Rudolf steiner



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Welt gesucht werden. Der Dualismus, der die Grundkräfte der


uns vorliegenden Wirklichkeit in einem uns unzugänglichen
Reiche sucht, versetzt dahin auch die Gebote und Normen unseres
Handelns. Auch Kant ist in diesem Irrtume befangen. Er hält das
Sittengesetz für ein Gebot, das von einer uns fremden Welt dem
Menschen auferlegt ist, für einen kategorischen Imperativ, dem
er sich zu fügen hat, auch dann, wenn seine eigene Natur Nei-
gungen entfaltet, die einer solchen aus einem Jenseits in unser
Diesseits hereintönenden Stimme sich widersetzen. Man braucht
sich nur an Kants bekannte Apostrophe an die Pflicht zu erinnern,
um das erhärtet zu finden: «Pflicht! du erhabener großer Name,
der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in
dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst», der du «ein Gesetz
aufstellst..., vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich
insgeheim ihm entgegenwirken.» Einem solchen von außen der
menschlichen Natur aufgedrungenen Imperativ setzt der Monis-
mus die aus der Menschenseele selbst geborenen sittlichen Motive
entgegen. Es ist eine Täuschung, wenn man glaubt, der Mensch
könne nach anderen als selbstgemachten Geboten handeln. Die
jeweiligen Neigungen und Kulturbedürfnisse erzeugen gewisse
Maximen, die wir als unsere sittlichen Grundsätze bezeichnen. Da
gewisse Zeitalter oder Völker ähnliche Neigungen und Bestrebun-
gen haben, so werden die Menschen, die denselben angehören,
auch ähnliche Grundsätze aufstellen, um sie zu befriedigen. Jeden-
falls aber sind solche Grundsätze, die dann als ethische Motive
wirken, durchaus nicht von außen eingepflanzt, sondern aus den
Bedürfnissen heraus geboren, also innerhalb der Wirklichkeit er-
zeugt, in der wir leben. Der Moralkodex eines Zeitalters oder
Volkes ist einfach der Ausdruck dafür, wie Anpassung und Ver-
erbung innerhalb der ethischen Natur des Menschen wirken. So
wie die Naturwirkungen aus Ursachen entspringen, die innerhalb
der gegebenen Natur liegen, so sind unsere sittlichen Handlungen
die Ergebnisse von Motiven, die innerhalb unseres Kulturprozesses
liegen. Der Monismus sucht also den Grund unserer Handlungen
im strengsten Sinne des Wortes innerhalb der Natur. Er macht
dadurch den Menschen aber auch zu seinem eigenen Gesetzgeber.

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Der Mensch hat keine andere Norm als die aus den Natur-
gesetzen sich ergebenden Notwendigkeiten. Er setzt die Wirkun-
gen der Natur im Gebiete des sittlichen Handelns fort.

Der Dualismus fordert Unterwerfung unter die von irgend-


woher geholten sittlichen Gebote; der Monismus weist den Men-
schen auf sich selbst und auf die Natur, also auf seine autonome
Wesenheit. Er macht ihn zum Herrn seiner selbst. Erst vom
Standpunkte des Monismus aus können wir den Menschen als
wahrhaft freies Wesen im ethischen Sinne auffassen. Nicht von
einem anderen Wesen stammende Pflichten sind ihm auferlegt,
sondern sein Handeln richtet sich einfach nach den Grundsätzen,
von denen jeder findet, daß sie ihn zu den Zielen führen, die von
ihm als erstrebenswert angesehen werden. Eine dem Boden des
Monismus entsprungene sittliche Anschauung ist die Feindin alles
blinden Autoritätsglaubens. Der autonome Mensch folgt eben
nicht der Richtschnur, von der er bloß glauben soll, daß sie ihn
zum Ziele führt, sondern er muß einsehen, daß sie ihn dahin führe,
und das Ziel selbst muß ihm individuell als ein erwünschtes er-
scheinen.

Der autonome Mensch will nach Gesetzen regiert werden, die


er sich selbst gegeben hat. Er hat nur eine einzige Vorbilderin -
die Natur. Er setzt das Geschehen da fort, wo die unter ihm ste-
hende organische Natur stehengeblieben ist. Unsere ethischen
Grundsätze finden sich vorgebildet auf primitiverer Stufe in den
Instinkten der Tiere. Kein kategorischer Imperativ ist etwas ande-
res als ein entwickelter Instinkt.

