zu geeignet,
diejenigen irrezuführen, die das Buch des Engländers nicht zur
Hand nehmen. Sie müssen glauben, Haeckel wäre wirklich hier in
Unwissenheit und Leichtfertigkeit so weit gegangen, eine Schmäh-
schrift heranzuziehen, von der Loofs versichert, daß es leichter sein
würde, «einem verwahrlosten Hund die Flöhe abzusuchen, als die
wissenschaftlichen Torheiten zu sammeln, die das Buch enthält».
Aber eben nur die können so urteilen, die die Schrift Saladins
nicht kennen. Wer nur weniges darin liest, wird bald finden, daß
er es mit einem wenn auch vom Standpunkte der zufällig jetzt für
richtig geltenden kirchengeschichtlichen Meinungen nicht völlig
einwandfreien, so doch ehrlichen Wahrheitsucher zu tun hat, dem

45l


alles andere näher liegt, als in frivoler Weise von irgend etwas
zu sprechen, was Menschen heilig ist. Möchte man dem Buche
auch eine geschmackvollere Ausdrucksweise wünschen: so muß
man doch die tiefste Sympathie empfinden mit dem Verfasser, der
einen kühnen, überall von einem tiefen Gemüte zeugenden Kampf
führt gegen Ideen und Einrichtungen, die er für verkehrt, für
schädlich und dem Menschenwohl störend hält. — Man kann nicht
verwundert genug darüber sein, daß ein Gegner Haeckels sich
gefunden hat, der an den eigentlichen Streitpunkten vollständig
vorübergeht und der es nicht für unangemessen hält, einen Natur-
forscher in einer Weise anzugreifen, die einzig und allein bei
einem Gelehrten einen Sinn hätte, der als Kirchenhistoriker auf-
treten wollte.

Über eines hat uns jedenfalls dieser ganze Kampf volle Klarheit


gebracht. Es hat sich gezeigt, daß unser ganzes Geistesleben weit
und breit durchsetzt ist mit Vorstellungen, die unverträglich sind
mit den ehrlich und rückhaltlos gezogenen Folgerungen der Natur-
wissenschaften. Die Unsachlichkeit und Leidenschaftlichkeit, mit
der die Träger solcher Vorstellungen diesmal gekämpft haben, ist
zugleich ein Beweis dafür, daß ihre Gründe schwach geworden
sind. Hat man auch zu erwarten, daß die Zukunft Haeckels Ge-
danken in manchem Sinne berichtigen werde: diese Berichtigung
wird nicht von denen herkommen können, die ihn heute bekämp-
fen. Hat er auch nicht überall das Richtige getroffen, er hat doch
zweifellos den Weg betreten, auf dem die Bildung des Geistes
weiterschreiten wird.

BARTHOLOMÄUS CARNERI,


DER ETHIKER DES DARWINISMUS

Was soll aus der sittlichen Weltordnung werden, wenn sich die


Überzeugung in weitesten Kreisen Bahn bräche, daß der Mensch
aus affenähnlichen Tieren durch rein natürliche Kräfte sich all-
mählich entwickelt habe? Beunruhigend stieg diese Frage in vielen
Gemütern auf, als kühne Denker nach dem Erscheinen des großen

452


naturwissenschaftlichen Reformwerkes Charles Darwins «Über die
Entstehung der Arten im Tier- und Pflanzenreich durch natürliche
Züchtung» den notwendigen Schluß zogen, daß mit der Vorstel-
lungsweise des großen Forschers vor dem Menschen nicht halt-
gemacht werden dürfe, sondern daß der Gedanke vom tierischen
Ursprünge des vollkommensten Lebewesens fortan als ein siche-
rer Bestandteil der Weltanschauung gelten müsse. Die Zahl der
weitschauenden Persönlichkeiten, die im Lauf der letzten vier Jahr-
zehnte der Meinung von der Gefährlichkeit des Darwinismus für
die moralische und soziale Entwickelung der Menschheit mit tref-
fenden Gründen entgegengetreten sind, ist nicht gering. Der erste
aber, der innerhalb des deutschen Geisteslebens mit umfassendem
Blick eine Neugestaltung der ethischen Gedankenwelt auf der
Grundlage der neuen naturwissenschaftlichen Einsichten unter-
nommen hat, ist der österreichische Denker Bartholomäus Carneri.
Elf Jahre nach Darwins Auftreten legte er der Welt sein Buch
«Sittlichkeit und Darwinismus. Drei Bücher Ethik» vor (Wien
1871). Unablässig ist er seitdem bemüht gewesen, seine Grund-
gedanken nach allen Seiten auszubauen.* Heute, da wir vierzig
Jahre Darwinismus hinter uns haben, müssen wir uns bei einer un-
befangenen Umschau über die in Betracht kommende Literatur ge-
stehen, daß niemand das Gebiet der Ethik im Sinne der neuen Gei-
stesrichtung so gründlich, so einwandfrei und formvollendet behan-
delt hat. Wenn dies augenblicklich noch nicht überall, wo es sollte,
genügend gewürdigt wird, so hat das keinen ändern Grund als
den, daß die Geister noch zu sehr beschäftigt sind, die Erkennt-
nisse des Darwinismus auf rein naturwissenschaftlichem Felde
auszubauen und gegen Angriffe sicherzustellen. Sie können daher
der darwinistischen Ethik noch nicht die volle, ihr zukommende
Aufmerksamkeit zuwenden. Es kann aber kein Zweifel darüber
bestehen, daß man in nicht ferner Zukunft, wenn man nicht mehr
bloß von der Naturlehre des Darwinismus, sondern von dessen

