Rudolf steiner



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I

Ein kühner Forscher, ein fruchtbarer Denker voll anregender


Ideen, ein unermüdlicher Sucher nach neuen Wegen und Zielen
der Wissenschaft und des Kulturlebens war Wilhelm Preyer. Die
Physiologie stand im Mittelpunkte seines Schaffens. Sein umfas-
sender Geist war in allen Gebieten der Naturwissenschaft hei-
misch. Überallher flössen ihm die Gedanken, die Tatsachen, die
er in dem großen Ideengebäude verarbeitete, das ihm als Physio-
logie im weitesten Sinne des Wortes vorschwebte. Weite, geist-
volle Ausblicke eröffnen seine Schriften. Ausgetretene Pfade zu
gehen war ihm ganz unmöglich. Was er angriff, wurde durch

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seine Arbeit, durch sein Denken ein Neues. Einen freien, un-
getrübten Blick hatte er für alles Bedeutende, das im geistigen
Leben der letzten Jahrzehnte auftrat. Er wußte stets, was Zukunft
hatte. Ernst Haeckel sagt in dem Geleitworte, das er der vor kur-
zem erschienenen Darwin-Biographie Preyers vorausschickt: «Sie
gehören ja gleich mir zu der geringen Zahl derjenigen Natur-
forscher, welche gleich nach dem Erscheinen von Darwins epoche-
machendem Werk über den Ursprung der Arten von dessen ge-
waltiger Bedeutung überzeugt waren und welche den Mut hatten,
dessen grundlegende Anschauungen zu einer Zeit entschieden zu
vertreten, in welcher sich noch die große Mehrzahl der Fachgenos-
sen ablehnend oder feindlich verhielt.» Preyer gehörte nicht zu
jenen in ihrer Beschränktheit glücklichen Gelehrten und Denkern,
die eine Summe von Überzeugungen durch Überlieferung sich
aneignen und dann in der Richtung, die ihnen dadurch vorge-
zeichnet ist, selbst einige Schritte weitermachen. Der Glaube, daß
sie einen sicheren Weg einschlagen, macht solche Gelehrte un-
geeignet, große Irrtümer zu begehen. Sie lassen sich auf kühne
Wagnisse in der Wissenschaft nicht ein. Preyer wagte viel.
Manche seiner Ideen werden im Kreise seiner Fachgenossen als
Verirrungen angesehen. Vieles von dem, was er als seine Ansicht
vertreten hat, wird sich im Laufe der Zeit als unhaltbar erweisen.
Aber er war als Irrender anregender als die ändern, die nicht
fehlen können, weil im Verkehr mit wissenschaftlicher Klein-
münze große Irrtümer nicht begangen werden können. Von Lom-
broso wird erzählt, daß ihm das Neue im geistigen Leben an sich
sympathisch ist, bloß weil es neu ist. Etwas Ähnliches gilt von
Preyer. Er vertiefte sich mit Vorliebe in die Gebiete der Wissen-
schaft, die jung sind. Der Hypnotismus, die Graphologie, die Frage,
ob Bacon der Verfasser von Shakespeares Dramen ist, beschäftig-
ten ihn und regten ihn zu Schriften und Aufsätzen an, die wert-
voll und originell sind, trotzdem ihr Inhalt starken Zweifeln be-
gegnen muß. Dingen, die manchem so absurd erscheinen, daß er
gar nicht ernsthaft über sie reden will, wendete Preyer seine Arbeit
und sein Denken zu. Die wissenschaftliche Betrachtung der Hand-
schrift bildete in der letzten Zeit seine Lieblingsbeschäftigung.

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Die Seele des Menschen, sein Wesen, seinen Charakter in der
Handschrift zu finden, galt ihm als Aufgabe einer wissenschaft-
lichen Graphologie. Wissenschaftliche Vorurteile, eine gewisse
Richtung gelehrter Erziehung bringen bei vielen den Glauben her-
vor, daß es unwissenschaftlich sei, sich auf gewisse Dinge einzu-
lassen. Die Mehrzahl unserer wissenschaftlichen Zeitgenossen ist
der Meinung, daß solche Dinge wie die Graphologie einer wissen-
schaftlichen Bearbeitung unfähig sind. Sie kommen zu einer sol-
chen Meinung, weil sie sich ganz bestimmte Vorstellungen darüber
gebildet haben, was in der Natur möglich ist und was nicht. Was
zu diesen Vorstellungen nicht stimmt, lehnen sie einfach ab.
Geister wie Preyer können sich von solchen Vorstellungen nicht
gefangennehmen lassen. Sie wissen, wie wenig fest die «Wahr-
heiten» stehen, die den Inhalt unserer Wissenschaften ausmachen.
Sie wissen, wie unsicher, wie hypothetisch vieles ist, was der Mehr-
zahl der wissenschaftlich Gebildeten als absolut gewiß gilt. Des-
halb sind sie der Überzeugung, daß auch Dinge, die zunächst ganz
zweifelhaft erscheinen, wichtige Erkenntnisse und Erfahrungen
liefern können. Es steht im geistigen Leben nichts so fest, daß man
sagen kann: weil wir über ein Gebiet der Natur diese oder jene
Gesetze erkennen, deshalb kann etwas anderes nur zu den Dingen
der Unmöglichkeit gerechnet werden. Alles muß versucht werden,
alles muß durchdacht werden: dies war Preyers Leitmotiv. Es
führte ihn zu seinen ungemein interessanten Untersuchungen über
«Die Seele des Kindes». In dem Buche, das er über diesen Gegen-
stand geschrieben hat, stehen mehr und bedeutungsvollere psycho-
logische Erfahrungen und Ideen als in den Schriften der exakten
Modepsychologen, die durch das Experiment im Laboratorium der
Menschenseele nahekommen wollen. Ein feiner Blick für das In-
time im Leben des Kindes, eine ungeheure Kombinationsgabe ist
Preyer eigen. In bewundernswerter Weise schließen sich bei ihm
die Beobachtungen zu einem großen wissenschaftlichen Gebäude
zusammen. Meister in der Detailarbeit und geistvoller Entdecker
großer Zusammenhänge ist Preyer zugleich. Seine Darwin-Biogra-
phie ist ein Meisterwerk in bezug auf Durchdringung des Stoffes
mit großen wirksamen Ideen. In wenigen bedeutungsvollen Stri-

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chen zeichnet Preyer den Anteil hin, den der Darwinismus an allen
Gebieten des modernen Geisteslebens hat.

Niemals ist es Preyer bloß um die Erkenntnis allein zu tun. Er


will das durch die wissenschaftliche Betrachtung Gewonnene in
den Dienst des Lebens stellen. Sein Buch «Die Seele des Kindes»
hat nicht bloß die Aufgabe, das Seelenleben des Menschen zu er-
forschen, sondern auch die andere, der Pädagogik eine gediegene
psychologische Grundlage zu schaffen. «Immer mehr bricht sich
die Erkenntnis Bahn, daß die Psychogenesis die notwendige
Grundlage der Pädagogik bildet. Ohne das Studium der Seelen-
entwicklung des kleinen Kindes kann die Erziehung und Unter-
richtskunst in der Tat auf festem Boden nicht begründet werden.
... Die Kunst, das kleine Kind werden zu lassen, ist viel schwerer
als die, es vorzeitig zu dressieren», sagt er in der Vorrede des ge-
nannten Werkes. Aus derselben Quelle fließen die Ansichten, die
er über die notwendige Reform des höheren Schulwesens geäußert
hat. Preyer ist hier radikal. Er will die klassische Gymnasialbildung
ersetzt wissen durch eine im Geiste der modernen naturwissen-
schaftlichen Anschauungsweise gehaltene. Die Erkenntnisse, die
unsere Zeit bewegen, soll das Gymnasium dem Jüngling über-
liefern. Man braucht nur den Mut zu haben, im Geiste unserer
Zeit zu denken, und man muß Preyers Ideen zustimmen. Nur mut-
lose Geister, die jeder Reform abhold sind, können hier wider-
sprechen. Solche Geister fürchten sich vor jeder Umwälzung. Wie
das Alte wirkt, sehen sie; wie das Neue wirken wird, davon können
oder wollen sie sich keine Vorstellung machen. Sie wollen das
Alte, weil es bequem ist. Rege Geister wie Preyer hassen den Still-
stand als solchen. Sie werden stets mit reformatorischen Ideen sich
tragen, weil sie wollen, daß alle Dinge stets im Werden, im Flusse
sein sollen.

II

Preyer betont, daß «jedes physiologische System, welches auf


Vollständigkeit Anspruch macht, genötigt ist, zahlreiche und große
Lücken durch Vermutungen auszufüllen. Und weil diese immer

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subjektiv sind, gibt es kein physiologisches Lehrgebäude, das sich
eines allgemeinen Beifalls erfreute». Von dem Recht auf solche
Vermutungen hat der energische Denker ausgiebigen Gebrauch
gemacht. Denn er wußte, daß die Tatsachen dem Forscher zumeist
erst dann ihr Wesen enthüllen, wenn er vorher sich über ihren
Zusammenhang hypothetische Vorstellungen gemacht hat. Die
Gesetzmäßigkeit, die sich zuletzt als die richtige herausstellt, kann
sehr verschieden sein von der vermutungsweise ausgesprochenen;
diese hat doch erst den Weg gewiesen, der zu jener geführt hat.
Eine kühne Vermutung hat Preyer über den Ursprung des Lebendi-
gen ausgesprochen. Sein Denkermut ließ es nicht zu, vor dieser
Grundfrage aller Physiologie haltzumachen. Viele zeitgenössische
Physiologen wagen kein Wörtlein über diese Frage zu sagen, weil
ihnen die Wissenschaft dazu noch nicht weit genug zu sein
scheint. Andere sind der Ansicht, daß es in nicht zu ferner Zeit
gelingen werde, das Rätsel des Lebensursprungs dadurch zu lösen,
daß man im Laboratorium künstlich aus Kohlensäure, Ammoniak,
Wasser und Salzen lebendige Substanz herstellen werde. Dadurch,
meinen sie, wird erwiesen sein, daß sich einst auch in der Natur
Lebendiges aus Unlebendigem, durch Urzeugung, entwickelt habe.
Die organischen Prozesse werden dann nur als komplizierte me-
chanische, physikalische und chemische Vorgänge erscheinen, und
man wird sie mit Hilfe der Gesetze der Physik und Chemie er-
klären können, wie man heute die Erscheinungen der unorgani-
schen Natur erklärt. Eine dritte Art von Forschern hält das aber
ganz und gar für unmöglich. Bunge zum Beispiel erklärt: «Je ein-
gehender, vielseitiger, gründlicher wir die Lebenserscheinungen zu
erforschen streben, desto mehr kommen wir zur Einsicht, daß Vor-
gänge, die wir bereits geglaubt hatten, physikalisch und chemisch
erklären zu können, weit verwickelterer Natur sind und vorläufig
jeder mechanischen Erklärung spotten. ... Alle Vorgänge in un-
serem Organismus, die sich mechanistisch erklären lassen, sind
ebensowenig Lebenserscheinungen wie die Bewegung der Blätter
und Zweige am Baume, der vom Sturme gerüttelt wird, oder wie
die Bewegung des Blutenstaubes, den der Wind hinüberweht von
der männlichen Pappel zur weiblichen.» Dies letztere ist ungefähr