IV

Wahrhaft lähmend auf die Ausbildung eines allseitig ausgrei-


fenden Denkens hat die durch den «Rückgang zu Kant» bewirkte
Annahme von Grenzen des menschlichen Erkennens gewirkt. Ge-
deihen kann eine vorurteilslose Weltanschauung nur, wenn das Den-
ken den Mut hat, bis in die letzten Schlupfwinkel des Seins, bis
auf die Höhen der Wesenheiten zu dringen. Die reaktionären
Weltanschauungen werden immer ihre Rechnung finden, wenn

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sich das Denken selbst seine Flügel beschneidet. Eine Erkenntnis-
lehre, die von einem unerkennbaren «Ding an sich» spricht, kann
die beste Verbündete der rückschrittlichsten Theologie sein. Es
wäre interessant, das psychologische Problem zu verfolgen, wel-
chen Anteil bei den Theoretikern der Erkenntnisgrenzen die un-
bewußte, geheime Sehnsucht hat, der Theologie doch ein Hinter-
türchen offenzulassen. Es ist doch nichts charakteristischer für
die menschliche Natur, als was man sonst ausgezeichneten Den-
kern als große Freude anmerken kann. Diese kommt über sie,
wenn ihnen scheinbar der Beweis gelingt, daß es etwas gibt, wo-
hin kein Wissen dringt - wo daher ein braver Glaube einsetzen
darf. Mit wahrhaftem Entzücken hört man verdienstvolle Forscher
sagen: seht, dahin kommt keine Erfahrung, keine Vernunft; dahin
darf man dem Herrn Pfarrer folgen.

Man versuche es, sich auszumalen, wo wir heute stünden, wenn


wir in den letzten Jahrzehnten in unseren höheren Bildungsstätten
nicht die Lehre von allen möglichen Erkenntnisgrenzen gehabt
hätten, sondern die Goethesche Forschergesinnung, in jedem
Augenblicke mit dem Denken so weit zu dringen, als es die Er-
fahrungen gestatten, und alles übrige als Problem nicht als un-
erkennbar hinzustellen, sondern ruhig der Zukunft zu überlassen.
Bei einer solchen Maxime hätte die Philosophie den in den fünf-
ziger Jahren zwar etwas ungeschickt, aber doch in nicht unrichtiger
Weise begonnenen Streit gegen den theologischen Glauben bis
heute zu einem schönen Punkte bringen können. Wir wären viel-
leicht doch heute so weit, die theologischen Fakultäten mit einem
Lächeln wie lebendige Anachronismen zu betrachten. Theologisie-
rende Philosophen, wie zum Beispiel Lotze, haben unerhörtes Un-
glück angerichtet. Ihnen hat die Ungeschicklichkeit eines Carl
Vogt, der auf dem ganz richtigen Wege war, das Spiel leicht ge-
macht. O, dieser Vogt! Hätte er doch statt des unglückseligen Ver-
gleiches: die Gedanken verhalten sich zu dem Gehirn wie der
Urin zu den Nieren, einen besseren gewählt. Man konnte ihm
leicht einwenden, die Nieren sondern Stoff ab; kann man den
Gedanken mit einem Stoff vergleichen? Und wenn, muß nicht das
Abgesonderte schon vor der Absonderung in einer bestimmten

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Form vorhanden sein? Nein, Vogt der Dicke hätte sagen müssen,
die Gedanken verhalten sich zu den Gehirnvorgängen wie die bei
einem Reibungsvorgang entwickelte Wärme zu diesem Reibungs-
vorgang. Sie sind eine Funktion des Gehirns, nicht ein von ihm
abgesonderter Stoff. Da hätte der biedere philosophische Struwwel-
peter Lotze nichts einwenden können. Denn ein solcher Vergleich
hält allen Tatsachen stand, die sich nach naturwissenschaftlicher
Methode über den Zusammenhang von Gehirn und Denken fest-
stellen lassen. Die Materialisten der fünfziger Jahre führten einen
ungeschickten Vorpostenkampf. Dann kamen die «Rückgänger
auf Kant» mit ihren Erkenntnisgrenzen und fielen den wissen-
schaftlichen Fortschrittsmännern in den Rücken.