* Es sind von ihm noch erschienen: Gefühl, Bewußtsein, Wille. Eine


psychologische Studie (Wien 1876); Der Mensch als Selbstzweck (1877);
Grundlegung der Ethik (Wien 1881); Entwicklung und Glückseligkeit
(Stuttgart 1886); Der moderne Mensch. Versuche einer Lebensführung
(Bonn 1891); Empfindung und Bewußtsein (1893).

453


umfassender Weltanschauung sprechen wird, Carneris Leistungen
als diejenigen bezeichnen wird, welche an der Begründung dieser
Weltanschauung einen hervorragenden Anteil haben.

Was Carneri befähigte, die sittlichen Begriffe auf eine solch


neue Grundlage zu stellen, das war die Unbefangenheit, mit wel-
cher er dem Darwinismus entgegentrat, und die geistige Seh-
schärfe, die ihn sogleich die volle Tragweite der neuen Anschau-
ungen für die menschliche Lebensgestaltung erkennen ließ. Er ließ
sich durch keine Einwände in der Überzeugung beirren, daß durch
den Darwinismus die Richtung gegeben sei, in der sich künftig
das Denken bewegen müsse. «Frei wird es natürlich immer jedem
stehen, dem Darwinismus gegenüber als Vogel Strauß sich zu ver-
halten; hat er, außer dem Kopf, auch den Magen mit seinem Vor-
bild gemein und kann er die Kost verdauen, die täglich schwerer
aus der Küche der sogenannten guten alten Zeit ihm gereicht
wird, so wünschen wir ihm Glück zu seiner Stellung. Solang wir
aber nicht denken können, der Mensch habe sich zum aufrechten
Gang, um sich zu bücken, aufgerafft, solang blicken wir der neue-
sten Zeit voll ins Angesicht; und je fester unser Bild wird, desto
heller erscheint uns ihr Auge, desto milder ihr Lächeln. Nach den-
selben Gesetzen, welchen gemäß im der
Mensch aus der Tierheit sich erhoben hat, sehen wir den Begriff
der Sittlichkeit am Horizont der Menschheit aufgehen als eine
Sonne, vor deren Strahl zwar mancher zu sehr ans Dunkel ge-
wöhnte Blick zurückscheuen, der leuchtendste Stolz eitler Selbst-
sucht als fahler Flitter schwinden mag, die aber dieser Erde den
Tag verkündet, die Erfüllung der Verheißung jenes Morgens, an
dem zuerst ein Auge, im Hochgefühl des erwachten Selbstbewußt-
seins die schmerzliche Starrheit abstreifend, die das Antlitz des
Tieres nie verläßt, — lachend hinaussah ins wechselvolle Leben»
(Sittlichkeit und Darwinismus, S. 14). So spricht sich Carneri selbst
aus über die Sinnesart, die ihn dazu geführt hat, den Darwinismus
heraufzuleiten aus dem Gebiete der Naturwissenschaft in dasjenige
der sittlichen Lebensführung des Menschen. — Mit der Unbefan-
genheit verband sich in Carneris Geist ein hoher Grad von Ver-
trautheit mit der philosophischen Vorstellungsart idealistischer