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auch Preyers Meinung. Er gab nicht zu, daß jemals Lebendiges aus
Leblosem entstanden sein könne, weil ihm die organische Gesetz-
mäßigkeit höherer Art zu sein schien als die anorganische. «Wird
die Urzeugung angenommen,» sagt Preyer, «so sind zwei Fälle
möglich. Entweder sie hat in früheren Epochen, die weit hinter
uns in der Vergangenheit liegen, stattgefunden und findet gegen-
wärtig nicht mehr statt, oder sie hat ehedem stattgefunden und
findet gegenwärtig noch statt. Zugunsten des ersteren Falles wird
geltend gemacht, daß während der raschen Abkühlung der Erd-
oberfläche ganz andere Zustände vorhanden waren als jetzt, andere
Luft und anderes Licht, andere Verteilung des Festen und Flüssi-
gen, andere chemische Verbindungen und andere Temperaturen
der Meere. Es konnte also möglicherweise, so wird von namhaften
Forschern behauptet, damals, unter so eigentümlichen, nicht wie-
derkehrenden Bedingungen, der eigentümliche, nicht wiederkeh-
rende Vorgang der Urzeugung stattfinden, bis die Erdoberfläche,
allmählich der jetzigen ähnlicher geworden, sich soweit verändert
hatte, daß zwar lebende Körper bestehen, aber nicht mehr ohne
Dazwischenkunft lebender Körper entstehen konnten.» Preyer fin-
det, daß diese Auffassung auf schwachen Füßen stehe. «Es ist
unerfindlich, was, nachdem einmal die Bedingungen für die Zu-
sammenfügung toter Körper zu lebenden da waren, worauf Leben
entstand und bestehen blieb, sich verändern sollte, so daß es zwar
in seinen niedersten Formen fortdauern und sich weiter entfalten,
aber nicht mehr durch Urzeugung, sondern nur durch Zeugung
sich erneuern konnte. Es ist kein Grund angebbar, weshalb, wenn
einmal die Selbstzeugung stattfand, sie nicht auch gegenwärtig
stattfinden sollte.» Die Bedingungen, die heute zum Leben not-
wendig sind, mußten doch zur Zeit der Urzeugung auch schon
vorhanden sein, sonst hätte das gezeugte Leben sich nicht erhalten
können. Die Änderung in diesen Bedingungen des Lebens kann
also eine erhebliche nicht sein. Wenn Urzeugung in der Vorzeit
möglich war, muß sie auch heute möglich sein. Aber alle Versuche,
künstlich im Laboratorium Lebendiges aus Leblosem herzustellen,
sind gescheitert. «Es werden zwar», meint Preyer, «in den nächsten
Jahren noch mehr solcher Versuche angestellt werden, und na-

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mentlich wird man trachten, die Bedingungen, welche auf dem
tiefen Meeresboden allein realisiert sind, im Laboratorium künst-
lich herzustellen, aber zugunsten der Ansicht, daß ein positives
Resultat überhaupt erzielbar sei, ist kein triftiges Argument bei-
zubringen. Die Zahl der chemischen Elemente, welche zu solchen
Versuchen dienen können, ist eine kleine, und wenn auch die
quantitativen Verhältnisse, die absoluten Mengen, die Druckgrade,
die Temperaturen der einzelnen Ingredienzien höchst variierbar
sind, so bleiben doch, mit Rücksicht namentlich auf die den Proto-
plasmabewegungen allein zuträglichen Wärmegrenzen, im Experi-
mente die Mischungsmöglichkeiten innerhalb relativ enger Schran-
ken eingeschlossen.»

Wer leugnet, daß lebendige Materie aus lebloser im Laufe der


Zeit sich entwickelt habe, und dennoch auf dem Boden der heu-
tigen Naturwissenschaft stehenbleiben will, der muß annehmen,
daß das Lebendige unentstanden, ewig ist. Zu dieser Ansicht hat
sich Eberhard Richter entschlossen. Er verteidigte im Mai 1865
die Meinung, daß die Lebenskeime ewig seien. Da sie aber auf der
Erde in der Zeit, als diese glutflüssig war, nicht gedeihen konnten,
so müssen sie später, als die Abkühlung genügend vorgeschritten
war, von anderen Himmelskörpern auf unseren Planeten gelangt
sein. Richter sagt: «Die Astronomie zeigt, daß im Welträume Un-
massen feiner Substanzen schweben; von den fast körperlosen Ko-
metenschweifen bis zu den in unserer Atmosphäre erglühenden
und häufig auf die Erde fallenden Meteorsteinen. In letzteren hat
die Chemie außer den geschmolzenen Metallen noch Reste von
organischer Substanz (Kohle) nachgewiesen. Die Frage, ob diese
organischen Stoffe, bevor sie durch Erglühen des Aeroliths zerstört
wurden, aus formlosem Urschleim oder aus geformten organi-
schen Gebilden bestanden haben, ist jedenfalls für letztere zu ent-
scheiden, denn dafür haben wir eine entsprechende Erfahrung in
unserer Atmosphäre.» Nachdem Richter von den in der Erdluft
vorhandenen Pilzkeimen und Infusorien gesprochen hat, sagt er:
«Wenn nun aber einmal mikroskopische Geschöpfe so hoch in der
Atmosphäre der Erde schweben, so können sie auch gelegentlich,
zum Beispiel etwa unter Attraktion vorüberfliegender Kometen

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oder Aerolithen, in den Weltraum gelangen und dann auf einem
bewohnbar gewordenen, das heißt der gehörigen Wärme und
Feuchtigkeit genießenden, anderen Weltkörper aufgefangen, sich
durch selbsteigene Tätigkeit wieder entwickeln.» Seinen Grund-
gedanken verknüpft Richter mit allerlei Dingen, die unhaltbar
sind. Dennoch ist er nicht einfach von der Hand zu weisen. Es ist
eine Tatsache, daß auf der Erde zahlreiche Organismen, Keime
und Eier jahrhundertelang, ohne die geringste Lebenserscheinung
zu zeigen, ihre Lebensfähigkeit behalten können. Solche lebendige
Substanzen geraten durch Entziehung notwendiger Lebensbedin-
gungen in einen leblosen Zustand; sie können aber wieder belebt
werden, wenn die geeigneten Umstände geschaffen werden. Man
nennt sie anabiotisch. Es könnte also sein, daß in den Körpern,
die aus dem Weltraum auf die Erde fallen, Substanzen enthalten
seien, in denen schlummerndes Leben ist, das auf der Erde unter
geeigneten Bedingungen geweckt werden kann. Auf diese Art
könnte die einst tote Erde mit Leben bevölkert worden sein. Diese
Hypothese ist so wenig abenteuerlich, daß sich Helmholtz und
Thomson für ihre wissenschaftliche Berechtigung ausgesprochen
haben.

Preyer bezeichnet sie dennoch mit vollem Recht als unzuläng-


lich. Sie leistet nichts. Sie sagt: Leben ist nicht auf der Erde aus
Leblosem entstanden, sondern von ändern Weltkörpern auf sie
gelangt. Da wiederholt sich doch für die ändern Weltkörper die-
selbe Frage. Ist es dort aus Unorganischem entstanden oder ewig
vorhanden gewesen? Preyer greift zu einer ändern Hypothese.
Warum soll nicht das Lebendige, das Ursprüngliche, das erste sein
und das Leblose sich aus dem anfangs allein vorhandenen Leben-
digen entwickelt haben? Preyer findet die Ansicht durchaus be-
rechtigt, daß «durch Lebensvorgänge allein, welche schon vor der
Erdbildung waren, alles Anorganische durch Ausscheidung, Er-
starrung, Verwesung, Abkühlung lebender Körper entstand, wie es
auch gegenwärtig der Fall ist». Preyer findet, daß der Unterschied
des Anorganischen vom Organischen von den Naturforschern viel-
fach in einem ganz falschen Lichte gezeigt wird. Manche unorga-
nische Vorgänge können als Übergänge von dem Leblosen zu dem

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Lebendigen aufgefaßt werden. Sie stellen Analoga der Lebens-
tätigkeit dar, wenn man genau zusieht. «Ein naheliegendes Bei-
spiel ist das Meer, welches dieselbe Luft einatmet wie wir, vieler-
lei Dinge als seine tägliche Nahrung in sich aufnimmt und assi-
miliert, indem es sie auflöst, so daß sie konstante Meeresbestand-
teile werden. Auch das Meer kann als solches — wie ein Organis-
mus — nur innerhalb enger Temperaturgrenzen bestehen, denn
wenn es bei zu großer Abkühlung fest wird, bei zu großer Wärme
verdampft, so erlischt sein Leben. Strömungen zeigen auch die
Ozeane im Innern. Flüsse führen ihnen Wasser zu wie Adern den
nährenden Saft in die Körperteile. An den Strand werden die Aus-
würflinge des Meeres, seiner toten Teile, das Eis, Edukte und Pro-
dukte seines Stoffwechsels geworfen. Es produziert durch die Rei-
bung seiner Wassermassen aneinander Wärme, und es verschluckt,
wenn es kälter als die Luft ist, deren Wärme. Es erzeugt sich
immer aufs neue, wie das Protoplasma... Auch das Feuer kann
man im allgemeinen lebendig nennen. Es atmet dieselbe Luft, die
wir atmen, und erstickt, wenn wir sie ihm entziehen. Es verzehrt
mit unersättlicher Gier, was seine züngelnden Organe ergreifen,
und nährt sich von seiner Beute. Es wächst mit langsamer Be-
wegung, im Dunkeln beginnend, wie der Keim unmerklich, dann
glimmt es, entfaltet sich immer mehr wachsend schnell zu himmel-
anstrebender Lohe und pflanzt sich fort mit erschreckender Eile,
überallhin Funken entsendend, die neue Feuer gebären.» Man
denke sich diese an das Leben erinnernden Erscheinungen zu voller
Lebendigkeit erhöht, und man hat jenen Zustand der einst leben-
digen Erdmasse, aus der sich sowohl das gegenwärtig Lebende wie
das gegenwärtig Leblose abgeschieden hat. Preyer behauptet nicht,
daß die einfachste Lebenssubstanz, die wir heute kennen, vom An-
fang der Erdbildung an vorhanden war, sondern daß die anfang-
lose Bewegung im Weltall nicht eine bloß mechanische oder phy-
sische, sondern daß sie eine lebendige ist und daß die einfache
Lebenssubstanz notwendig übrigbleiben mußte, nachdem durch die
Lebenstätigkeit des glühenden Planeten an seiner Oberfläche die
jetzt als anorganisch bezeichneten Körper ausgeschieden worden
waren. «Die schweren Metalle, einst auch organische Elemente,

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schmolzen nicht mehr, gingen nicht wieder in den Kreislauf zu-
rück, der sie ausgeschieden hatte. Sie sind die Zeichen der Toten-
starre vorzeitiger gigantischer glühender Organismen, deren Atem
vielleicht leuchtender Eisendampf, deren Blut flüssiges Metall und
deren Nahrung vielleicht Meteoriten waren.»

Eine ähnliche Vorstellung wie Preyer hat später G. Th. Fechner


in seinen «Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der
Organismen» vertreten. Auch er faßt das Weltall als ursprünglich
belebt auf.

Die philosophischen Geister muß Preyers Anschauung anziehen.


Sie werden niemals begreifen können, wie durch Summierung von
mechanischen, physikalischen und chemischen Vorgängen die Er-
scheinungen des Lebens erklärbar sein sollen. Daß sich Lebendiges
in Lebloses verwandle, ist durchaus begreiflich und durch die
tägliche Erfahrung bewiesen; daß sich Lebendiges aus Leblosem
entwickle, widerstreitet aller in das Wesen der Dinge dringenden
Beobachtung. Die unorganischen Vorgänge sind im organischen
Körper in gesteigerter Form vorhanden, in einer Form, die ihnen
innerhalb der unorganischen Natur nicht zukommt. Sie können
sich nicht selbst zu organischer Tätigkeit steigern, sondern müssen,
um dem Leben zu dienen, erst von einem Organismus eingefangen,
angeeignet werden.

Gegenüber der Hypothese von der Urzeugung ist die Preyers


die philosophischere. Feinere Geister werden Preyer zustimmen,
wenn er meint: «In der Tat liegt die Vermutung nahe, daß das
Leben und die Wärme der Himmelskörper wie der Organismen
im engern Sinne nicht bloß untrennbar aneinandergebunden den-
selben großen Gesetzen gehorchen, sondern in letzter Instanz der-
selben Quelle entstammen. Das intensivste Leben lebt die Sonne.
Und wenn auch unsere Erde nur ihr Trabant ist, so hat sie doch
Licht von ihrem Licht, Wärme von ihrer Wärme und in ihrem
Schoße Leben von ihrem Leben: und es ist kein bloßes Phantasie-
spiel, zu meinen, daß auch wir Menschen ursprünglich dem Feuer
am Firmamente entstammen.»

