Rudolf steiner



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Man braucht nur die anerzogenen Vorurteile gegen das Natür-


liche, sein Werden und Sein, abzulegen, und man wird in diesem
Natürlichen etwas finden, das in weit höherem Maße jene Gefühle
und Empfindungen verdient als die sogenannte übernatürliche
Welt, an die die Menschen diese Gefühle so lange Zeit gehängt
haben. Die Errungenschaften der Naturwissenschaften werden nur
dann eine ihrer würdige Welt- und Lebensauffassung erzeugen,
wenn das Empfindungsleben sie nach ihrem eigenen, nicht nach
einem aus einer mythologischen Erziehung ihnen beigelegten Wert
zu beurteilen vermag.

Bei Denkern wie Büchner kommt es nicht darauf an, daß sich


in ihren Schlußfolgerungen Widersprüche nachweisen lassen, son-
dern darauf, daß sie ihrem Gefühlsleben nach den natürlichen
Vorgängen diesen ihnen eigenen Wert beizulegen wissen. Wer
schärfer zu denken vermag, wird diese Widersprüche vermeiden,
aber er wird sich deshalb doch mit Büchner einig wissen in der
Anschauung über die Natur und die Stellung des Menschen inner-
halb derselben. Die feinsten Ideen moderner Philosophen, die
die Welt aus einem besonderen Geistwesen herleiten, erscheinen
antediluvianisch gegenüber den groben und derben Gedanken-
gängen dieses Materialisten. Ein Philosoph, der heute noch von
einem «unbewußten Geiste», von einem «Willen in der Natur»
spricht, und ein kindlich Gläubiger, der die Meinung hat, daß
seine Seele nach dem Tode in ein göttliches Himmelreich wandert,
gehören zusammen. Ein Materialist, der sagt, die Gedanken sind
Erzeugnisse von Kraft und Stoff, und ein Denker, der auf vernünf-
tige Weise diesen Gedanken vertieft und zu einer Herz und Kopf
befriedigenden Weltanschauung ausgestaltet, gehören auch zusam-
men. Die Verwandtschaft in der Erkenntnis-Gesinnung steht höher
als die logische Kraft des Denkens. Deshalb werden gerade die-
jenigen, welche die groben Behauptungen Büchners im Sinne eines
höheren Denkens zu fassen wissen, nicht einstimmen können in
die wegwerfenden Urteile der flachen Geister, hinter deren schein-
bar philosophischem Gerede sich doch nichts verbirgt als die mehr
oder weniger bewußte Sucht, so viele Fetzen einer überlebten Welt-
anschauung zu retten, als nur irgend noch möglich ist. Ludwig

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Büchner war gewiß kein großer Pfadfinder der neuen Weltanschau-
ung. Er war ein Mann, der große Wahrheiten mit hingebender
Begeisterung ergriffen hat und in einer Weise auszusprechen
wußte, die sie auch für denjenigen verständlich macht, dem eine
höhere logische und wissenschaftliche Schulung fehlt. Und die-
jenigen, welche davon sprechen, daß Halbwisser und Dilettanten
sich ihre Bildung aus seinen Schriften holen, sollten bedenken,
daß es auch nicht gerade Ganzwisser und Meister sind, welche die
Lehren des Herrn Ziegler nachplappern. Die Tausende und aber
Tausende, welche sich aus den Sätzen von «Kraft und Stoff» eine
Lebensauffassung zusammengezimmert haben, sind gewiß um nichts
schlechter als die anderen, die dasselbe mit den Aussprüchen
Schopenhauers tun oder gar mit denen ihrer Pastoren. Ja, sie sind
wahrscheinlich um ein erhebliches besser. Denn es ist besser, ein
Flachling im Vernünftigen zu sein als ein solcher im Wider-
vernünftigen.