Die Reaktion auf allen Gebieten des Lebens macht sich heute


wieder breit. Und die Erkenntnis, die die einzige wirkliche Kämp-
ferin gegen sie sein kann, hat sich die Hände gebunden. Was
nützt es, daß der Naturforscher in seinem Laboratorium und auf
seiner Lehrkanzel seinen Schülern die Augen über die Gesetze der
Natur öffnet, wenn sein Kollege, der Philosoph, doch sagt: alles,
was ihr da von dem Naturforscher hört, ist nur Außenwerk, ist
Erscheinung, bis über eine gewisse Grenze kann unser Wissen
nicht dringen. Ich muß gestehen, daß es für mich unter solchen
Verhältnissen kein Wunder ist, wenn neben der fortgeschritten-
sten Wissenschaft der blindeste Köhlerglaube sein Haupt kühn
erhebt. Weil die Wissenschaft mutlos ist, ist das Leben reaktionär.
Kämpfer sollt ihr sein, ihr Philosophen, vordringen sollt ihr im-
mer weiter ins Unbegrenzte. Aber nicht Aufpasser sollt ihr ab-
geben, damit die moderne Weltanschauung die Grenzen nicht
überschreite, über die die veraltete Theologie doch in jedem Augen-
blick hinausgeht. Es ist doch wahrlich sonderbar, daß die Pfarrer
jeden Tag die Geheimnisse derjenigen Welt enthüllen dürfen,
über die der vorurteilslose Denker sorgsames Schweigen sich auf-
erlegen soll. Je feiger die Philosophie ist, desto kühner ist die
Theologie. Und gar die Ansichten, die über das Wesen unserer
Schulen herrschen. Man sucht womöglich alles aus dem Unter-
richte fernzuhalten, was die Naturwissenschaft als Weltanschau-
ungskonsequenz an ihre festgestellten Tatsachen knüpft, weil in

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die Schule unbewiesene Hypothesen — wie man sagt — nicht ge-
hören, sondern nur unbedingt sichere Tatsachen. Aber in dem
Religionsunterricht! Ja, Bauer, das ist etwas anderes. Da dürfen
die «unbewiesenen» Glaubensartikel ruhig weiter kultiviert wer-
den. Der Religionslehrer, der weiß, wovon der Geologe «nichts
wissen kann». Die Gründe liegen tief. Man stelle sich nur einmal
vor, daß die moderne Naturwissenschaft alles bestätigt hätte, was
die Bibel gelehrt hat; man denke sich, daß Darwin, statt seiner
bösen Abstammungslehre des Menschen von den Tieren, eine auf
naturwissenschaftliche Grundlagen aufgebaute Bestätigung des
Offenbarungsglaubens geliefert hätte: o, dann hörten wir heute
des guten Darwins Ruhm von allen Kanzeln verkünden, dann
dürften die Religionslehrer davon reden. Den Kindern dürfte es
dann wohl schon beigebracht werden, daß die sieben Bücher des
Moses durch einen englischen Naturforscher vollauf gerechtfertigt
sind. Vielleicht hätten wir dann aber keine Theorien über Er-
kenntnisgrenzen. Ein Überschreiten von Grenzen, durch das man
in die Theologie kommt, würde man vermutlich gestatten. Was
anderes ist es allerdings, wenn diese Grenzüberschreitung zu rein
natürlichen Ursachen der Welterscheinungen führt.

DER GENIALE MENSCH

I

Was ist Genie? Keine geringere als diese Frage wird in dem


Buche: «Der geniale Mensch» von Hermann Türck aufgeworfen.
Mit der Erkenntnis der Genialität ist wohl zugleich diejenige eines
der allerwichtigsten Weltprobleme verknüpft. Denn Genialität ist
geistige Zeugung. Und wer auf modern naturwissenschaftlichem
Standpunkt steht, der kann in der geistigen Zeugung, in der see-
lischen Produktivität nichts anderes sehen als eine höhere Stufe
der Produktivität in der Körperwelt. Wie entsteht aus dem Mut-