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III

Das Leblose leitet Preyer aus dem Lebendigen her. Das Weltall


ist ihm ein großer, alles umfassender Organismus. Von dieser An-
schauung ist nur ein Schritt zu der weiteren, sich die Welt als
beseelten, geisterfüllten Organismus vorzustellen. Auch diesen
Schritt hat Preyer getan. Die Sätze der Mechanik, «die Materie ist
tot; sie fühlt nicht», sieht er als Verirrung an. Er vermutet, daß
auch das kleinste, scheinbar tote Körperteilchen mit Empfindung,
also mit Geist begabt ist. Es entspricht den Tatsachen anzunehmen,
daß «nirgends eine scharfe Grenze zwischen empfindungsfähigen
und empfindungsunfähigen Wesen existiert, sondern aller Materie
ein gewisses Empfindungsvermögen zukommt, welches aber nur
bei einer bestimmten, äußerst komplizierten Anordnung und Be-
wegung der Teilchen es zur Empfindung kommen lassen kann.
Daher die einfachen Stoffe, die toten Körper, wenn sie auch zum
Teil sehr leicht durch geringfügige Einflüsse verändert werden,
trotz ihres dunklen Empfindungsvermögens doch nicht merklich
empfinden können, sowie sie aber Bestandteile der grauen Sub-
stanz des Gehirns oder nur des lebendigen Protoplasmas werden
(durch die Nahrungsaufnahme), mit ändern zusammen in unüber-
sehbar komplizierter Bewegung die Empfindung explosionsähn-
lich entstehen lassen, wenn jetzt ein Eindruck auf sie ausgeübt
wird.»

Der Geist schlummert ursprünglich in der Materie, aber er ist


in diesem Schlummerzustand tätig, er gestaltet die Materie, er or-
ganisiert sie, bis sie eine solche Form angenommen hat, daß er
selbst in der ihm angemessenen Weise zur Erscheinung kommen
kann. Dies ist das Leitmotiv, von dem Preyer bei all seinem Beob-
achten und Denken in Physiologie und Psychologie beherrscht
wurde. Er wollte die organische Entwickelung nicht bloß deshalb
verfolgen, um zu sehen, wie die eine Form aus der ändern hervor-
geht. Er suchte in der Tätigkeit, in der Funktion, die ein Organ
zuletzt zu verrichten hat, den Grund, warum es sich in einer be-
stimmten Weise entwickelt. «Was bestimmt in der Stammesent-
wickelung die endgültige Gestalt? Ich antworte: Die Funktion.

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Erst wenn sich diese betätigt, beginnt die Differenzierung des
Substrats der ursprünglichen Wesen. Nicht das Organ ist es, von
dem die Funktion ihre Entstehung abzuleiten hat, sondern ur-
sprünglich verhält es sich gerade umgekehrt. Die Funktionen
schaffen sich ihre Organe. Oder um den schwer definierbaren Aus-
druck zu vermeiden, kann man sagen: das Bedürfnis bestimmt die
organische Form, welche dann vererbt wird und erst in dem Em-
bryo höherer Tiere, in der Anlage wenigstens, der Funktion vor-
hergeht.» Das Höchste, das Letzte, das entsteht, ist für Preyer der
Schöpfer des Ersten, des zeitlich Vorangehenden. «Jede einzelne
Verrichtung des Menschen muß Schritt für Schritt verfolgt wer-
den, einmal im individuellen Leben zurück bis zu ihrem ersten
Auftreten im lebenden Ei und dann in der Reihe der Tiere, welche
seinen Vorfahren noch nahestehen, und von diesen weiter bis zu
dem schon nicht mehr tierischen, auch nicht pflanzlichen, nur
noch lebendigen Protoplasma. Dann wird man anfangen zu wissen,
woher die hohen und niedern Funktionen, zum Beispiel das Spre-
chen und Sehen, ebenso wie das Atmen und Wachsen stammen,
und wie sie so geworden sind, wie sie sind.» Das Bedürfnis zu
sprechen läßt gewisse Organe eine solche Entwickelung durch-
machen, daß sie zuletzt Sprachorgane werden. Wer in dieser Weise
die organische Entwickelung ansieht, dem kann das Streben, die
Lebens- und Seelenvorgänge mechanisch zu erklären, nur als eine
geschichtlich merkwürdige Verirrung erscheinen. «Wenn wirklich
die Physiologie nichts anderes wäre als auf die Lebensvorgänge
angewandte Physik und Chemie, dann wäre sie keine Wissenschaft
für sich, dann gliche sie der Technologie und Maschinenbaukunde
und sonstigen angewandten Disziplinen», sagt Preyer, und er fährt
fort: «daß es überhaupt dahin kommen konnte, sie geradezu als
die Physik der Organismen oder die Lehre vom Mechanismus und
Chemismus der lebenden Körper anzusehen und zu definieren, ist
eine historisch wichtige Tatsache. Der große Irrtum entstand durch
die erst in diesem Jahrhundert, zumal in den letzten Jahrzehnten
sich häufenden physikalischen Erklärungen einzelner Lebens-
erscheinungen und durch die vielen künstlichen Nachbildungen
chemischer Erzeugnisse des Tier- und Pflanzenstoffwechsels. ...

357


Niemand bezweifelt, daß ohne fortwährende Verwertung, Anwen-
dung und Ausbildung physikalischer und chemischer Grund- und
Lehrsätze die Erforschung der Lebensvorgänge nicht fortschreiten
kann. Daraus folgt aber durchaus nicht, daß die Lebenslehre weiter
nichts als Physik und Chemie der lebenden Körper sei... Es gibt
im gesunden Organismus so viele Vorgänge, welche, dem Physiker
und Chemiker unverständlich bleibend, gar nicht in den Bereich
ihrer Untersuchungen kommen, daß man die Ausdehnung physika-
lisch-chemischer Erklärungsversuche auf dieselben ebenfalls unzu-
lässig, unwissenschaftlich, willkürlich nennen muß. Hier liegt ein
Fall von verfehlter Induktion vor, wie er in der Kindheit häufig
beobachtet wird: weil vieles gut schmeckt, was in den Mund ge-
langt, deshalb muß alles in den Mund gebracht werden.»

Preyer hat eine Reihe interessanter Beobachtungen auf dem


Gebiete der Sinnesphysiologie und der Psycho-Physiologie gemacht
und die Ergebnisse derselben in Schriften veröffentlicht, die durch
scharfe Formulierung des Dargestellten mustergültig sind. Meiner
Meinung nach stehen auch diese Arbeiten unter dem Einflüsse der
Vorstellung, daß es der Geist ist, der den Organismus gestaltet. In
welcher Wechselwirkung stehen Geist und Körper? Wie wirken
die Sinne, um dem Geiste das zu vermitteln, was er zu seiner Er-
haltung braucht? Das sind Fragen, die derjenige stellt, der meint,
der Geist schaffe sich eine solche organische Gestalt, daß er in
einer seinen Bedürfnissen angemessenen Weise zur Erscheinung
kommen kann. Die Abhängigkeit der Muskelzusammenziehung
von der Stärke des auf den Muskel ausgeübten Reizes einerseits
und die Abhängigkeit der im Muskel ausgelösten Bewegung von
dem Reize andererseits (das myophysische Gesetz) machte Preyer
zum Gegenstand einer bedeutenden Abhandlung (1874). Auch
untersuchte er die Natur der Empfindungen («Elemente der rei-
nen Empfindungslehre», Jena 1877) und stellte Beobachtungen
darüber an, welche Schwingungen als Ton wahrgenommen werden
und welche sich nicht mehr als Ton kundgeben, weil sie zu lang-
sam oder zu schnell verlaufen («Über die Grenzen der Tonwahr-
nehmung», Jena 1876). Seine Forschungen über das Wesen des
Schlafes, der Hypnose, des Gedankenlesens haben alle den gleichen

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Ursprung: er wollte die intimen Beziehungen des Geistigen und
Körperlichen erkennen. Und nicht weniger sind seine Bestrebun-
gen auf dem Gebiete der Graphologie aus seiner Grundvorstel-
lung hervorgegangen. Er wollte in dem geschriebenen Worte den
Geist erkennen, der sich seinen Körper geschaffen hat.

CHARLES LYELL


Zur hundertjährigen Wiederkehr seines Geburtstages

Das geistige Leben der Gegenwart hätte eine völlig andere Physio-


gnomie, wenn in diesem Jahrhundert zwei Bücher nicht erschie-
nen wären: Darwins «Entstehung der Arten» und Lyells «Prin-
zipien der Geologie». Anders, als sie es tun, sprächen die Profes-
soren in den Hörsälen der Universitäten über viele Dinge, anders,
als es ist, wäre das religiöse Bewußtsein der gebildeten Mensch-
heit, andere Ideen, als die wir aus ihnen vernehmen, hätte Ibsen
in seinen Dramen verkörpert: wenn Darwin und Lyell nicht
gelebt hätten. Die dramatische und erzählende Literatur lebte ein
anderes Leben, wenn wir die genannten Bücher nicht hätten. In
der Geistesluft, die wir einatmen, ist der Inhalt dieser Bücher als
wichtiger Bestandteil enthalten. Wir können uns nicht leicht eine
Vorstellung davon machen, wie wir dächten, wenn Darwin und
Lyell ihre Gedanken dem Geistesorganismus der Menschheit
nicht eingeimpft hätten. Man braucht niemals eine Zeile in der
«Entstehung der Arten» und in den «Prinzipien der Geologie»
gelesen zu haben, und man steht doch unter dem Einflüsse dieser
Bücher. Nicht nur unser Denken, auch unser Empfindungsleben
hat von ihnen sein charakteristisches Gepräge erhalten. Ein junger
Mensch, der diese Bücher heute liest, glaubt in ihnen nichts zu
finden, was er noch nicht weiß. Viele von uns wachsen mit den
Ideen Darwins und Lyells auf, bevor sie von diesen großen Natur-
beobachtern mehr als die Namen, ja bevor sie vielleicht auch nur
die Namen kennen. Viele von uns müssen zu Menschen, die nicht

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mit diesen Ideen aufgewachsen sind, eine ganz andere Sprache
sprechen, als diejenige ist, an die sie gewöhnt sind. Wir fangen
an, die Menschen, die unsere Sprache nicht verstehen, wie Wesen
zu betrachten, die Überbleibsel einer vergangenen historischen
Epoche sind. Wie viele es sind, die so denken, darauf kommt es
nicht an. Die Hauptsache ist, daß wir in uns, die wir so denken,
die eigentlichen und wahren Gegenwartsmenschen sehen. Wir wis-
sen, daß wir die Jungen und andere die Alten sind. Wir blicken
vorwärts, die anderen rückwärts. Von unseren Ideen wird der künf-
tige Kulturhistoriker eine neue Epoche des Denkens beginnen
lassen müssen. Der Gedanke an die Zukunft ruft in uns Freude
und Entzücken hervor, weil die Zukünftigen uns als ihre Vorläu-
fer betrachten werden. Diese Zukünftigen werden mehr wissen,
mehr können als wir, aber sie werden Empfindungen haben, die
den unsern verwandt sind. Wir stehen diesen Menschen näher als
dem Kanzelredner, der mit uns zu gleicher Zeit geboren ist. Die
Ersten, die Größten, die Führenden unter uns sind Lyell und Dar-
win. Wir sind ihnen unendlich dankbar, weil wir glauben, daß
wir ohne sie zu einem absterbenden Teile der Menschheit gehör-
ten. Unser Empfindungsleben spricht sie heilig. Wir schaudern
vor dem Geist-Erleben, das wir gelebt hätten, wären sie uns nicht
vorangegangen. Wir haben sogar das «richtige Urteil» über die
Größen älterer Zeiten verloren, weil sie uns zunächst die wichtig-
sten sind. Wir grämen uns deshalb nicht. Wir wollen nicht die
Dinge nehmen so objektiv, wie sie sind; wir wollen leben, und aus
unserem Leben soll noch etwas werden; es soll die Kräfte des
Wachstums in sich tragen. Lieber wollen wir darauf blicken, was
noch nicht getan ist, als uns in Betrachtungen über das Ge-
schehene verlieren. Wären wir gerechter: wir wären unfruchtbarer.
Wir haben gegenüber den Geistern, die uns nahestehen, die Un-
gerechtigkeit des Sohnes, der seine Eltern mehr liebt als andere,
die ihm fernestehen. Wir lieben Darwin mehr als Aristoteles,
Lyell mehr als Plato, weil Darwin und Lyell unsere gutbekannten
Väter, Plato und Aristoteles Ahnenbilder sind, die wir in unserem
Geistesschlosse aufgehängt haben. Wenn wir in Lyell und Darwin
lesen, ist es, wie wenn jemand uns eine warme Hand gibt; wenn

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wir Plato und Aristoteles studieren, so, wie wenn wir in einem
Ahnensaal spazierengingen. Mit Darwin und Lyell leben wir, über
Plato und Aristoteles lernen wir.