454


Denker. Ein solcher war in der Zeit, in der seine Anschauungen
heranreiften - in den sechziger Jahren —, eine Seltenheit. Man sah
geringschätzig auf die «Begriffsdichtungen» eines Hegel und
Spinoza herab und glaubte, durch einseitiges Beobachten der sin-
nenfälligen Tatsachen allein zu einer sicheren Erkenntnis gelangen
zu können. Es gilt für Carneri als eine feste Gedankengrundlage,
daß der Stoff in sich alle die Kräfte birgt, die sämtliche Welt-
geschehnisse von der einfachen räumlichen Bewegung bis zu den
höchstentwickelten Leistungen des Geistes hervorbringen. Aber er
ist sich auch vollkommen klar darüber, daß man mit den Natur-
gesetzen, die sich auf die körperlichen, materiellen Vorgänge be-
ziehen, die geistigen Verrichtungen nicht erklären kann. Er ist
vollkommen davon überzeugt, daß alles Leben ein chemischer Pro-
zeß ist. «Die Verdauung beim Menschen ist ein solcher wie die
Ernährung der Pflanze» (Sittlichkeit und Darwinismus, S. 46). Er
betont aber zugleich, daß sich der chemische Prozeß auf eine
höhere Stufe heben muß, wenn er Leben werden will. «Das Leben
ist ein chemischer Prozeß eigener Art, es ist der individuell oder
zum Individuum gewordene chemische Prozeß. Der chemische
Prozeß kann nämlich einen Punkt erreichen, auf welchem er
gewisser Bedingungen, deren er bis dahin bedurfte ... entraten
kann» (Sittlichkeit und Darwinismus, S. 14). «Als Materie fassen
wir den Stoff, insofern die aus seiner Teilbarkeit und Bewegung
sich ergebenden Erscheinungen körperlich, das ist als Masse, auf
unsere Sinne wirken. Geht die Teilung oder Differenzierung so
weit, daß die daraus sich ergebenden Erscheinungen nicht mehr
sinnlich, sondern nur mehr dem Denken wahrnehmbar sind, so
ist die Wirkung des Stoffes eine geistige» (Grundlegung der
Ethik, S. 30). Damit ist die «Unzertrennlichkeit des Geistes von
der Körperlichkeit» vollkommen anerkannt, zugleich aber dem
Geistigen, trotz seines Ursprunges aus dem Körperlichen, seine
selbständige über das Materielle hinausgehende Bedeutung ge-
sichert. So wahrt Carneri der idealistischen Betrachtungsweise für
die geistigen Erscheinungen des Stoffes ihr Recht neben der mate-
rialistischen, die auf das zu beschränken ist, was allein den Sin-
nen zugänglich ist. Nur ein Denker, der aus der idealistischen

455


Weltanschauung seine Bildung geholt hat, und der deshalb in sei-
ner Betrachtung den Boden des Materialismus auch in dem Augen-
blicke verlassen konnte, wo der materielle Prozeß zum geistigen
heraufsteigt, war berufen, die Ethik des Darwinismus auszubauen.
Carneris Auffassung der sittlichen Kräfte ist eine idealistische,
trotzdem er die ursprüngliche Wurzel der Sittlichkeit nirgends
anders sucht als da, wo auch der Ursprung der physikalischen und
chemischen Vorgänge zu finden ist. «Mit der Annahme der Un-
zertrennlichkeit von Kraft und Stoff, Geist und Materie, sind alle
im engern Sinne freien Kräfte aufgegeben, mithin auch der Geist
als etwas unabhängig vom Körper Bestehendes; damit ist jedoch
der Geist so wenig aufgegeben als die Kraft. Mit dem Spiritualis-
mus ist es aus, aber darum noch nicht mit dem Idealismus; dieser
bleibt das Feld der Philosophie, während die Naturforschung allein
im Realismus zu Hause ist» (Sittlichkeit und Darwinismus, S. 8).
Carneri ist als Denker ein Künstler allerersten Ranges. Ihm ist
in seltener Art das Vermögen eigen, den Inhalt seiner Begriffe
in plastisch vollendeter Weise hinzustellen. Wie er von den ein-
fachen Naturerscheinungen, die wir sinnlich wahrnehmen, auf-
steigt zu den Ideen der Sittlichkeit, ist eine Meisterleistung dieser
Art. Man sieht in gedanklich-anschaulicher Form an der Hand sei-
ner Auseinandersetzungen die chemischen Prozesse sich indivi-
dualisieren, zum lebendigen Individuum werden, das dann eine
Wirkung von außen nicht mehr als unorganische Bewegung auf-
nimmt, sondern zur Empfindung werden läßt. «Das wichtigste
Merkmal alles Lebendigen und ausschließlich ihm eigen ist die
Empfindung. Es ist diese die Form, in welcher bei allem Leben-
digen das auftritt, was wir bei der übrigen Natur Reagieren nen-
nen. Die Empfindung ist eigentlich nur die Befähigung zum
Reagieren, aber zu einem Reagieren höherer Art... Die Empfin-
dung ist dem Leben im engern Sinn das, was dem Stoff die Teil-
barkeit ist» (Grundlegung der Ethik, S. 43). In ebenso anschau-
licher Art steigt Carneri zu den weiteren Vorstellungen auf, die
uns befähigen, die Idee des Lebens zu fassen. «Die Empfindung...
wird im Gehirn, als dem Organ, in welchem das ganze Individuum
zentral sich zusammenfaßt, dem Individuum als Ganzem vor-