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terorganismus ein neues Individuum? Wie entsteht im Laufe der
geistigen Entwickelung der Menschheit ein neues geistiges Ge-
bilde: eine musikalische Komposition, ein Gedicht, ein neues
Werkzeug, oder sagen wir nur ein neuer Witz? Dies sind für die
moderne Weltanschauung durchaus verwandte Fragen. Auf das
Schöpferische, auf das Hervorbringen, auf das Zeugen kommt es
beim Genie an. Was schon da war, geistig zu verarbeiten und wei-
ter zu überliefern, dazu bedarf es keines Genies. Man kann alles
Wissen der Welt in seinem Kopfe herumtragen — wenn man kei-
nen neuen Gedanken hat, hat man kein Genie. Und man braucht
gar nicht viel zu wissen — wenn einem etwas einfällt, und sei es
nur eine neue Art, sich die Krawatte zu binden, hat man etwas
Genialisches an sich. Man darf nicht verkennen, daß in den gro-
ßen Genies, auf denen der Fortgang der Kultur beruht, nicht eine
besondere mystische Gabe vorhanden ist, sondern nur eine Stei-
gerung derjenigen geistigen Fähigkeit, die in jedem Neu-Ersinnen
auftritt. Genie ist in diesem Sinne eine allgemein-menschliche
Eigenschaft. Bis zu einem gewissen Grade hat jeder Genie. Und
diejenigen, die man im eigentlichen Sinne geniale Menschen
nennt, haben nur höhere Grade dieser allgemein-menschlichen
Eigenschaft. Die geniale, produktive Fähigkeit der Seele steht der
bloß kombinierenden Verstandesbegabung gegenüber. Diese bringt
nichts Neues hervor, sondern weist den Gedanken, die aus dem
Genie stammen, nur die rechten Bahnen, gibt ihnen den Platz im
Gedankensystem, den sie einzunehmen haben.

Der geistreiche Poseur Franz Brentano hat in einem interessan-


ten Schriftchen «Das Genie» (Leipzig 1892) richtig darauf hin-
gewiesen, daß das Genie eine allgemein-menschliche Gabe ist. Nur
verwechselt er leider das Spezifische des Genies, die Zeugungs-
fähigkeit, die Produktivität mit der bloß kombinierenden, also
eigentlich impotenten Fähigkeit des Geistes. Er sagt: «Wir haben
die verschiedenen Gebiete durchmustert, wo man von genialen Er-
scheinungen spricht. Den weiten Abstand, der den Schachspieler
vom Dichter und musikalischen Komponisten trennt, haben wir
durchmessen, überall war die Antwort die gleiche. Keine Ein-
gebung eines höheren Geistes haben wir in ihnen zu erblicken,

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immer führt die tiefere Untersuchung auf Fähigkeiten, die der Art
nach übereinstimmend in allen Menschen gefunden werden, und
auf Ideenverbindungen, die nach denselben Gesetzen wie bei uns
erfolgen. Es gibt kein unbewußtes Denken, welches beim Genie
zum bewußten hinzukäme. Im Gegenteil finden wir das Genie
in gewissen Fällen nur weniger denkend sich betätigen, indem es
eines Teiles der Arbeit, nämlich der kritischen Nachbesserung,
wegen der Vorzüglichkeit der ersten Gedanken überhoben ist.
Hiernach erweist sich der Abstand zwischen Genie und gemeinem
Talent geringer, als man häufig glaubt. Und in der Tat besteht
zwischen dem einen und ändern keine Kluft, sondern wir finden
Zwischenformen, und jeder größere Unterschied erscheint durch
Übergänge vermittelt» (S. 37). Dieser Bemerkung liegt die Be-
obachtung zugrunde, daß die Genialität eine allgemein-mensch-
liche Fähigkeit ist, nicht eine mystische Gabe besonders bevorzug-
ter Individuen.

Eine unbefangene Beurteilung der hier in Betracht kommenden


Erscheinungen ist nur möglich von dem Standpunkte der moder-
nen Wissenschaft aus. Solange man daran festhielt, daß alle Men-
schen nach einem bestimmten idealen Vorbilde geschaffen sind,
konnte man nichts anderes tun, als sorgsam nach den Unterschie-
den suchen zwischen dem Durchschnittsmenschen und demjeni-
gen, der in irgendeiner Richtung von dem Durchschnitte ab-
weicht. Die neuere Naturwissenschaft kennt kein Bild eines voll-
kommenen Menschen. Es gibt für sie nicht zwei einander voll-
kommen gleiche Individuen; und zwischen Gesundheit und Krank-
heit, zwischen dem Genie und dem Idiotismus, zwischen selbst-
loser Gesinnung und Verbrechertum und so weiter kennt sie keine
festen Grenzen, weil diese Erscheinungsweisen des Seelenlebens
durch unzählige Zwischenstufen allmählich ineinander übergehen.
Wie schwer es zum Beispiel ist zu sagen, wo gesundes Seelen-
leben aufhört und Irrsinn anfängt, beweist der Umstand, daß auf
die Notwendigkeit einer Reform der Irrengesetzgebung hingewie-
sen wird, weil man die Prinzipien ungenügend findet, nach denen
die Irrenärzte heute entscheiden, ob ein Mensch wegen Geistes-
krankheit von der übrigen Gesellschaft abzuschließen ist.