Wir geben Darwin und Lyell nicht immer recht, wir wider-


sprechen ihnen in vielen Dingen, aber wir fühlen, daß sie auch
dann in unserer Sprache reden, wenn wir ihnen widersprechen.
Wir rechnen manche zu den unsrigen, die Darwin und Lyell in
der schärfsten Weise bekämpfen, aber wir wissen, daß auch unser
Widerspruch, wenn er fruchtbar ist, dies nur durch jene beiden
Geister hat werden können. Große Geister bringen auch ihre
Gegner hervor, und mit den Gegnern zusammen bringen sie die
Menschheit vorwärts. Auch wenn die zukünftige Menschheit zu
wesentlich anderen Vorstellungen kommen sollte, als Darwin und
Lyell sie hatten, so werden diese Söhne der Zukunft doch in den
beiden Männern ihre Väter zu verehren haben.

Einen neuen Charakter hat Lyell dem Denken über die Bildung


der Erde gegeben. Vor ihm beherrschten dieses Denken Vorstel-
lungen, die uns heute kindlich vorkommen. Wir sehen nicht ein,
warum die gewaltigen Gebirgsbildungen durch andere Kräfte her-
vorgebracht sein sollen, als diejenigen sind, die heute noch herr-
schen. Lyell sah, daß im Laufe nachweisbarer Zeiträume das flie-
ßende Wasser die Steinmassen von den Gebirgen loslöst und sie
an anderer Stelle wieder absetzt. Es verschwinden dadurch Bildun-
gen an einem Orte und andere entstehen an einem ändern wieder.
Das geht langsam vor sich. Aber man denke sich solche Wirkun-
gen durch unermeßliche Zeiträume fortgesetzt, so wird man sich
vorstellen können, daß durch diese noch heute herrschenden Kräfte
die ganze Erdoberfläche diejenige Gestalt angenommen hat, die
sie gegenwärtig hat. Dazu kommen die Umgestaltungen, welche
heute die Erdoberfläche durch schwimmende Eisberge, durch wan-
delnde Gletscher, die Schutt und Gerolle mit sich führen, erhält.
Man denke ferner an Erdbeben und an vulkanische Erscheinun-
gen, die den Boden heben und senken, man denke an den Wind,
der Dünen aufwirft, und an das langsame allmähliche Verwittern
der Gesteine. Alles, was zur Bildung der Erde bis jetzt geschehen
ist, kann so geschehen sein, daß im Laufe langer Zeiträume jene

361


genannten Wirkungen vorhanden waren. Wir zweifeln heute nicht,
daß sich die Sache so verhält. Aber vor Lyell dachten die Men-
schen anders. Sie glaubten, daß die mächtigen Gebirgsbildungen
durch augenblicklich wirksame, außerordentliche Kräfte bewirkt
worden seien. Wenn eine Gestalt der Erdoberfläche reif war, zu-
grunde zu gehen, so griff die Schöpferkraft von neuem ein, um
unserem Planeten ein neues Antlitz zu geben; so dachten unsere
Vorfahren. Wir erkennen, wenn wir die Erdrinde untersuchen,
daß eine Anzahl von Erdepochen da war und wieder untergegan-
gen ist. Die untergegangenen Erdepochen finden wir als über-
einandergetürmte Schichten der Erdrinde. In jeder Schicht ent-
decken wir versteinerte Tier- und Pflanzenformen. Unsere Vor-
fahren nahmen an, daß immer und immer wieder die Schöpfer-
kraft das Leben einer Epoche habe zugrunde gehen lassen und ein
neues an die Stelle gesetzt habe. Lyell zeigte, daß dies nicht der
Fall ist. Durch allmähliches Wirken der Kräfte, die heute noch
tätig sind, hat sich eine Epoche aus der ändern entwickelt; und in
jeder folgenden Epoche lebten diejenigen Lebewesen, die sich aus
der vorigen erhalten haben und die sich den neuen Lebensbedin-
gungen anpassen konnten. Die Geschöpfe der jüngeren Erdperio-
den sind die Nachkommen derjenigen, die in älteren gelebt haben.
Von unendlicher Fruchtbarkeit war dieser Gedanke für Darwin.
Er hat erkannt, daß im Laufe der Zeiten sich die tierischen Arten
verändern können. Daß die Tierarten nicht jede für sich geschaf-
fen sind, sondern daß sie miteinander verwandt sind, daß sie aus-
einander hervorgegangen sind. Nimmt man diese Erkenntnis mit
Lyells Gedanken zusammen, so wird klar, daß alles Leben auf der
Erde, das vergangene und das zukünftige, eine große natürliche
Einheit bildet. Die Vorgänge, die wir heute mit Augen sehen und
mit unseren Geisteskräften verstehen, haben immer stattgefunden.
Keine anderen waren je da. Was heute geschieht, geht ohne Wun-
der und ohne überirdische Einwirkungen vor sich. Darwin und
Lyell haben gezeigt, daß es so wunderlos immer auf der Erde zu-
gegangen ist. Dadurch sind sie die Schöpfer einer ganz neuen Welt-
anschauung, eines ganz neuen Empfindens, einer neuen Lebens-
führung.

Auf unser ethisches Leben haben sie den weitestgehenden Ein-


fluß. Sie haben uns freigemacht von den Gefühlen, die wir Wesen
gegenüber empfinden müßten, die in Wind und Wetter hausen.
Wer in dem Gewitter den herannahenden Gott sieht, empfindet
anders als derjenige, welcher glaubt, daß Gewitter und Erdbeben
ebenso natürlich sind wie die Wirkung, die ein auf den Erd-
boden fallender Stein ausübt. Wer an die Gedanken Darwins und
Lyells glaubt, steht den Naturkräften anders gegenüber als der-
jenige, welcher an die überirdischen Götter sich hält. Die Götter
können ihm nicht mehr helfen, ihm nicht mehr schaden, sie kön-
nen ihn nicht belohnen und nicht bestrafen. Er ist frei geworden
von Furcht und Hoffnung gegenüber unerforschlichen Gewalten.
Das Natürliche ist ihm das All, und das Natürliche kann man
erforschen. Man kann es auch bezwingen und in den Dienst der
menschlichen Ideen stellen. Man kann sich mit Bewußtsein zum
Herrn der Erde machen. Die Ehrerbietung schwindet, aber der
Stolz nimmt zu. Man will weise herrschen, aber nicht mehr demü-
tig gehorchen und sich undurchdringlichen Ratschlüssen fügen.
Die Weltanschauung des Stolzes, des selbstbewußten Menschen
haben Darwin und Lyell an die Stelle der Weltanschauung der
Demut, der Unterwürfigkeit gesetzt. Zur Befreiung der Mensch-
heit haben sie Unsagbares getan. Sie haben uns gelehrt, keinen
Altar dem «unbekannten Gotte» zu errichten, sondern unsere
Dienste dem bekannten Geiste der Natur darzubringen. Sie haben
den Menschen gelehrt, sich nicht als Zwerg anzusehen, sondern
als Held zu wirken. Dem Handeln, dem Wollen haben sie eine
freie Bahn geschaffen, weil sie es von dem Schwergewicht befreit
haben, das ihm angehängt wird durch den jenseitig wirkenden
Willen. Sie haben dem Wissen gezeigt, wo es sein Feld hat, und
ihm dadurch erst wirklich die Macht gegeben. Erst seit Lyell und
Darwin kann man es als Wahrheit empfinden, daß Wissen Macht
ist. Füge dich in das, was dir vorbestimmt ist, mußten sich die
Leute vor Lyell und Darwin sagen; tue, wovon du einsiehst, daß
es wertvoll ist, können sie sich heute sagen.

Alle Rückfälle in eine alte Weltanschauung werden die geschil-


derte Entwickelung nicht aufhalten können. Was Ernst Haeckel bei

363


Gründung der ethischen Gesellschaft in Berlin gesagt hat, daß
moderne Sittlichkeit, moderne Religiosität und modernes Handeln
auf der Grundlage der modernen Weltanschauung sich aufrichtet:
es ist eine unumstößliche Wahrheit. Ich kann nicht von Lyell oder
Darwin sprechen, ohne an Haeckel zu denken. Alle drei gehören
zusammen. Was Lyell und Darwin begonnen haben, das hat
Haeckel weitergeführt. Er hat es ausgebaut in dem vollen Bewußt-
sein, damit nicht nur dem wissenschaftlichen Bedürfnis, sondern
auch dem religiösen Bewußtsein der Menschen zu dienen. Er ist
der modernste Geist, weil seiner Weltanschauung nichts von alten
Vorurteilen mehr anhaftet, wie das zum Beispiel bei Darwin noch
der Fall war. Er ist der modernste Denker, weil er in dem Natür-
lichen das einzige Gebiet des Denkens sieht, und er ist der mo-
dernste Empfinder, weil er das Leben nach Maßgabe des Natür-
lichen eingerichtet wissen will. Wir wissen, daß er mit uns den
Geburtstag Lyells als Festtag begeht, weil er für ihn der Tag sein
muß, der den einen Begründer der neuen Weltanschauung ge-
bracht hat. Der Festtag, der Lyell gilt, bringt uns so recht zum Be-
wußtsein, daß wir zur Haeckelgemeinde gehören. Wenn Haeckel
über die Vorgänge der Natur mit uns redet, hat jedes Wort für
uns eine Nebenbedeutung, die mit unserem Empfinden verwandt
ist. Er sitzt am Steuer; er steuert kräftig. Wenn wir auch an man-
cher Stelle, an die er uns führt, nicht gerade vorbei wollen; er hat
doch die Richtung, die wir einschlagen wollen. Aus Lyells und
Darwins Händen hat er das Steuerruder bekommen, sie hätten es
keinem Besseren geben können. Er wird es an andere abgeben, die
in seiner Richtung führen. Und unsere Gemeinde segelt rasch vor-
wärts, hinter sich lassend die hilflosen Fährmänner der alten Welt-
anschauungen.

Dies sind die Vorstellungen, die der 14. November, an dem


Lyells Geburtstag zum hundertsten Male wiedergekehrt ist, in mir
aufgeregt hat.

364


HERMAN GRIMM
Zu seinem siebzigsten Geburtstage

Wir empfinden es als Glück, mit gewissen Menschen zu gleicher


Zeit leben zu dürfen. Soll ich solche Menschen nennen, so gehört
unter die ersten Herman Grimm, der am 6. Januar seinen sieb-
zigsten Geburtstag feiert. Er hat mir Richtungen des geistigen
Lebens gezeigt, die mir kein anderer hätte zeigen können. Ich bin
durch ihn in eine Vorstellungswelt eingeführt worden, in die mich
kein anderer hätte einführen können. Ich könnte nur zwei bis drei
Schriftsteller der Gegenwart anführen, von denen ich wie von ihm
sagen kann: bei den ersten Sätzen jedes seiner Bücher, jedes seiner
Essays habe ich ein persönliches Verhältnis zu ihm. Er gehört zu
den Schriftstellern, denen ich von Jugend an die größten Sympa-
thien entgegengebracht habe. Wenige achte ich in den Fällen, wo
ich ihnen widersprechen muß, so wie ihn. Bei anderen stumpft der
Widerspruch, in den wir gegen sie geraten, die Liebe zu ihnen ab.
Bei ihm nie. Ich habe das Gefühl, daß alles, was er sagt, aus hohen
Regionen kommt und hingenommen werden muß, auch wenn wir
glauben, anderer Meinung sein zu müssen. Ich kann Herman
Grimm gegenüber nicht von Irrtum sprechen.

Alles, was Herman Grimm schreibt und spricht, hat den persön-


lichsten Charakter seines Wesens. Was er durch emsige Gelehrten-
arbeit erforscht, was er durch die sorgfältigste Beobachtung ge-
winnt, spricht er wie eine persönliche Ansicht, wie eine subjektive
Meinung aus. Er schreibt keinen Satz, hinter dem man nicht seine
Persönlichkeit empfindet. Persönliche Erlebnisse spricht er aus,
ob er von Goethe, Homer, Raphael, Michelangelo oder von Shake-
speare spricht. Die persönlichen Erlebnisse eines tief und vornehm
empfindenden Geistes.

Eine vornehme Persönlichkeit in des Wortes edelster Bedeu-


tung steht vor meiner Seele, wenn ich an Herman Grimm denke.
Jedes Ding, das er anfaßt, gewinnt in seinen Händen eine eigen-
artige Bedeutung. Man kann es unter der Idee der Vornehmheit
betrachten. Die Größe, die in der Vornehmheit liegt, ist ihm

365


eigen. Es gibt Dinge, die ihm fremd bleiben, weil sie sich nicht
unter dem Gesichtswinkel der Vornehmheit betrachten lassen.