456


gestellt. Indem dadurch eine Empfindung dem Individuum mit-
geteilt wird, erhebt sich die Empfindung des Teils zu einer Emp-
findung des Ganzen. Darum nennen wir die Vorstellung eine
Empfindung höherer Art. Das Individuum empfindet sie, sie ist
eine empfundene Empfindung oder ein Gefühl» (Grundlegung
der Ethik, S. 102). Man sieht am Leitfaden Carnerischer Begriffe
das Materielle allmählich geistig werden; man sieht den Stoff die
geistigen Erscheinungen aus sich heraus entfalten. «Erst mit dem
Erwachen des Bewußtseins wird die Empfindung zum Gefühl,
und erst von da an wird ... das Nachteilige zur Unlust, das För-
dernde zur Lust. Damit beginnt das Seelenleben in seiner höheren
Bedeutung» (Grundlegung der Ethik, S. 123). Den höchsten Grad
von Individualisierung erreichen die Naturprozesse im mensch-
lichen Selbstbewußtsein. Die Naturprozesse haben sich da von
ihrem Mutterboden losgerissen; sie schauen durch die Vorstellung
nicht mehr einen äußeren Vorgang an; sie schauen sich selbst an.
Dadurch entsteht der Schein, als wäre der individualisierte Natur-
prozeß ein Selbständig-Geistiges mit einem ganz anderen Ur-
sprünge als die übrigen stofflichen Vorgänge. «Was bei der Gei-
stestätigkeit den Schein uns erzeugt, als wäre der Mensch ein
Doppelwesen, als wäre der irdische Leib von einem überirdischen
Funken durchglüht und erleuchtet, ist eine Täuschung» (Grund-
legung der Ethik, S. 136). Was wir in unserm Innern wahrneh-
men, ist ein Naturprozeß wie jeder andere stoffliche Vorgang.
Und hier — innerhalb dieses zum Selbstbewußtsein gesteigerten
Naturprozesses — wird die Welt des Sittlichen geboren. Das Sitt-
liche ist nur die Fortsetzung rein natürlicher Vorgänge. Es kann
demnach nicht die Frage sein, was soll der Mensch als Sittliches
anerkennen. Ein solches Sittliches müßte ihm von irgendwoher
gegeben werden; und dann wäre erst die Frage da: Kann denn
der Mensch Sittengebote, die von außen an ihn herantreten, ver-
möge seiner natürlichen Kräfte auch befolgen? Es kann sich viel-
mehr nur darum handeln: Welche Begriffe von Sittlichkeit wer-
den geboren, wenn sich das allgemeine Naturgeschehen herauf-
hebt zum menschlichen Selbstbewußtsein? So wenig es einen Sinn
hat zu sagen, eine Blume soll so oder so sein, so wenig hat es

457


einen zu behaupten, der Mensch soll dies oder jenes tun. Carneri
stellt mit aller Schärfe seinen Begriff von Ethik dem anderer
Denker entgegen. «Während die Moralphilosophie bestimmte Sit-
tengesetze aufstellt und zu halten befiehlt, damit der Mensch sei,
was er sein soll, entwickelt die Ethik den Menschen, wie er ist,
darauf sich beschränkend, ihm zu zeigen, was noch aus ihm wer-
den kann: dort gibt es Pflichten, deren Befolgung Strafen zu er-
zwingen suchen, hier gibt es ein Ideal, von dem aller Zwang ab-
lenken würde, weil die Annäherung nur auf dem Wege der Er-
kenntnis und Freiheit vor sich geht» (Sittlichkeit und Darwinis-
mus, S. 1). Dasjenige, was der Mensch anstrebt, wenn er sich über
die Stufe der Tierheit erhebt, das, wovon alles andere abhängt, ist
die Glückseligkeit. «Das Ideal des Glücks ist veränderlich und
einer fortwährenden Veredelung fähig; aber unter allen Umstän-
den ist das Streben nach Glück die Grundtriebfeder aller mensch-
lichen Unternehmungen. Und nichts ist irriger als die Ansicht, es
sei dieser Trieb ein des Menschen unwürdiger, der ihn dem Tiere
gleichstellt. Dem Tiere ist dieser Trieb fremd: es kennt nur den
Selbsterhaltungstrieb, und ihn zum Glückseligkeitstrieb zu er-
heben, hat das menschliche Selbstbewußtsein zur Grundbedingung»
(Grundlegung der Ethik, S. 147). Da, wo auf der Stufenleiter des
lebendigen Werdens der Glückseligkeitstrieb erwacht, beginnt das
früher gleichgültige Naturgeschehen ein sittliches Handeln zu
sein. Alle höheren sittlichen Ideen haben in dem Streben nach
Glück ihren Ursprung. «Der Märtyrer, der hier für seine wissen-
schaftliche Überzeugung, dort für seinen Gottesglauben das Leben
hingibt, hat auch nichts anderes im Sinn als sein Glück: jener fin-
det es in seiner Überzeugungstreue, dieser sucht es in einer besse-
ren Welt. Allen ist Glückseligkeit das letzte Ziel, und wie ver-
schieden auch das Bild sein mag, das sich das Individuum von
ihr macht, von den rohesten Zeiten bis zu den gebildetsten, ist sie
dem empfindenden Lebewesen Anfang und Ende seines Denkens
und Fühlens. Es ist der Selbsterhaltungstrieb, dessen zahllose Aus-
strahlungen an diesem einen Punkt sich sammeln, um so viel
Wünsche zu reflektieren, als es Individuen gibt» (Grundlegung
der Ethik, S. 146).