Wer den Entwickelungsgang des geistigen Lebens in der zwei-


ten Hälfte dieses Jahrhunderts verfolgt, wird das Mißverständnis
allerdings begreifen, dem Büchners geistige Physiognomie heute
ausgesetzt ist. Es bieten ja nicht allein die Religionsgenossenschaf-
ten alle ihre Kräfte auf, um das Licht, das von den neugewonne-
nen Naturerkenntnissen ausgeht, zu verdunkeln — ein Bestreben,
in dem sie von den reaktionären und einsichtslosen Regierungen
überall die kräftigste Unterstützung finden —, sondern auch inner-
halb des Wissenschaftsbetriebes selbst herrscht vielfach eine be-
dauerliche Rückständigkeit. Wie wenig Verständnis herrscht bei
den Philosophen unserer Zeit für die naturwissenschaftliche Be-
trachtungsweise und ihre Errungenschaften! Sie haben in den sech-
ziger Jahren den Ruf erhoben: Zurück zu Kant! Sie wollen dessen
Anschauungen zum Ausgangspunkt nehmen, um sich über das
Wesen des menschlichen Erkennens und dessen Grenzen zu orien-
tieren. Aus dieser Strömung heraus ist eine große, aber durchaus
unfruchtbare Literatur erwachsen. Denn Kant ist es nicht darauf
angekommen, in unbefangener, vorurteilsloser Weise das Wesen
der Erkenntnis zu ergründen, sondern er wollte vor allen Dingen
über dieses Wesen eine Ansicht gewinnen, die es ihm erlaubte,

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gewisse religiöse Dogmen doch wieder durch ein Türchen in das
menschliche Geistesleben einzuführen. Er hat mehr oder weniger
bewußt alle seine Begriffe so formuliert, daß gewisse Glaubens-
vorstellungen unangetastet bleiben. Man muß ihn von dem Satze
aus verstehen, in dem er selbst sein Streben zusammengefaßt hat:
Ich wollte das Wissen begrenzen, um für den Glauben Platz zu
gewinnen. Zu diesem Ziel leisten die Philosophen von heute
Handlangerdienste. Und es bietet ein merkwürdiges Schauspiel,
wenn man sie bei ihrer Arbeit betrachtet, die sie verrichten, ohne
sich über den eigentlichen Impuls ihres Königsberger Verführers
völlig klar zu sein. Für denjenigen, der sich gegenwärtig bemüht,
eine Weltanschauung aufzubauen, ist daher die Beschäftigung mit
dieser in den Fußstapfen Kants wandelnden Philosophie so gut
wie nutzlos. Er verliert durch diese Beschäftigung nur die kostbare
Zeit, die er viel besser dazu verwenden könnte, die unendlich
fruchtbaren Ergebnisse der modernen Naturwissenschaft sich an-
zueignen. In Darwins und Haeckels Schriften findet man eine
reiche und die einzig richtige Grundlage zum Ausbau einer Welt-
anschauung; von vielen Richtungen der zeitgenössischen Philo-
sophie fühlt sich derjenige unendlich angeödet, der nach einer sol-
chen Weltanschauung strebt. Ihm steigt unwillkürlich der Gedanke
auf: Wie anders hätte sich unser geistiges Leben entwickelt, wenn
man von den durch Büchner geschaffenen Anfängen einer auf
die Naturwissenschaft gestützten Lebensauffassung weitergegangen
wäre, statt diese Anfänge mit unfruchtbaren logischen Spitzfindig-
keiten zu bekämpfen?

Nur weil man zu diesem Weitergehen in vielen wissenschaft-


lichen Kreisen nicht fähig war, konnte es kommen, daß Aus-
führungen wie die Du Bois-Reymonds über «Die Grenzen des
Naturerkennens» einen tieferen Eindruck machten. Eine solche
Rede kann nur ein Mann halten, der die Tragweite der natur-
wissenschaftlichen Methode mißversteht und deshalb auch zu
keiner Klarheit über die Schlüsse kommen kann, zu denen diese
Methode führt. Es war eine Naivität allerersten Ranges, als
Du Bois-Reymond der menschlichen Erkenntnis eine Grenze
setzte, weil sie niemals einsehen werde, wie es komme, daß aus