Die strengen Forscher, die auf sogenannte Objektivität halten,


ärgern sich über Herman Grimm. Man hat in dieser Richtung sehr
abfällige Urteile hören können, als sein Buch über Homer erschie-
nen war. Ich habe für dieses Buch eine ganz besondere Vorliebe.
Ein rein menschliches Interesse fesselt mich an das Werk. Andere
schreiben über Homer so, wie es die unpersönliche «Methode» for-
dert. Herman Grimm schreibt, wie jemand schreiben muß, der die
uns vorliegenden Werke Homers mit künstlerischem Empfinden
genießt. Er bringt uns dadurch ihren Gehalt viel näher, als jede
historisch-philologische Methode uns ihn nahebringen kann.

Herman Grimms Werke über Michelangelo und Raphael zeigen


uns diese Künstler in einer Beleuchtung, in der wir sie nur durch
ihn sehen können. Seine Auffassung wird fortleben in der Ent-
wickelung der Kunstgeschichte.

Nicht auf die Breite der geschichtlichen Entwickelung kommt


es Herman Grimm an. Die großen Persönlichkeiten sind ihm das
Wesentliche. Daß die abendländische Kultur einen Homer, Sopho-
kles, Michelangelo, Raphael, Dante, Shakespeare, Goethe hervorge-
bracht hat, macht für ihn den Wert dieser Kultur aus. Was zwischen
diesen Geistern liegt, soll nur um ihretwillen betrachtet werden.

Obwohl Herman Grimm uns große historische Perspektiven


eröffnet, hat die historische Betrachtungsweise nie sein Gefühl für
die unmittelbare Gegenwart verdunkelt. Er lebt in der Gegenwart,
wenn auch auf seine Weise. Über jede bedeutendere Frage der
Gegenwart hören wir seine Meinung mit dem höchsten Interesse.

Das Bild, das Herman Grimm von Goethe entwirft, ist nicht


nach dem Sinne der Goetheforscher. Das kommt davon, daß er
jeden Zug, jede Äußerung Goethes mit persönlichem Anteil be-
trachtet. Ihm ist Goethes Bild eine Sache, die er als eine ganz sub-
jektive ansieht. Die Frage, was ist mir Goethe, leuchtet durch alle
seine Ausführungen durch. Er betrachtet Goethe, insofern dieser
ein Element ist, das in sein eigenes Leben wirksam eingreift. Er
sagt von Goethe Dinge, von denen er die Empfindung hat, daß er
sie sagen muß, wenn ihm Goethe wert sein soll. Dinge, die Her-

366


man Grimm nicht interessieren, sagt er nicht, auch wenn die Ge-
lehrten von ihnen glauben, daß sie für das Verständnis Goethes
bedeutungsvoll sind. Herman Grimms Goethe ist nicht der «ob-
jektive» Goethe, aber wir möchten ihn nicht als Bestandteil un-
seres Geisteslebens entbehren.

Vor wenigen Wochen hat uns Herman Grimm die dritte Auf-


lage eines Novellenbandes geschenkt. Eine tief zum Herzen spre-
chende Schönheit ist allen novellistischen Werken Grimms eigen.
Wer sie liest, empfindet an ihnen in einem charakteristischen
Falle, was Kultur ist. Man hat das Gefühl, daß man einer Persön-
lichkeit gegenübersteht, die ein stilvolles Leben führt.

Der Stil in der Lebensführung scheint mir ein hervorragender
Zug in Herman Grimms Persönlichkeit zu sein. Es stimmt alles
zu einem Ganzen, was er im einzelnen tut. Nichts fällt aus dem
großen Zug heraus, der uns bei ihm auffällt.

Unsere naturwissenschaftliche Art, die Dinge anzusehen, liegt


Herman Grimm ferne. Sie ist in vielen Punkten für sein persön-
liches Empfinden verletzend. Ihm ist die menschliche Natur, wie
sie sich gegenwärtig vor unseren Augen darlebt und wie sie sich
in den Werken der Phantasie und Vernunft äußert, der liebste
Betrachtungsgegenstand. Wie sich diese Natur organisch aus an-
deren Formen entwickelt hat, interessiert ihn daneben nicht. Über
die höchsten philosophischen und religiösen Fragen scheint ihm
ein natürliches Empfinden besseren Aufschluß zu geben als die
naturwissenschaftliche Anschauungsweise.

Ein Ausfluß dieser seiner Art, die Dinge anzusehen, ist Herman


Grimms Stil, Jeder Satz entspringt bei ihm einem persönlichen Im-
puls. Das Folgern eines Satzes aus dem ändern, die Herleitung
von Urteilen aus Grandannahmen kennt er nicht. In seinem Fort-
schreiten von Satz zu Satz gibt es keine Ausgangspunkte und Er-
gebnisse. Jede Behauptung entspringt aus einem neuen Erlebnis.
Dieser Eigenart seines Stiles ist es zuzuschreiben, daß wir beim
Lesen seiner Bücher an innerem Lebensgehalt reicher zu werden
glauben.

Er gibt uns stets frisches warmes Leben: deshalb bringen wir


ihm auch solches entgegen.

367


DAS SCHÖNE UND DIE KUNST

Ein Buch, das schöne Erinnerungen wachruft, liegt vor mir. Robert


Vischer, der Sohn des berühmten Ästhetikers Friedrich Theodor
Vischer, hat mit der Veröffentlichung der Werke seines Vaters
begonnen. «Das Schöne und die Kunst» nennt er das Buch, das er
mit großer Mühe und Sorgfalt aus hinterlassenen Papieren des
Verstorbenen und aus den Nachschriften der Schüler zusammen-
gestellt hat.

Während ich das Buch lese, tauchen in mir wieder alle die Vor-


stellungen auf, die ich mir einst über das Wesen der Künste ge-
macht habe. Das «einst» bedeutet die Zeit vor achtzehn bis zwan-
zig Jahren. Leute meines Alters haben sich damals aus den Werken
über Ästhetik von Vischer, Weiße, Carriere, Schasler, Lotze und
Zimmermann Aufklärung über die Natur der Künste geholt.

Diese Männer kamen von der Philosophie her, welche die Bil-


dung der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts beherrscht hat. Auf
Hegel stützten sich die einen, auf Herbart die anderen.

Und die Kunst war diesen Männern eine philosophische An-


gelegenheit.

Goethe, Schiller, Jean Paul haben sich in ihrer Art auch über


das Wesen der Kunst Vorstellungen gebildet. Sie gingen dabei
von der Kunst selbst aus. Was der Mensch gezwungen ist zu
denken, wenn er die Kunst auf sich wirken läßt, sprachen sie aus.
Aus der Kunst heraus waren ihre Begriffe über Kunst geboren.

Vischer, Carriere, Weiße, Zimmermann, Schasler gingen ur-


sprünglich nicht von der unmittelbar lebendigen Natur aus. Sie
dachten über die Gesamtheit der Welterscheinungen nach. Und zu
diesen Welterscheinungen gehören auch die Erzeugnisse des künst-
lerischen Schaffens. Wie sie nach dem Wesen des Lichtes, der
Wärme, der tierischen Entwickelung fragten, so fragten sie auch
nach dem Wesen der Kunst. Ihre Ausgangspunkte waren die von
Erkenntnismenschen, nicht die künstlerisch empfindender Naturen.

Ich meine natürlich nicht, daß einem Manne wie Fr. Th. Vischer


das künstlerische Empfinden im höchsten und reinsten Sinne des
Wortes abzusprechen ist. Im Gegenteil: sein Verhältnis zur Kunst

368


ist das denkbar lebendigste und persönlichste. Aber wenn er über
die Kunst spricht, so spricht er als Philosoph.

Eine Verwirklichung des göttlichen Geistes war für Vischer die


Welt. Eine Darstellung des göttlichen Geistes in dem Marmor, in
Linien und Farben, in Worten ist ihm deswegen die Kunst. Wie
verwirklicht der Künstler den göttlichen Geist im sinnlichen
Stoffe? Das war für Vischer die Grundfrage. Eine hohe, eine reife
philosophische Schulung liegt allen seinen Ausführungen zu-
grunde. Die Sprache, die er spricht, wird heute nurmehr von we-
nigen verstanden. Sie konnte nur von denjenigen verstanden wer-
den, welche die philosophischen Gedanken Schellings und Hegels
als Bestandteil ihrer Bildung in sich hatten. Nur diese konnten
Interesse haben für die Fragen, welche Vischer stellte, für die
Gedanken, die er mitteilte.

Heute können nur wenige ein Buch von Vischer so lesen, wie


es seine Zeitgenossen lasen. Für die Menschen der Gegenwart
werden darinnen Dinge besprochen, die sie nichts angehen.

Für Vischer war die Kunst letzten Endes doch eine unpersön-


liche Angelegenheit. Sie gehörte zu den Aufgaben, welche dem
Menschen von höheren Mächten gestellt werden. Zwar glaubt
Vischer nicht an einen persönlichen Gott. Aber er glaubt doch an
einen Gott. An ein geistiges Grundwesen, das sich in der Natur,
in der Geschichte, in der Kunst auslebt. Dieses Grundwesen steht
über dem Menschen. Unsere Besten haben diesen Glauben auf-
gegeben. Ihnen ist der Geist nichts Selbständiges. Ihnen ist der
Geist nur da, insofern die Natur die Fähigkeit hat, Geistiges aus
sich hervorzubringen. Der höchste Geist wird für sie durch den
Menschen hervorgebracht, der ihn aus seiner Natur gebiert. Nur
wenn der Mensch das Geistige schafft, ist es da. Vischer glaubt,
das Geistige sei an sich da, und der Mensch müsse es ergreifen.
Die Heutigen glauben: nur das Natürliche ist ohne den Menschen
da, und das Geistige wird durch den Menschen erst erzeugt. Des-
halb ist für Vischer der Künstler ein Mensch, der von dem gött-
lichen Geiste erfüllt ist und ihn in seinen Werken verkörpert. Für
die Heutigen ist der Künstler ein Mensch, der das Bedürfnis hat,
den Dingen Gewalt anzutun und ihnen das Gepräge seiner Per-

369


sönlichkeit zu geben. Sie glauben nicht, daß sie einen Geist ver-
körpern sollen, sie wollen Dinge schaffen, wie sie ihren Vorstel-
lungen, ihrer Phantasie entsprechen.

Vischer sagt: der Bildhauer prägt dem Marmor eine mensch-


liche Gestalt ein, die keinem wirklich vorhandenen Menschen
gleicht, weil er unbewußt in sich das Bild, die Idee der ganzen
Menschheit, das Urbild des Menschen trägt und dieses verkörpern
will. Dieses Urbild ist das Göttliche im Menschen. Die Modernen
wissen nichts von einem solchen Urbilde. Sie wissen nur, daß
ihnen eine Gestalt vor die Seele tritt, wenn sie den Menschen be-
trachten, und daß sie diese Gestalt verwirklichen wollen. Sie wollen
neben der natürlichen Welt eine künstliche gebären, die ihnen
ihr Temperament, ihre Phantasie eingibt. Eine menschlich ge-
wollte Welt ist das, keine aus dem göttlichen Geist entsprungene.

Die Heutigen verstehen es nicht mehr, wenn man von der


Kunst wie von einer Verwirklichung des Göttlichen spricht, sie
können nur begreifen, daß der Mensch das Bedürfnis hat, Dinge
nach seinem Temperament, nach seiner Eingebung zu gestalten.

Menschlich wollen die Modernen über die Kunst sprechen; auf
den religiösen Zug, der Vischers Ausführungen zugrunde liegt,
wollen sie nicht mehr eingehen.

GRAF LEO TOLSTOI • WAS IST KUNST?