458


Durch die Losreißung von dem Mutterboden der Natur wird
der Mensch ein selbständiges, ein freies Wesen. Es ist ein Beweis
davon, wie tief Carneri in den Geist des Darwinismus sich ein-
gelebt hat, daß er dem Freiheitsbegriff die Fassung gegeben hat,
die mit naturwissenschaftlichen Vorstellungen verträglich ist. Gibt
es denn innerhalb der darwinistischen Weltanschauung noch einen
Platz für die Freiheit? Carneri antwortet mit «Ja». Zwar unter-
liegt alles, was geschieht, also auch jede Handlung des Menschen,
den ewigen, ehernen Naturgesetzen. Aber von dem Punkte an, wo
der Mensch sich loslöst von der übrigen Natur, werden die Natur-
gesetze zu Gesetzen seiner eigenen Wesenheit. «Seine weitere Ent-
wicklung ist sein eigenes Werk, und was auf der Bahn des Fort-
schrittes ihn erhalten hat, war die Macht und allmähliche Klärung
seiner Wünsche» (Grundlegung der Ethik, S. 143). Und die Na-
turgesetze, die der Mensch zu einem Inhalte seines Wesens ge-
macht hat, sind seine Gedanken und Ideen. Sie sind nichts ande-
res als die höchst gesteigerten, vollkommen entwickelten Natur-
prozesse. Nicht dadurch ist der Mensch frei, daß er beliebige, von
einem unbekannten Orte hergeholte Sittengebote befolgen kann
oder nicht, sondern dadurch, daß er die Entwickelung der Natur
als sein eigenes Werk fortführt. Mit vollkommener Klarheit
spricht Carneri dieses als seine Ansicht aus: «Wohl ist der Mensch
an die Gesetze der Natur gebunden; aber die Natur weiß nichts
vom Menschen und seinen Gesetzen. Erst im Menschen bringt
sie's zum Denken. Sie kümmert sich auch gar nicht um den Men-
schen; und nur weil der Mensch zur Erreichung seiner Zwecke an
die Mittel gebunden ist, die er in der Natur vorfindet, und er
seine Wege zum Ziel darnach sich ebnet, sieht manches Mittel
aus, als wär es ihm zu diesem oder jenem Zweck von der Natur
entgegengebracht» (Der Mensch als Selbstzweck, S. 89). Wenn die
Naturgesetze in dem Menschen wirksam sein sollen, so muß er
sich mit ihnen durchdringen, sie müssen zum Gehalt seines Den-
kens werden. Der Mensch kann das Werk der Natur in seinem
sittlichen Handeln nur fortsetzen, wenn er in den Sinn des natür-
lichen Daseins eindringt, wenn er nach Erkenntnis der Natur-
erscheinungen trachtet. In der Erkenntnis sucht daher Carneri die

459


Grundlage der Sittlichkeit. Nicht irgendwelche in der Luft hän-
genden Sittengebote, sondern die Wahrheit nur kann den Men-
schen zum sittlichen Handeln bringen. Nur das mit «der Wahr-
heit übereinstimmende Denken, das die Dinge in ihrer Notwen-
digkeit erkennt, und dem dadurch das allgemeine Gesetz zu sei-
nem eigenen wird, erhebt den Verstand zur Vernunft, den Willen
zur Freiheit. Der Mensch will eben nur, insofern er weiß. Daher
der unendliche Wert echter Intelligenz. Wir verkennen nicht die
Größe der Opfer, welche die neue Lehre vom Menschenherzen
fordert; aber diese Opfer sind keine mehr, sobald wir der ganzen
Größe der Aufgabe uns bewußt werden, mit welcher die neue
Lehre an den Menschengeist herantritt. Gefallen ist die Schranke,
die gebieterisch wie keine dem Denken Halt gebot, und es ge-
hört in der Tat eine hohe Befangenheit dazu, darin eine Beein-
trächtigung der Forderungen des Denkens erblicken zu wollen»
(Sittlichkeit und Darwinismus, S. 13 f.). Der Mensch, der sich
Ziele, Ideale seines Handelns setzt, kann jedoch nicht bei den
bloßen Naturgesetzen in seinem Denken stehenbleiben. Er lieferte
sonst mit seiner Sittlichkeit nicht eine Fortsetzung, sondern eine
bloße Kopie des Naturgeschehens. Der Mensch ist als sittlich Den-
kender zugleich Schaffender. Aus seinem Denken entspringen als
neue Schöpfungen sittliche Ideen. Sein Denken erfährt also, damit
es zur sittlichen Kraft wird, eine Steigerung. Es wird zur Phan-
tasie, die dem Handeln seine Ziele vorsetzt. In der ethischen
Phantasie findet Carneri den neuen Begriff, der an die Stelle der
alten moralischen Gebote treten muß. Die Phantasie ist es, die
«unserm Denken lebendige Wärme einhaucht» und die «mit
Ideen in Wechselwirkung tretend, das Ideale schafft» (Grund-
legung der Ethik, S. 370 f.).