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den Vorgängen des Gehirnes sich Empfinden und Denken, Be-
wußtsein entwickle. Er sagte: Man kann nicht verstehen, warum
es einer Summe materieller Teilchen nicht gleichgültig sein sollte,
wie sie liegen und sich bewegen und warum sie durch eine be-
stimmte Lage und Bewegung die Empfindung «Rot», durch eine
andere das Gefühl des Schmerzes hervorrufen. Der zur Erfor-
schung einzelner natürlicher Tatsachen außerordentlich befähigte
Forscher hatte keine Ahnung davon, daß er sich zuerst willkürlich
eine gewisse Vorstellung von dem Wesen des Stoffes und seiner
Wirkungen zurechtgelegt hat und daß nur diese seine ausgeklü-
gelte Idee ihn nicht zu einem Verstehen des Zusammenhanges
von Gehirn und Bewußtsein kommen ließ. Der einzig sinngemäße
Weg ist derjenige, den Haeckel einschlägt, wenn er Materie und
Kraft schon so vorstellt, daß der durch die Erfahrung unwider-
leglich bewiesene Zusammenhang derselben mit den Erscheinun-
gen des Geistes seine Erklärung findet.

Ohne Verständnis der naturwissenschaftlichen Resultate und


der Methoden, durch welche diese Resultate gewonnen werden, ist
heute keine Weltanschauung möglich. Und daß Büchner dies er-
kannt hat, daß er auf Grund dieser Methoden und Resultate eine
Weltanschauung zu gewinnen trachtete, ist sein nicht wegzuleug-
nendes Verdienst. Was er getan hat, ist viel wichtiger als alles,
was der Neukantianismus und was Naturforscher vom Schlage
Du Bois-Reymonds mit Reden wie die über «Die Grenzen des
Naturerkennens» geleistet haben.

Das Buch «Kraft und Stoff» war ein Hauptschlag gegen die


traditionellen Glaubensvorstellungen. Und die Reaktionäre wissen,
warum sie Büchner im Grunde ihrer Seele hassen und gerne zu
den Ausführungen Du Bois-Reymonds und seiner Gesinnungs-
genossen greifen, wenn sie sich selbst zu unfähig vorkommen, um
die neuen Anschauungen aus dem Felde zu schlagen.

Aus den Kreisen, in welche Büchners Anschauungen gedrungen


sind, ist auch eine freiheitsgemäße Auffassung der ganzen mensch-
lichen Lebensgestaltung hervorgegangen. Die sittlichen Begriffe
haben durch sie eine gründliche Reform erfahren. Wie stark in
unserer Kulturentwickelung das Bedürfnis nach einer solchen Re-

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form war, das zeigt der Fortgang, den die Hegeische Philosophie
nach dem Tode des Meisters genommen hat. Auf ihre Art haben
David Friedrich Strauß, Friedrich Theodor Vischer, Ludwig Feuer-
bach, Bruno Bauer und Max Stirner im Sinne der naturgemäßen
Weltauffassung gewirkt. Der Darwinismus hat dann die Möglich-
keit geboten, aus der Beobachtung der Tatsachen eine Stütze der
großen Konzeptionen dieser Denker zu gewinnen. Wie zwei Ar-
beitergruppen, die von beiden Seiten eines Berges einen Tunnel
graben und sich in der Mitte begegnen, so treffen die in der
Weise der genannten Philosophen wirkenden Geister mit den auf
dem Darwinismus bauenden Forschern zusammen.

Tief steckt unseren Zeitgenossen noch die Sucht im Leibe, das


Wissen zu beschränken, um für den Glauben Platz zu bekommen.
Und Geister, welche dem Wissen die Macht zuerkennen, den
Glauben allmählich zu verdrängen, werden als unbequem emp-
funden. Ja, «es ist zum Entzücken gar», wenn man irgendwelche
Fehler in ihren Gedankengängen nachweisen kann. Als ob es nicht
eine alte Erkenntnis wäre, daß im Anfange alle Dinge in unvoll-
kommener Gestalt auftauchen!

Es scheint, als ob Büchner schmerzlich von der Verkennung


berührt gewesen wäre, die ihm in der letzten Zeit seines Lebens
entgegengetreten ist. Die Leitung dieser Zeitschrift ist so glück-
lich, im Anschlüsse an diese Würdigung des eben Dahingeschie-
denen einen Aufsatz zu veröffentlichen, der jedenfalls zu dem
letzten gehört, was der kühne und vorurteilslose Denker, der un-
erschrockene Mann und starke Charakter geschrieben hat. Und es
scheint, als ob er die Bemerkungen über die «Lebenden und
Toten» nicht ohne schmerzlichen Hinblick auf sein eigenes Schick-
sal geschrieben hätte.