Graf Leo Tolstoi hat eine Schrift «Was ist Kunst?» veröffentlicht.
Der russische Romancier hat sich, seit er unter die Moralprediger
gegangen ist, die Sympathien eines großen Teiles seiner ehemali-
gen Verehrer zerstört. Der Inhalt seiner Morallehre steht durchaus
nicht auf der Höhe seines Künstlertums. Eine Gefühlsmoral, die
sich auf allgemeine Menschenliebe und Mitleid stützt und die auf
Bekämpfung des Egoismus abzielt, ist dieser Inhalt. Verwässertes
Christentum ist der beste Ausdruck, den man dafür finden kann.
Vom Standpunkte dieser Morallehre beantwortet Tolstoi auch die

370


Frage, die er sich jetzt stellt: «Was ist Kunst?» Zunächst weist er
darauf hin, welch ungeheure menschliche Arbeitskraft dazu auf-
gewendet werden muß, um ein Werk der Kunst zustande zu brin-
gen. Er geht von einer Opernprobe aus, bei der er einmal an-
wesend war. Er schildert, welche Zeit und Mühe eine solche Probe
kostet und wie lieblos die Leiter derselben das Personal behandeln,
mit dem sie es zu tun haben. Und dann sagt er sich: was kommt
bei all der Mühe und Arbeit heraus? «Für wen geschieht denn das
alles? Wem kann es gefallen? Wenn auch dann und wann in die-
ser Oper schöne Motive vorkommen, die angenehm zu hören sind,
so könnte man sie doch einfach absingen, ohne diese dummen
Verkleidungen, Aufzüge, Rezitative und Armschwingungen. Ein
Ballett aber, in dem halbnackte Frauen sinnlich aufregende Be-
wegungen vorführen und sich in Girlanden verwickeln, ist nichts
weiter als eine moralverderbende Vorstellung, so daß man nicht
einmal begreifen kann, für wen sie berechnet ist. Ein gebildeter
Mensch hat die Sachen satt bekommen, und ein gewöhnlicher
Arbeiter versteht sie einfach nicht. Sie kann nur — was ich auch
noch bezweifeln möchte — denen gefallen, die von sogenannten
herrschaftlichen Vergnügungen noch nicht übersättigt sind, aber
sich herrschaftliche Bedürfnisse angeeignet haben und ihre Bil-
dung zeigen wollen wie etwa junge Lakaien... Und diese ganze
häßliche Dummheit wird nicht gutmütig, nicht einfach heiter,
sondern mit Bosheit, mit tierischer Grausamkeit einstudiert.»

Man muß, weil die Kunst solche Opfer fordert, sich fragen:


Was ist der Zweck der Kunst? Was trägt die Kunst zum Ganzen
der menschlichen Kulturentwickelung bei? Um sich diese Frage
zu beantworten, hält Tolstoi Umschau bei den deutschen, französi-
schen und englischen Ästhetikern, die über die Aufgaben der
Kunst ihre Anschauungen veröffentlicht haben. Er kommt zu
einem ungünstigen Urteil über diese Ästhetiker. Er findet, daß
keine Übereinstimmung herrscht über den Begriff der Kunst.
«Sieht man» — sagt er — «von den ganz ungenauen und den Begriff
der Kunst nicht deckenden Definitionen der Schönheit ab, welche
deren Wesen bald im Nutzen, bald in der Zweckmäßigkeit, bald
in der Symmetrie, bald in der Ordnung, bald in der Proportio-

37l


nalität, bald in der Glätte, bald in der Harmonie der Teile, bald
in der Einheit, bald in der Mannigfaltigkeit, bald in den verschie-
denen Verbindungen dieser Prinzipien finden, sieht man von die-
sen ungenügenden Versuchen objektiver Definitionen ab, — so
können alle ästhetischen Bestimmungen der Schönheit auf zwei
Grundansichten zurückgeführt werden: die erste, daß die Schön-
heit etwas für sich Bestehendes ist, eine der Erscheinungen des
absolut Vollkommenen, der Idee, des Geistes, des Willens, von
Gott, — und die zweite, daß die Schönheit ein gewisses von uns
empfundenes Vergnügen ist, welches persönliche Vorteile nicht
zum Zwecke hat.»

Tolstoi findet beide Ansichten unvollkommen, und er sieht den


Grund der Unvollkommenheit darin, daß sie auf einer primitiven
Ansicht von der menschlichen Kultur beruhen. Auf einer primi-
tiven Stufe der Anschauungen sehen die Menschen auch den
Zweck des Essens in dem Genüsse, den ihnen das Essen bereitet.
Eine höhere Stufe der Einsicht ist die, wenn sie erkennen, daß die
Ernährung und damit die Förderung des Lebens der Zweck des
Essens ist, und wenn sie den Genuß nur als eine untergeordnete
Beigabe betrachten. In gleicher Weise steht der Mensch auf einer
niedrigen Stufe, welcher glaubt, daß der Zweck der Kunst in dem
Genüsse der Schönheit bestehe. «Um die Kunst genau zu definie-
ren, muß man vor allen Dingen aufhören, sie als Mittel zum Ge-
nuß zu betrachten, dagegen muß man in der Kunst eine der Be-
dingungen des menschlichen Lebens sehen. Von diesem Gesichts-
punkte ausgehend, müssen wir zugeben, daß die Kunst eines der
Mittel zum Verkehr der Menschen untereinander ist.» Nicht als
Selbstzweck läßt Tolstoi die Kunst gelten. Die Menschen sollen
einander verstehen, lieben und fördern; das ist ihm der Zweck
jeder Kultur. Die Kunst soll nur ein Mittel sein, diesen höheren
Zweck zu verwirklichen. Durch die Worte teilen sich die Menschen
ihre Gedanken und ihre Erfahrungen mit. Der Einzelne lebt durch
die Sprache in und mit dem Ganzen des Menschengeschlechtes.
Was Worte allein nicht vermögen, um dieses Zusammenleben
hervorzubringen, das soll die Kunst bewirken. Sie soll die Emp-
findungen und Gefühle von Mensch zu Mensch vermitteln, wie

372


es die Worte mit den Erfahrungen und Gedanken machen. «Die
Tätigkeit der Kunst beruht darauf, daß der Mensch, indem er
durch das Ohr oder das Auge den Ausdruck der Gefühle eines
anderen wahrnimmt, diese Gefühle nachzuempfinden vermag.»

Ich glaube, daß von Tolstoi übersehen wird, welchen Ursprung


die Kunst hat. Nicht auf die Mitteilung kommt es dem Künstler
zunächst an. Wenn ich eine Erscheinung der Natur oder des Men-
schenlebens sehe, so treibt mich ein ursprünglicher Trieb dazu,
mir im Geiste ein Bild von dieser Erscheinung zu machen. Und
meine Phantasie drängt mich dazu, dieses Bild in einer Weise
um- und auszugestalten, die gewissen Neigungen in mir ent-
spricht. Zur Ausgestaltung dieses Bildes bediene ich mich der
Mittel, die meinen Fähigkeiten entsprechen. Wenn diese Mittel
die Farben sind, so male ich, und wenn es die Vorstellungen sind,
so dichte ich. Ich tue das nicht, um mich mitzuteilen, sondern weil
ich das Bedürfnis habe, mir von der Welt Bilder zu machen, die
meine Phantasie mir eingibt. Ich bin nicht zufrieden mit der Ge-
stalt, welche die Natur und das Menschenleben für mich haben,
wenn ich sie bloß als passiver Zuschauer betrachte. Ich will Bilder
machen, die ich selbst erfinde oder die ich doch — wenn ich sie
auch von außen aufnehme — in meiner Weise wiedergebe. Der
Mensch will nicht bloßer Betrachter, er will nicht reiner Zu-
schauer den Weltereignissen gegenüber sein. Er will auch aus
Eigenem etwas zu dem hinzu erschaffen, das von außen auf ihn
eindringt. Deshalb wird er Künstler. Wie dies Geschaffene dann
weiter wirkt, ist eine Folgeerscheinung. Und wenn von der Wir-
kung der Kunst auf die menschliche Kultur gesprochen werden
soll, so mag Tolstoi Recht haben. Aber die Berechtigung der
Kunst als solche muß, unabhängig von ihrer Wirkung, in einem
ursprünglichen Bedürfnisse der menschlichen Natur gesucht wer-
den.

373


ÜBER WAHRHEIT UND WAHRSCHEINLICHKEIT
DER KUNSTWERKE

Über dieses Thema gibt es einen interessanten Aufsatz Goethes in


Gesprächform. In demselben wird die Frage: «Was für eine Art
von Wahrheit soll man vom Kunstwerke verlangen?» in erschöp-
fender Weise behandelt. Was da gesagt wird, wiegt Bände auf, die
in neuerer Zeit über diesen Gegenstand geschrieben worden sind.
Da gegenwärtig ein ebenso lebhaftes Interesse wie eine große Ver-
wirrung über die Frage herrschen, dürfte es wohl hier am Platze
sein, an die Hauptgedanken des Goetheschen Gespräches zu er-
innern.

Es nimmt seinen Ausgang von der Darstellung des «Theaters


im Theater». «Auf einem deutschen Theater ward ein ovales, ge-
wissermaßen amphitheatralisches Gebäude vorgestellt, in dessen
Logen viele Zuschauer gemalt sind, als wenn sie an dem, was
unten vorgeht, teilnähmen. Manche wirkliche Zuschauer im Par-
terre und in den Logen waren damit unzufrieden und wollten
übelnehmen, daß man ihnen so etwas Unwahres und Unwahr-
scheinliches aufzubinden gedächte. Bei dieser Gelegenheit fiel ein
Gespräch vor, dessen ungefährer Inhalt hier aufgezeichnet wird.»

Das Gespräch findet statt zwischen einem Anwalt des Künst-


lers, der mit den gemalten Zuschauern seine Aufgabe gelöst zu
haben glaubt, und einem Zuschauer, dem solche gemalte Zu-
schauer nicht genügen, weil er Naturwahrheit verlangt. Dieser
Zuschauer will, daß ihm «wenigstens alles wahr und wirklich
scheinen solle». «Warum gäbe sich denn der Dekorateur die
Mühe, alle Linien aufs genaueste nach den Regeln der Perspektive
zu ziehen, alle Gegenstände nach der vollkommensten Haltung
zu malen? Warum studierte man aufs Kostüm? Warum ließe man
es sich so viel kosten, ihm treu zu bleiben, um dadurch mich in
jene Zeiten zu versetzen? Warum rühmt man den Schauspieler am
meisten, der die Empfindungen am wahrsten ausdrückt, der in
Rede, Stellung und Gebärden der Wahrheit am nächsten kommt,
der mich täuscht, daß ich nicht eine Nachahmung, sondern die
Sache selbst zu sehen glaube? »

374


Der Anwalt des Künstlers macht nunmehr den Zuschauer darauf
aufmerksam, inwiefern ihn das alles nicht berechtige zu sagen, er
müsse im Theater die Menschen und Vorgänge nicht so vor sich
haben, daß sie ihm wahr scheinen; er müsse vielmehr behaupten,
daß er in keinem Augenblicke die Empfindung habe, Wahrheit zu
sehen, sondern einen Schein, allerdings einen Schein des Wahren.

Zunächst glaubt nun der Zuschauer, daß der Anwalt ihm ein


Wortspiel vorführe. Fein läßt hierauf Goethe den Anwalt ant-
worten: «Und ich darf ihnen darauf versetzen, daß, wenn wir von
Wirkungen unseres Geistes reden, keine Worte zart und subtil
genug sind, und daß Wortspiele dieser Art selbst ein Bedürfnis
des Geistes anzeigen, der, da wir das, was in uns vorgeht, nicht
geradezu ausdrücken können, durch Gegensätze zu operieren, die
Frage von zwei Seiten zu beantworten und so gleichsam die Sache
in die Mitte zu fassen sucht.»

Menschen, die nur gewohnt sind, in den grobklotzigen Vorstel-


lungen zu leben, die das Alltagsleben erzeugt, sehen oft unnötige
Wortklauberei in den zarten, begrifflichen Unterscheidungen, die
derjenige machen muß, der die feinen, unendlich komplizierten
Verhältnisse der Wirklichkeit begreifen will. Zwar ist es richtig,
daß sich mit Worten trefflich streiten, mit Worten ein System
bereiten lasse, aber nicht immer ist derjenige schuld, der das
System bereitet, daß kein Begriff bei dem Worte ist. Oft kann
auch derjenige, der die Worte hört, den Begriff nur nicht mit dem
gehörten Worte verbinden. Es wirkt oft komisch, wenn die Leute
sich darüber beklagen, daß sie bei den Worten dieses oder jenes
Philosophen sich nichts denken können. Sie glauben immer, es läge
an dem Philosophen — oft liegt es aber an den Lesern, die nur nichts
denken können, während der Philosoph sehr viel gedacht hat.