In solcher Weise erreicht Carneri die höchsten menschlichen


Begriffe, trotzdem er von den einfachsten naturwissenschaftlichen
Vorstellungen seinen Ausgangspunkt nimmt. Daß der Charakter
des Geistigen, der Idealität des Sittlichen gewahrt werde, ist sein
Bestreben, trotzdem er sich streng auf den Boden des Darwinis-
mus stellt. Er ist ein Feind jeglicher Unklarheit in Begriffen. Des-
halb hat er in seiner Schrift «Empfindung und Bewußtsein» (1893)

460


mit Energie gegen das Verschwommene einer Weltanschauung
protestiert, die dem Zusammenhang von Geist und Natur dadurch
gerecht zu werden sucht, daß sie sagt: «Kein Geist ohne Materie,
aber auch keine Materie ohne Geist.» Carneri hält den vielfach
verkehrten Deutungen dieses Goetheschen Satzes entgegen: «Die
Überzeugung, daß es keinen Geist ohne Materie gebe, das heißt,
daß alle geistige Tätigkeit an eine materielle gebunden sei, mit
deren Ende auch sie ihr Ende erreicht, fußt auf Erfahrung; wäh-
rend nichts in dieser Erfahrung dafür spricht, daß mit der Materie
überhaupt Geist verbunden sei.» Der Geist kommt nach Carneris
Anschauung nicht der Materie als solcher zu, sondern dem zu
höheren Stufen der Tätigkeit organisierten Stoffe. Nicht der Stoff
ist es, der Geist hat, sondern auf der Organisation, die der Stoff
angenommen hat, beruht es, daß Geist erscheint. Wollte man die
Materie beseelt nennen, so verführe man wie jemand, der nicht dem
Mechanismus der Uhr, sondern den Metallen, die in ihr verarbeitet
sind, die Fähigkeit zuschriebe, Zeitangaben zu machen. Wenn
man auch wird zugeben müssen, daß in Haeckels Schriften ein
Ausdruck der naturwissenschaftlichen Denkweise vorliegt, der in
der von Carneri angedeuteten Weise nicht mißverstanden werden
sollte, so darf man doch die genannte kleine Schrift wegen ihrer
mustergültigen Prägung wichtiger Begriffe als einen der wert-
vollsten Beiträge zum Darwinismus bezeichnen. Zu welcher Höhe
der Lebensanschauung Carneri sich durch seine Arbeiten an der
Ethik erhoben hat, das geht aus seinen Schriften «Der Mensch als
Selbstzweck» (1877) und «Der moderne Mensch. Versuche einer
Lebensführung» (1891) hervor. Die Früchte einer aus dem Dar-
winismus geschöpften Überzeugung erscheinen hier als edelste
Vorstellungen über Welt und Mensch. Und wer Carneri zugehört
hat damals, als er, der Mitglied des österreichischen Abgeord-
netenhauses war, seine inhaltvollen, von einem hohen Ethos durch-
drungenen Reden hielt, dem wird der Eindruck nicht mehr aus
der Seele weichen, den er erhalten haben muß. Unvergeßlich muß
ihm dies Bild eines Kämpfers für die Wahrheit bleiben, das er vor
sich hatte in dem Augenblick, da der Kämpfer die Wahrheit ins
Leben einführen wollte.