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Das gesunde Seelenleben geht durch eine Modifikation seiner
Kräfte ganz allmählich in ausgesprochenen Wahnsinn über. Die
einfache Sinneswahrnehmung des gesunden Menschen entspricht
niemals ganz den beobachteten Tatsachen, sonst könnten zwei Per-
sonen nicht zuweilen von einem und demselben Ereignis, das sie
gesehen haben, ganz verschiedene Berichte geben. Von dieser Ver-
änderung der wahrgenommenen Tatsachen durch unsere Sinnes-
organe bis zu der offenbaren Illusion, wo unsere Wahrnehmung
von den äußeren Eindrücken ganz verschieden ist, und von da bis
zur Halluzination, wo ein Sinnesbild ohne äußere Veranlassung
vorhanden ist, besteht ein allmählicher Übergang. Illusionen und
Halluzinationen sind krankhafte Erscheinungen, die aber Bestand-
teile eines sonst gesunden Seelenlebens bilden können. Erst wenn
die Sinnestäuschungen von der menschlichen Urteilskraft nicht
mehr durchschaut, sondern für Wirklichkeit gehalten werden,
fängt der Wahnsinn an. Aber dieser kann zunächst nur vorüber-
gehend sein. Es gibt Menschen, die unter dem Eindrucke heftiger
Gemütsbewegungen vollkommen die Erscheinungen des Wahn-
sinns zeigen, während sie sonst als geistig gesund gelten müssen.
Ein Gleiches ist zu sagen von den Erinnerungsvorstellungen. Bei
der sogenannten Aphasie, die auf einer Erkrankung in den vor-
deren Hirnpartien beruht, tritt Sprachlosigkeit ein, weil der
Mensch trotz vollkommener Gesundheit der Sprachorgane und der
Urteilskraft die Erinnerung an die Wortvorstellungen verliert. Von
dem mangelhaften Erinnerungsvermögen bis zum Auftreten der
unser ganzes Seelenleben zerstörenden Erinnerungsfälschungen,
von der Phantasievorstellung bis zu der krankhaften Zwangsvor-
stellung finden sich wieder alle möglichen Übergänge.

Ebensowenig wie es eine feste Grenze zwischen dem sogenann-


ten normalen Geist und dem Wahnsinnigen gibt, kann man eine
solche zwischen der Durchschnittsbegabung und dem Genie fin-
den. Jeder Kalauer, jeder Einfall, der aus einem Durchschnittskopf
entspringt, beweist, daß der Mensch nicht bloß Beobachtungen
registriert, sondern produktiv ist. Bei dem Genie ist die Erfin-
dungsgabe nur eine reichere als beim Durchschnittsmenschen. Voll-
kommen werden geniale Schöpfungen nur, wenn der Erfindungs-

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gabe ein entsprechendes Maß von Talent zur Seite steht, das dem
Genie die Herrschaft über seine Ideen sichert. Verliert es die letz-
tere, so wird es von seinen eigenen Gebilden wie von fremden
Gewalten beherrscht. Deshalb kann, wenn die Erfindungsgabe ein-
seitig ausgebildet ist und von keiner registrierenden, ordnenden
Seelenkraft unterstützt wird, das Genie in Wahnsinn übergehen.
Aus dem Umstände, daß hervorragende Menschen und Irrsinnige
oft Abnormitäten in der Schädelbildung zeigen, daß Klima, Tem-
peraturverhältnisse, Rasse, Vererbung in ähnlicher Weise auf beide
wirken, schließt Lombroso auf eine Verwandtschaft des Genies
mit dem Irrsinn, ja, er geht so weit, das geniale Schaffen sich als
eine besondere Äußerung einer epileptischen Veranlagung zu den-
ken, weil Epileptiker und Genies in gleicher Weise an Schwindel-
anfällen und Wutausbrüchen leiden. Bei genauerer Untersuchung
stellt sich aber heraus, daß sich nur für die geschilderten Indi-
viduen mit einseitig genialer Veranlagung Ähnlichkeiten mit den
Irrsinnigen aufzeigen lassen, während man bei bedeutenden Men-
schen mit harmonischer Ausbildung aller Geisteskräfte, wie Raphael,
Shakespeare, Goethe, nicht eine krankhafte Hirntätigkeit, sondern
einen höheren Grad von Leistungsfähigkeit des Zentralnerven-
systems annehmen muß. Lombroso erklärt aber nicht das geniale
Schaffen, sondern nur einzelne Erscheinungen im Seelenleben
jener Individuen, bei denen Talent und Genie einander nicht das
Gleichgewicht halten.