Es ist ein großer Unterschied zwischen «wahr scheinen» und


«den Schein des Wahren» haben. Die theatralische Darstellung ist
selbstverständlich Schein. Man kann nun der Ansicht sein, daß der
Schein eine solche Gestalt haben müsse, daß er die Wirklichkeit
vortäusche. Oder man kann der Überzeugung sein, daß der Schein
aufrichtig zeigen solle: ich bin keine Wirklichkeit; ich bin Schein.
Wenn der Schein diese Aufrichtigkeit hat, dann kann er seine

375


Gesetze nicht aus der Wirklichkeit nehmen, dann muß er eigene
Gesetze für sich haben, die nicht die gleichen mit denen der
Wirklichkeit sind. Wer einen künstlerischen Schein will, der die
Wirklichkeit nachäfft, der wird sagen: in einer theatralischen Dar-
stellung muß alles so verlaufen, wie es in der Wirklichkeit ver-
laufen wäre, wenn derselbe Vorgang sich zugetragen hätte. Wer
einen künstlerischen Schein will, der sich aufrichtig als Schein
gibt, der wird hingegen sagen: in einer theatralischen Darstellung
muß manches anders verlaufen, als es in der Wirklichkeit zu ver-
laufen pflegt; die Gesetze, nach denen die dramatischen Vorgänge
zusammenhängen, sind andere als diejenigen, nach denen die wirk-
lichen zusammenhängen.

Wer einer solchen Überzeugung ist, muß also zugeben, daß es


in der Kunst Gesetze für den Zusammenhang von Tatsachen gibt,
für die ein entsprechendes Vorbild in der Natur nicht vorhanden
ist. Solche Gesetze vermittelt die Phantasie. Sie schafft nicht der
Natur nach, sie schafft neben der Naturwahrheit eine höhere
Kunstwahrheit.

Diese Überzeugung läßt Goethe den «Anwalt des Künstlers»


aussprechen. Dieser behauptet, «daß das Kunstwahre und das
Naturwahre völlig verschieden sei, und daß der Künstler keines-
wegs streben sollte noch dürfte, daß sein Werk eigentlich als ein
Naturwerk erscheine».

Naturwahrheit werden nur diejenigen Künstler in ihren Werken


liefern wollen, denen die Phantasie fehlt, die deshalb kein Kunst-
wahres erschaffen können, sondern die bei der Natur eine Anleihe
machen müssen, wenn sie überhaupt etwas zustande bringen wol-
len. Und nur diejenigen Zuschauer werden Naturwahrheit in den
Kunstwerken verlangen, die nicht ästhetische Kultur genug haben,
um sich zu der Forderung eines besonderen Kunstwahren neben
dem Naturwahren zu erheben. Sie kennen nur das Wahre, das sie
täglich erleben. Und wenn sie der Kunst gegenüberstehen, dann
fragen sie: stimmt dieses Künstliche mit dem überein, was wir als
Wirklichkeit kennen? Der Mensch mit ästhetischer Kultur kennt
ein anderes Wahres als dasjenige der gemeinen Wirklichkeit. Er
sucht dieses andere Wahre in der Kunst.

376


Goethe läßt seinen «Anwalt des Künstlers» den Unterschied
zwischen einem Menschen mit ästhetischer Kultur und einem
solchen ohne diese durch ein sehr derbes, aber vortreffliches Bei-
spiel erläutern. «Ein großer Naturforscher besaß unter seinen
Haustieren einen Affen, den er einst vermißte und nach langem
Suchen in der Bibliothek fand. Dort saß das Tier an der Erde und
hatte die Kupfer eines ungebundenen, naturgeschichtlichen Wer-
kes um sich her zerstreut. Erstaunt über dieses eifrige Studium des
Hausfreundes, nahte sich der Herr und sah zu seiner Verwunde-
rung und zu seinem Verdruß, daß der genäschige Affe die sämt-
lichen Käfer, die er hie und da abgebildet gefunden, herausgespeist
habe.»

Der Affe kennt nur naturwirkliche Käfer, und die Art, wie er


sich im gemeinen Leben zu solchen naturwirklichen Käfern ver-
hält, ist die, daß er sie verspeist. Auf den Abbildungen tritt ihm
nicht Wirklichkeit, sondern nur Schein entgegen. Er nimmt den
Schein nicht als Schein. Denn zu einem Scheine könnte er kein
Verhältnis gewinnen. Er nimmt den Schein als Wirklichkeit und
verhält sich zu ihm wie zu einer Wirklichkeit.

In dem Falle dieses Affen sind diejenigen Menschen, die einen


künstlerischen Schein so wie eine Wirklichkeit nehmen. Wenn sie
eine Raubszene oder eine Liebesszene auf der Bühne sehen, dann
wollen sie von dieser Raub- oder Liebesszene genau dasselbe haben
wie von entsprechenden Szenen in der Wirklichkeit.

Der «Zuschauer» in Goethes Gespräch wird durch das Beispiel


vom Affen zu einer reineren Anschauung vom künstlerischen Ge-
nüsse gebracht und sagt: «Sollte der ungebildete Liebhaber nicht
eben deswegen verlangen, daß ein Kunstwerk natürlich sei, um es
nur auch auf eine natürliche, oft rohe und gemeine Weise genie-
ßen zu können?» — Das Kunstwerk will auf eine höhere Art ge-
nossen sein als das Naturwerk. Und wer diese höhere Art des
Genusses nicht durch ästhetische Kultur in sich gepflanzt hat, der
gleicht dem Affen, der die gemalten Käfer frißt, statt sie zu be-
trachten und sich durch ihre Betrachtung naturwissenschaftliche
Kenntnisse zu erwerben. Der «Anwalt» bringt das in die Worte:
«Ein vollkommenes Kunstwerk ist ein Werk des menschlichen

377


Geistes, und in diesem Sinne auch ein Werk der Natur. Aber in-
dem die zerstreuten Gegenstände in eins gefaßt und selbst die
gemeinsten in ihrer Bedeutung und Würde aufgenommen werden,
so ist es über die Natur. Es will durch einen Geist, der harmonisch
entsprungen und gebildet ist, aufgefaßt sein, und dieser findet das
Vortreffliche, das in sich Vollendete auch seiner Natur gemäß.
Davon hat der gemeine Liebhaber keinen Begriff; er behandelt ein
Kunstwerk wie einen Gegenstand, den er auf dem Markte antrifft:
aber der wahre Liebhaber sieht nicht nur die Wahrheit des Nach-
geahmten, sondern auch die Vorzüge des Ausgewählten, das Geist-
reiche der Zusammenstellung, das Überirdische der kleinen Kunst-
welt; er fühlt, daß er sich zum Künstler erheben müsse, um das
Werk zu genießen, er fühlt, daß er sich aus seinem zerstreuten
Leben sammeln, mit dem Kunstwerke wohnen, es wiederholt an-
schauen und sich selbst dadurch eine höhere Existenz geben
müsse.»

Die Kunst, welche bloße Naturwahrheit anstrebt, äffische Nach-


ahmung der gemeinen alltäglichen Wirklichkeit, ist in dem Augen-
blicke widerlegt, in dem man in sich die Möglichkeit fühlt, sich
die oben geforderte «höhere Existenz» zu geben. Diese Möglich-
keit kann im Grunde nur jeder bei sich selbst fühlen. Deshalb
wird es eine allgemeine, überzeugende Widerlegung des Naturalis-
mus nicht geben können. Wer nur die gemeine, alltägliche Wirk-
lichkeit kennt, wird immer Naturalist bleiben. Wer in sich die
Fähigkeit entdeckt, über das Naturwesen hinaus ein besonderes
Kunstwesen zu schauen, wird den Naturalismus als die ästhetische
Weltanschauung künstlerisch bornierter Menschen empfinden.

Wenn man dieses eingesehen hat, wird man nicht mit logischen


oder anderen Waffen gegen den Naturalismus kämpfen. Denn ein
solcher Kampf käme dem gleich, wenn man dem Affen nach-
weisen wollte, daß gemalte Käfer nicht zum Fressen, sondern zum
Betrachten gehören. Wenn man schon soweit kommen würde,
dem Affen begreiflich zu machen, daß er gemalte Käfer nicht
fressen soll: eines würde er doch nie einsehen, nämlich wozu ge-
malte Käfer sind, da man sie doch nicht fressen darf. Ebenso geht
es mit dem ästhetisch Ungebildeten. Er wird vielleicht bis zu der

378


Einsicht zu bringen sein, daß ein Kunstwerk nicht so zu behan-
deln ist wie ein Gegenstand, den man auf dem Markte antrifft.
Aber da er doch nur ein solches Verhältnis versteht, wie er zu den
Gegenständen des Marktes gewinnen kann, so wird er nicht ein-
sehen, wozu denn Kunstwerke dann eigentlich da sind.

Dies ist ungefähr der Inhalt des erwähnten Goetheschen Ge-


spräches. Man sieht, daß in demselben in einer vornehmen Weise
Fragen behandelt werden, die heute von vielen einer erneuten
Prüfung unterzogen werden. Die Prüfung dieser sowie vieler an-
derer Dinge wäre nicht notwendig, wenn man sich die Mühe
nehmen wollte, sich in die Gedanken derer zu vertiefen, die im
Zusammenhange mit einer einzig hohen Kultur an diese Sachen
herangetreten sind.

NEUJAHRSBETRACHTUNG EINES KETZERS

Die letzten Jahre haben uns eine stattliche Zahl von Betrachtun-
gen über die Kulturerrungenschaften des ablaufenden Jahrhunderts
gebracht. Und in den zwei Jahren, die wir in diesem Säkulum
noch zu durchleben haben, werden sich diese Betrachtungen wohl
ins Unübersehbare anhäufen. Geister, die gerne das Selbstverständ-
liche immer von neuem betonen, mögen den Einwand geltend
machen, daß der Ablauf eines Jahrhunderts ein rein zufälliger Ein-
schnitt in dem Entwickelungsgange der Menschheit ist und daß
bei einer ändern Zeitrechnung dieser Einschnitt mit einer ganz
anderen Phase dieser Entwickelung zusammenfallen könnte. Ge-
genüber der suggestiven Wirkung, die davon ausgeht, daß das
Jahrhundert zahlenmäßig als Ganzheit erscheint, kann ein solcher
Einwand nicht aufkommen.

Neben diesem allgemeinen gibt es für die gegenwärtige Jahr-


hundertwende noch einen besonderen Grund, auf die Errungen-

379


Schäften unserer Kultur und die Richtungen, die sie augenblicklich
einschlägt, einen orientierenden Blick zu werfen.

Das nächste, was bei einer solchen Betrachtung auffällt, ist der


ungeheure Reichtum an neuen Bedingungen zur Beherrschung der
Naturkräfte und der damit verbundene Fortschritt der praktischen
Lebensgestaltung. Von der Eisenbahn und Dampfschiffahrt bis
zum Telephon müßte man die Reihe der Erfindungen mit ihren
ungeheuren Wirkungen Revue passieren lassen, wenn man diesen
Gedanken allseitig beleben sollte.

Und nicht anders steht es mit den neuen Bedingungen, die ge-


schaffen worden sind, um unsere Kenntnisse von der Welt zu er-
weitern. Welche Einblicke über die Natur gewähren die Spektral-
analyse, die Entdeckung Röntgens, die Studien über das Alter des
Menschengeschlechtes, die organische Entwickelungstheorie und
anderes, auf dessen Anführung ich hier naturgemäß verzichte, da
es mir nur darauf ankommt, auf diese Dinge hinzudeuten.

Trotz aller dieser und manch anderer Errungenschaften, zum


Beispiel auf dem Gebiete der Kunst, kann aber der tiefer blickende
Mensch gegenwärtig doch nicht recht froh über den Bildungs-
inhalt der Zeit werden. Unsere höchsten geistigen Bedürfnisse
verlangen nach etwas, was die Zeit nur in spärlichem Maße gibt.

Im Sinne Goethes kann man von der Bildung sagen, daß sie


durch die reinste Kultur zur höchsten Glückseligkeit führen müsse.
Unsere Bildung führt zu dieser Glückseligkeit nicht. — Sie läßt
die feinsten Geister im Stich, wenn diese die Befriedigung der in-
timsten Bedürfnisse ihres Gemütes suchen. In dieser Beziehung
bietet der Ausgang des Jahrhunderts einen ändern Anblick als
dessen Beginn. Man vergegenwärtige sich, wie vor hundert Jahren
Fichte die Geister entzündete, als er die Gesamtheit der Zeit-
bildung mit den innersten Bedürfnissen des menschlichen Geistes
in Einklang zu bringen suchte. In der gleichen Richtung haben
Schelling und Hegel das Wissen von den äußeren Dingen vertieft.
Und wie wurden die Stimmen dieser Geister gehört!

Um die Mitte des Jahrhunderts tritt ein völliger Wandel ein.