461


MODERNE SEELENFORSCHUNG

Die Entwickelung der Wissenschaften im letzten Jahrhundert


könnte man nicht mit Unrecht einen Eroberungszug des natur-
wissenschaftlichen Geistes über fast alle Gebiete des menschlichen
Erkennens nennen. Was für eine sieghafte Gewalt diesem Zuge
eigen ist, das sieht man wohl nirgends besser als an dem Charak-
ter, den die Erforschung der menschlichen Seele in fachwissen-
schaftlichen Kreisen während der letzten Jahrzehnte angenommen
hat. Der moderne Psychologe, der mit seinen Zähl- und Meßappa-
raten den auf- und abflutenden Erscheinungen unseres Innern bei-
zukommen sucht, hat wenig Ähnlichkeit mit dem früheren Seelen-
forscher, der bloß mit dem geistigen Auge nach der eigenen Seele
sehen wollte; er sieht dafür um so ähnlicher dem physikalischen
oder chemischen Experimentator. Man wird, wenn man die Art der
modernen Seelenforschung kennzeichnen will, immer wieder auf
ein Wort verweisen müssen, das der große Denker und Schrift-
steller Friedrich Albert Lange, der Verfasser der «Geschichte des
Materialismus», geprägt hat: «Psychologie ohne Seele.» Es ist ein
Wort, das leicht mißverstanden werden kann. Es hatte als Schlacht-
ruf seine gute Bedeutung. Es sollte besagen, daß, wer die Seele
erforschen will, keinen vorgefaßten Begriff von dieser «Seele»
haben dürfe. Und einen derartigen Vorwurf erhob Lange gegen
die älteren Psychologen. Sie hätten gewisse dogmatische Vorstel-
lungen von der Seele. Sie stellten sich darunter ein Wesen mit
ganz bestimmten Eigenschaften vor. Und wenn sie dann an die
Ergründung der wirklichen seelischen Erscheinungen gingen, dann
würde ihr Blick durch diese vorgefaßten Dogmen getrübt. Wer
zum Beispiel der Meinung ist, der menschliche Wille sei un-
bedingt frei, der sieht die Vorgänge des Willens nicht unbefan-
gen. Sie nehmen in seiner Beobachtung unwillkürlich einen sol-
chen Charakter an, daß dabei die Meinung von dem «freien Wil-
len» bestehen kann. Lange fordert nun von den Seelenforschern
das Aufgeben aller solchen Meinungen. Untersucht, sagt er ihnen,
die Vorgänge des Willens, wie sie sich euch darbieten, und laßt
zunächst völlig unbestimmt, ob der Wille frei oder unfrei sei. Ob

462


er es ist, das könnt ihr nicht vorher sagen, sondern das muß erst
das Ergebnis eurer Untersuchung sein. Es drängt sich der Ver-
gleich mit einer historischen Tatsache auf, wenn man über das
Wort «Seelenkunde ohne Seele» nachdenkt. Columbus fuhr einst
gegen Westen in der Absicht, auf ein bekanntes Land zu stoßen.
Er fand ein unbekanntes. Die Psychologen sollen sich bewußt sein,
daß der rechte Begriff der Seele nicht vor der Untersuchung be-
kannt sein kann, sondern daß er erst am Ende ihrer Entdeckungs-
reisen ihnen vor Augen treten kann. Demgemäß verfahren auch
die modernen Psychologen. Sie suchen sich Mittel und Wege, die
Erscheinungen des Seelenlebens in ihrem Zusammenhange ken-
nenzulernen und sind davon überzeugt, daß sie am Ende ihrer
Fahrt auf eine Vorstellung von der «Seele» stoßen werden. Langes
Wort hat in Beziehung auf die Seelenfrage denselben Sinn, den
man mit dem ähnlichen verbinden könnte, «Naturwissenschaft
ohne Natur». Auch der Naturforscher legt ja keine vorgefaßte
Meinung von der «Natur» zugrunde, wenn er an seine Forschun-
gen geht. Er untersucht die Erscheinungen des Lichtes, der Elek-
trizität, des Lebens und ist überzeugt, daß erst aus der Gesamtheit
seiner Forschungen sich ein umfassender Begriff der Natur er-
geben werde.

Ganz von dieser Denkweise beherrscht war der Forscher und


Denker, der völlig neue Gesichtspunkte in die Seelenforschung
gebracht hat: Gustav Theodor Fechner. Von einer Methode, die
Goethe mit seinem weitausschauenden wissenschaftlichen Blick für
alle Naturforschung forderte, hat Fechner gezeigt, inwiefern sie in
der Psychologie Anwendung finden kann. «Wenn wir die Erfah-
rungen — dies sind Goethes Worte —, welche vor uns gemacht
worden, die wir selbst oder andere zu gleicher Zeit mit uns
machen, vorsätzlich wiederholen, und die Phänomene, die teils zu-
fällig, teils künstlich entstanden sind, wieder darstellen, so nennen
wir dies einen Versuch. Der Wert eines Versuches besteht vorzüg-
lich darin, daß er, er sei nun einfach oder zusammengesetzt, unter
gewissen Bedingungen mit einem bekannten Apparat und mit
erforderlicher Geschicklichkeit jederzeit wieder hervorgebracht
werden könne, so oft sich die bedingten Umstände vereinigen las-