Auch das Verbrechertum kann ja vom Standpunkte der moder-


nen Naturwissenschaft aus begriffen werden. Nicht um das ein-
zelne Verbrechen kann es sich handeln, sondern um das ganze
Seelenleben des Verbrechers. Man hat in neuerer Zeit nachgewie-
sen, daß sich bei den Verbrechern aller Völker gewisse gemein-
same physische und geistige Eigenschaften finden. In diesen haben
wir den Erklärungsgrund für die verbrecherische Neigung zu
suchen. Falsch erscheint es, wenn einzelne Forscher diese Neigung
auf eine besondere Form von Geisteskrankheit, den moralischen
Irrsinn, zurückführen. Denn bei Menschen mit ausgesprochenem
Mangel an moralischen Begriffen finden sich immer auch Fehler
in der Urteilskraft und im Gefühlsleben. Diese Ansicht wird sich

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ebenso die Strafgesetzgebung wie die Pädagogik zunutze machen
müssen.

Von diesem Gesichtspunkte aus möchte ich Hermann Türcks


Buch betrachten.

Es behandelt in folgenden Abschnitten den «genialen Men-


schen»: Künstlerisches Genießen. Philosophisches Streben. Prak-
tisches Handeln. Shakespeares «Hamlet». Goethes «Faust». Byrons
«Manfred». Schopenhauer und Spinoza. Christus und Buddha. Alex-
ander, Cäsar, Napoleon. Darwin und Lombroso. Stirner, Nietzsche
und Ibsen.

II

Wie beim physischen Befruchtungsakt sich zwei Prinzipien ver-


einigen, ein männliches und ein weibliches, so auch bei der Her-
vorbringung, die durch den genialen Menschen bewirkt wird. Der
Künstler, der Philosoph: sie nehmen ihren Stoff von außen auf
und bringen aus sich die künstlerische, die philosophische Gestal-
tung, die Form hinzu. Ich glaube mit diesem Satze nicht bloß ein
Bild ausgesprochen zu haben, sondern etwas, was im Zusammen-
hang der Naturerscheinungen seine gute Begründung hat. Die
monistische Wissenschaft wird einst die Brücke schlagen von den
Beobachtungen, die Hertwig auf Korsika über die Befruchtungs-
vorgänge der Lebewesen gemacht hat, zu den Erscheinungen, die
dem Psychologen das Problem des Genies vorweist.

Im Befruchtungsvorgang folgt das Lebewesen einem physischen


Trieb. Dennoch besorgt es sozusagen nicht seine eigenen selbst-
süchtigen Geschäfte, sondern diejenigen der Gesamtnatur, es geht
mit seinem Tun über die Sphäre seines Selbsterhaltungstriebes
hinaus. Wenn wir bildlich sprechen dürfen, so können wir sagen:
im Befruchtungsvorgang gebraucht die Natur eine List. Sie setzt
in den Menschen einen Trieb, durch den eine selbstlose, unego-
istische Handlung dennoch aus eigennütziger Begierde vollzogen
wird. Die Wollust des Befruchtungsvorganges ist die selbstsüch-
tige Befriedigung an einer Handlung, die nicht auf das Selbst,
sondern auf die ganze Welt geht. Ein Ähnliches bemerken wir

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auch am Genie. Durch sein Schaffen befriedigt es im höchsten
Grade sich selbst. In diesem Schaffen liegt die höchste geistige
Wollust. Dennoch liegt das Ziel dieses Schaffens nicht in der Be-
förderung des eigenen Selbst, sondern in der Mitwirkung an den
großen Daseinsnotwendigkeiten der Weltordnung. Auf dieser
höchsten Daseinsstufe des Menschen, im genialen Wirken, ist er
aus Selbstsucht selbstlos. Hier fallen Egoismus und Altruismus zu-
sammen, in einer höheren Einheit.

Dieses hat Hermann Türck übersehen. Statt auf den Punkt hin-


zuweisen, auf dem in der Genialität der Egoismus in Selbstlosig-
keit umschlägt, statuiert er einen Gegensatz. Er sagt, der Gegen-
satz zwischen Genie und gewöhnlichem Menschen besteht in der
Selbstlosigkeit des ersteren und in dem Egoismus des letzteren.
Der Mensch, der sich nicht in egoistischer Sorge den Einzelheiten

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