Die so zahllos auf den Menschen einstürmenden Erkenntnisse von
den äußeren Dingen scheinen die Fähigkeit vollständig in den

380


Hintergrund zu drängen, Einblick zu halten in die eigene Seele
und eine Harmonie zu suchen zwischen Außenwelt und Innen-
welt.

Einen geradezu paradoxen Ausdruck erhält diese Wandlung


durch die geringe Achtung, deren sich die Philosophie und ihre
Träger in der Gegenwart erfreuen. Wie nimmt sich gegenüber
dieser Geringschätzung Nietzsches Ansicht aus, daß das Griechen-
volk deshalb so hoch stehe, weil es nicht wie andere Völker Pro-
pheten, sondern seine sieben Weisen als Menschenideale hinstellt?

Man darf sich nicht wundern, wenn gegenüber solchen Erschei-


nungen Geister mit tieferen geistigen Bedürfnissen die stolzen
Gedankengebäude der Scholastik befriedigender finden als den
Ideengehalt unserer eigenen Zeit. Otto Willmann hat ein hervor-
ragendes Buch geschrieben, seine «Geschichte des Idealismus»
(Braunschweig 1894-97), in dem er sich zum Lobredner der Welt-
anschauung vergangener Jahrhunderte aufwirft. Man muß zu-
geben: der Geist des Menschen sehnt sich nach jener stolzen, um-
fassenden Gedankendurchleuchtung, welche das menschliche Wis-
sen in den philosophischen Systemen der Scholastiker erfahren hat.
Und dieser Geist wird immer unbefriedigt sein von Geständ-
nissen, wie der große Physiker Hermann Helmholtz in seiner Wei-
marischen Götterrede* vor einigen Jahren eines abgelegt hat. Er
sagte: gegenüber dem Reichtum unseres gegenwärtigen Wissens
ist es kaum möglich, daß ein umfassender Geist auftrete, der die
Gesamtheit dieses Wissens mit einem einheitlichen Ideenkreis um-
spannt.

Dem Drang der menschlichen Seele nach Eingliederung alles


Wissens in eine Gesamtanschauung, aus der die höchsten geistigen
Bedürfnisse befriedigt werden können, steht in unserer Zeit die
Mutlosigkeit unseres Denkens gegenüber, welche es nicht dazu
kommen läßt, eine solche Gesamtanschauung zu gewinnen.

Diese Mutlosigkeit ist ein charakteristisches Merkmal des gei-


stigen Lebens an der Jahrhundertwende. Sie trübt uns die Freude
an den Errungenschaften der jüngstvergangenen Zeiten.

Wo immer jemand auftritt, der ein Gesamtbild unseres Wissens


zu entwerfen sucht, da tönen unzählige von dieser Mutlosigkeit

* Siehe Hinweis, Seite 635.

38l

zeugende Stimmen, welche die Unmöglichkeit eines solchen Ge-


samtbildes betonen, welche behaupten, daß unser Wissen zu einem
solchen Abschlüsse noch lange nicht reif sei. Auch solche Stimmen
sind hörbar, die die Unmöglichkeit eines solchen Abschlusses ver-
teidigen. Der menschliche Geist hätte gerade durch die Erfolge der
Wissenschaften gesehen, wie unfähig er sei, über diejenigen
Dinge etwas zu erkennen, die ehedem von den Philosophen zu
Gegenständen des Nachdenkens gemacht worden sind.

Ginge es nach der Meinung der Leute, die solche Stimmen ver-


nehmen lassen, so würde man sich begnügen, die Dinge und Er-
scheinungen zu messen, zu wägen, zu vergleichen, sie mit den vor-
handenen Apparaten zu untersuchen: niemals aber würde die
Frage erhoben nach dem höheren Sinn der Dinge und Erschei-
nungen.

Der unerschütterliche Glaube, daß das Denken dazu berufen ist,


die Welträtsel zu lösen, ist uns verlorengegangen. Nur bei we-
nigen Forschern, wie zum Beispiel bei Ernst Haeckel, ist die Nei-
gung vorhanden, das vorhandene Wissen so zu durchdringen, daß
sich ein solcher Sinn ergibt. — Es kommt nicht darauf an, ob man
mit den Gedanken übereinstimmt, die Haeckel in seiner Schrift
«Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft»
(Bonn 1892) entwickelt. Das Wesentliche ist, daß hier mit den
Mitteln unserer Geistesbildung die Frage aufgeworfen wird: wie
kann das menschliche Gemüt seine Bedürfnisse durch das moderne
Wissen befriedigen? Es ist dies dieselbe Frage, welche die Reli-
gionen aller Zeiten und welche auch die Scholastik mit ihren Bil-
dungsmitteln zu lösen suchte.

Tatsache aber ist, daß Gedanken dieser Art heute gegenüber


der allgemeinen Mutlosigkeit, ja Feigheit des menschlichen Den-
kens wenig Wirkung haben.

Es ist daher gar nicht zu verwundern, wenn überall die Reaktion


auf geistigem Gebiet ihr Haupt erhebt. Solange die naturwissen-
schaftlich gebildeten Denker zu mutlos sind, um vom Standpunkte
ihrer Erkenntnis aus einen Ersatz für die veralteten religiösen Vor-
stellungen zu bieten, werden Menschen, die das Bedürfnis nach
einer Weltanschauung haben, zurückgreifen auf die überlieferten

382


Vorstellungen; und die wenigen, die im Sinne einer modernen
Weltauffassung sich ihr Leben einrichten, werden Sänger bleiben
ohne Publikum. Ich möchte damit die Gründe erklärt haben,
welche bewirken, daß die vorgeschrittensten Geister der Gegen-
wart so wenig verstanden werden.

LUDWIG BÜCHNER


Gestorben am 30. April 1899

Wenn heute die Rede auf Ludwig Büchner kommt, wird man nur


selten einem anderen Urteile als dem begegnen, daß sein «popu-
läres Gerede» längst abgetan ist und daß er «in seiner Oberfläch-
lichkeit allen Halbwissern und Dilettanten naturwissenschaftlich
interessante Tatsachen und eine damit vermischte, kindlich rohe
Metaphysik in leichtfaßlicher Form darbot». So charakterisiert
zum Beispiel ein gegenwärtig viel genannter Philosoph, Theobald
Ziegler, in seinem jüngst erschienenen Buche «Die geistigen und
sozialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts» den eben ver-
storbenen Denker. Es ist eine bunte Gesellschaft, deren Mitglie-
der in diesem Urteil einig sind. Philosophen, die noch immer
höhere Erkenntnisquellen zu haben meinen als die an der «rohen
Wirklichkeit haftende Naturwissenschaft», gesellen sich zu klein-
mütigen Naturforschern, die es nicht wagen, aus den von ihnen
beobachteten Tatsachen konsequente Schlüsse auf die Stellung des
Menschen und seines Geistes innerhalb der Natur zu ziehen. Katho-
lisches, protestantisches und anderes Pfaffentum greift mit wah-
rer Lüsternheit die absprechenden Urteile solcher rückständigen
Philosophen und Naturforscher auf, weil die im eigenen theo-
logischen Arsenal aufgespeicherten Waffen allmählich doch zu
stumpf geworden sind. Mystisch veranlagte Naturen finden sich
in ihren heiligsten Gefühlen verletzt durch den «plumpen» Frei-
denker, welcher das menschliche Seelenleben auf stoffliche Grund-
lagen zurückführen will.

383


Die meisten dieser absprechenden Urteile über Ludwig Büchner
entspringen aus Geistern, die dessen Schriften in einem viel ober-
flächlicheren Sinne auffassen, als sie gemeint sind, und die über
nichts deshalb zu reden wissen als über den flachen und seichten
Materialismus, den sie selbst aus ihnen herauszulesen verstehen.
Der Mann, der die Kühnheit und Schärfe des Denkens hat, um
aus den naturwissenschaftlichen Errungenschaften des Jahrhunderts
die notwendigen Schlüsse zu ziehen, Ernst Haeckel, spricht immer
nur mit voller Anerkennung von dem Verfasser von «Kraft und
Stoff» als von einem Denker, der unter den Vorläufern Darwins
einen Ehrenplatz einnimmt.

Es soll nicht geleugnet werden, daß Ludwig Büchner ein ein-


seitiger Denker ist und daß man auch bei voller Zustimmung zu
den Erkenntnissen der Naturwissenschaft zu tieferen Vorstellungen
kommen kann, als es seiner auf grobe Linien veranlagten Ideenrich-
tung möglich war. Aber es muß zugleich betont werden, daß diese
Ideenrichtung mit den Empfindungen, die sie im Gefolge hat,
unserem modernen Seelenleben unendlich viel näher steht als die
philosophischen Gedankengebäude, die mit ihren höheren Erkennt-
nisquellen die überlebten Vorstellungen früherer Zeiten künstlich
retten wollen. Es ist eine durchaus moderne, wenn auch vielleicht
einer Vertiefung fähige Behauptung, daß der Mensch aus Licht und
Asche gezeugt ist, daß die Tätigkeit derselben Naturkräfte ihn ins
Leben ruft, der auch die Pflanze ihr Dasein verdankt. Und aller
Tiefsinn, der von Philosophen und Theologen aufgebracht wird,
um zu beweisen, daß der Geist ein Höheres, Ursprünglicheres sei
als die stoffliche Welt, liegt unserem Empfinden ferner als solch
eine Behauptung.

Es wird immer viel zu wenig darauf hingewiesen, woher eigent-


lich das Gefasel über den «rohen Materialismus» stammt. Es hat
seinen Grund gar nicht in der Vernunft, sondern in der Empfin-
dungs- und Gefühlswelt. Eine jahrtausendalte Erziehung des Men-
schengeschlechtes, zu der das Christentum ein Ungeheures bei-
getragen hat, war imstande, uns die Empfindung einzupflanzen,
daß der Geist etwas Hohes, die Materie etwas Gemeines, Rohes
sei. Und wie soll das Hohe aus dem Gemeinen stammen? Die

384


Vernunft wird sich vergeblich bemühen, in dem wundervollen Bau
der materiellen Natur etwas Niedrigeres zu sehen als in den Vor-
stellungen, die Philosophen und Theologen sich von den hohen
geistigen Wesenheiten machen. Sie wird es nimmermehr begrei-
fen, warum der großartige Bau des Gehirns etwas Rohes sein soll
gegenüber dem Himmel mit seinen ätherischen Engeln und Hei-
ligen oder gegenüber dem «Willen» Schopenhauers oder dem «Un-
bewußten» Eduard von Hartmanns. Nur wer befangen ist in den
Empfindungen, die aus der völligen Verkennung des materiellen
Daseins entspringen, kann sich auflehnen gegen Sätze wie den,
welchen vor kurzem Ernst Haeckel in seiner Schrift «Über unsere
gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Menschen» ausgespro-
chen hat: «Die physiologischen Funktionen des Organismus, welche
wir unter dem Begriff der Seelentätigkeit — oder kurz der -
zusammenfassen, werden beim Menschen durch dieselben mecha-
nischen (physikalischen und chemischen) Prozesse vermittelt wie
bei den übrigen Wirbeltieren. Auch die Organe dieser psychischen
Funktionen sind hier und dort dieselben: das Gehirn und das
Rückenmark als Zentralorgane, die peripheren Nerven und die
Sinnesorgane. Wie diese Seelenorgane sich beim Menschen lang-
sam und stufenweise aus den niederen Zuständen ihrer Wirbeltier-
ahnen entwickelt haben, so gilt dasselbe natürlich auch von ihren
Funktionen, von der Seele selbst. — Diese naturgemäße ... Auffas-
sung der Menschenseele steht im Widerspruche zu den dualisti-
schen und mythologischen Vorstellungen, welche der Mensch seit
Jahrtausenden sich von einem besonderen, übernatürlichen Wesen
seiner gebildet hat und welche in dem seltsamen Dogma
von der Unsterblichkeit der Seele> gipfelt. Wie dieses Dogma den
größten Einfluß auf die ganze Weltanschauung des Menschen ge-
wonnen hat, so wird es selbst heute noch von den meisten Men-
schen als unentbehrliche Grundlage ihres ethischen Wesens hoch-
gehalten. Der Gegensatz, in welchem dasselbe zu der natürlichen
Menschenentwicklungslehre steht, wird zugleich noch in den
weitesten Kreisen als der gewichtigste Grund gegen deren An-
nahme betrachtet oder selbst als Widerlegung der natürlichen
Schöpfungsgeschichte überhaupt.» (S. 42 f.)


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