463


sen.» Dem Versuch in der Psychologie sein Recht angewiesen zu
haben, ist das Verdienst, das sich Fechner durch die Darlegungen
seines Werkes «Elemente der Psychophysik» (1860) erworben hat.
Ein Problem, das den menschlichen Geist beschäftigt, solange er
sich mit Erkenntnisfragen zu tun macht, das Verhältnis des Kör-
perlichen zum Geistigen, erschien hier zum ersten Male in einem
Sinne behandelt, den auch Goethe vollkommen zutreffend mit den
Worten charakterisiert hat: «Die Bedächtlichkeit, nur das Nächste
ans Nächste zu reihen, oder vielmehr das Nächste aus dem Näch-
sten zu folgern, haben wir von den Mathematikern zu lernen, und
selbst da, wo wir uns keiner Rechnung bedienen, müssen wir
immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer
Rechenschaft zu geben schuldig wären.» So dachte und verfuhr
Fechner in dem Gebiete, wo sich Körperliches und Seelisches be-
rühren. Auf meine Hand drückt ein Gewicht. Ich empfinde den
Druck. Eine physische Erscheinung — der Druck — bewirkt eine
seelische, die Empfindung. Ich vergrößere den Druck. Auch meine
Empfindung steigert sich. Fechner fragt: Wie kann ich durch
Zahlen ausdrücken, in welchem Maße sich die Empfindung stei-
gert, wenn der Druck zunimmt? Die Abhängigkeit des Seelischen
vom Physischen wird so bestimmt, als wenn man dem strengsten
Geometer Rechenschaft schuldig wäre. Wilhelm Wundt, der auf
diesem Gebiete in Fechners Geist weitergearbeitet hat, findet von
dem Begründer der «Psychophysik»: «Vielleicht in keiner seiner
sonstigen wissenschaftlichen Leistungen tritt die seltene Vereini-
gung von Gaben, über die Fechner verfügte, so glänzend hervor
wie in seinen psychophysischen Arbeiten. Zu einem Werke wie
den bedurfte es einer Vertrautheit
mit den Prinzipien exakter physikalisch-mathematischer Methodik
und zugleich einer Neigung, in die tiefsten Probleme des Seins sich
zu vertiefen, wie in dieser Vereinigung nur er sie besaß. Und
dazu brauchte er jene Ursprünglichkeit des Denkens, welche die
überkommenen Hilfsmittel frei nach eigenen Bedürfnissen umzu-
gestalten wußte und kein Bedenken trug, neue und ungewohnte
Wege einzuschlagen. Die um ihrer genialen Einfachheit halber
bewundernswerten, aber doch nur beschränkten Beobachtungen

464


E.H. Webers, die vereinzelten, oft mehr zufällig als planmäßig
gefundenen Versuchsweisen und Ergebnisse anderer Physiologen
— sie bildeten das bescheidene Material, aus dem er eine neue Wis-
senschaft aufbaute.» Eine mathematische Formel sagt uns, seit
Fechners genialem Gedanken, wie die Empfindung sich bei einem
zunehmenden äußeren Reiz steigert, ebenso wie seit Galileis
grundlegenden Vorstellungen eine mathematische Formel uns sagt,
wie die Geschwindigkeit wächst, wenn eine Kugel auf einer schie-
fen Ebene hinunterrollt. Die Psychologie ist eine Experimental-
wissenschaft geworden. Ihr neues Gepräge kommt deutlich zum
Ausdruck in Wundts «Vorlesungen über die Menschen- und Tier-
seele» (1863). Wir lesen da: «Ich werde in den nachfolgenden
Untersuchungen zeigen, daß das Experiment in der Psychologie
das Haupthilfsmittel ist, welches uns von den Tatsachen des Be-
wußtseins auf jene Vorgänge hinleitet, die im dunklen Hinter-
grunde der Seele das bewußte Leben vorbereiten. Die Selbstbeob-
achtung liefert uns, wie die Beobachtung überhaupt, nur die zu-
sammengesetzte Erscheinung. In dem Experiment erst entkleiden
wir die Erscheinung aller der zufälligen Umstände, an die sie in
der Natur gebunden ist. Durch das Experiment erzeugen wir die
Erscheinung künstlich aus den Bedingungen heraus, die wir in der
Hand halten. Wir verändern diese Bedingungen und verändern
dadurch in meßbarer Weise auch die Erscheinung. So leitet uns
immer und überall erst das Experiment zu den Naturgesetzen,
weil wir nur im Experiment gleichzeitig die Ursachen und die
Erfolge zu überschauen vermögen.» Das bloße Versenken in das
eigene Innere, die Selbstbeobachtung, hat bei den Fachpsycholo-
gen wesentlich an Vertrauen eingebüßt. Wundt hat sich gegen sie
in der schärfsten Weise gewendet. Er fragt: Was hat denn die
Psychologie durch die Selbstbeobachtung gewonnen? Wenn ein
Bewohner einer anderen Welt auf unsere Erde herabstiege und aus
den Lehrbüchern der Psychologie auf die Natur der menschlichen
Seele schließen wollte, so würde er wahrscheinlich zu dem Ergeb-
nisse kommen, daß sich die verschiedenen Schilderungen der
Psychologen, die alle ihre Anschauungen aus der Selbstbeobach-
tung gewonnen haben wollen, auf Wesen ganz verschiedener Wel-


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