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ERNST HAECKEL UND DIE «WELTRÄTSEL»*

I

Was soll die Philosophie neben und über den einzelnen Spezial-


wissenschaften? Die Vertreter der letzteren sind wohl gegenwärtig
nicht abgeneigt, diese Frage einfach dahin zu beantworten: sie soll
überhaupt nichts. Das ganze Gebiet der Wirklichkeit wird nach
ihrer Ansicht von den Spezialwissenschaften umspannt. Wozu
noch etwas, das über diese hinausgeht?

Alle Wissenschaften betrachten es als ihre Aufgabe, die Wahr-


heit zu erforschen. Unter Wahrheit kann nichts anderes verstan-
den werden als ein System von Begriffen, welches in einer mit
den Tatsachen übereinstimmenden Weise die Erscheinungen der
Wirklichkeit in ihrem gesetzmäßigen Zusammenhange abspiegelt.
Bleibt jemand nun dabei stehen und sagt, für ihn habe das Netz
von Begriffen, das ihm ein gewisses Gebiet der Wirklichkeit ab-
bildet, einen absoluten Wert und er brauche nichts darüber, so
kann man ihm ein höheres Interesse nicht andemonstrieren. Nur
wird uns ein solcher nicht erklären können, warum seine Begriffs-
sammlung einen höheren Wert habe als zum Beispiel eine Brief-
markensammlung, die doch auch, entsprechend systematisch geord-
net, gewisse Zusammenhänge der Wirklichkeit abbildet. Hierin
liegt der Grund, warum der Streit über den Wert der Philosophie
mit vielen Naturforschern zu keinem Resultate führt. Sie sind
Begriffsliebhaber in dem Sinne, wie es Marken- und Münzenlieb-
haber gibt. Es gibt aber ein Interesse, das darüber hinausgeht.
Dieses sucht mit Hilfe und auf Grund der Wissenschaften den
Menschen über seine Stellung zum Universum aufzuklären, oder
mit anderen Worten: dieses Interesse bringt den Menschen dahin,
daß er sich in eine solche Beziehung zur Welt setzt, wie es nach
Maßgabe der in den Wissenschaften gewonnenen Resultate mög-
lich und notwendig ist.

* «Die Welträtsel.» Gemeinverständliche Studien über monistische Philo-


sophie. Von Ernst Haeckel. Verlag von Emil Strauß. Bonn 1899.

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In den einzelnen Wissenschaften stellt sich der Mensch der
Natur gegenüber, er sondert sich von ihr ab und betrachtet sie;
er entfremdet sich ihr. In der Philosophie sucht er sich wieder mit
ihr zu vereinigen. Er sucht das abstrakte Verhältnis, in das er in
der wissenschaftlichen Betrachtung geraten ist, zu einem realen,
konkreten, zu einem lebendigen zu machen. Der wissenschaftliche
Forscher will sich durch die Erkenntnis ein Bewußtsein von der
Welt und ihren Wirkungen erwerben; der Philosoph will sich
mit Hilfe dieses Bewußtseins zu einem lebensvollen Gliede des
Weltganzen machen. Die Einzelwissenschaft ist in diesem Sinne
eine Vorstufe der Philosophie. Wir haben ein ähnliches Verhältnis
in den Künsten. Der Komponist arbeitet auf Grund der Kom-
positionslehre. Die letztere ist eine Summe von Erkenntnissen, die
eine notwendige Vorbedingung des Komponierens sind. Das Kom-
ponieren verwandelt die Gesetze der Musikwissenschaft in Leben,
in reale Wirklichkeit. Wer nicht begreift, daß ein ähnliches Ver-
hältnis auch zwischen Philosophie und Wissenschaft besteht, der
taugt nicht zum Philosophen. Alle wirklichen Philosophen waren
freie Begriffskünstler. Bei ihnen wurden die menschlichen Ideen
zum Kunstmateriale und die wissenschaftliche Methode zur künst-
lerischen Technik. Dadurch wird das abstrakte wissenschaftliche
Bewußtsein zum konkreten Leben erhoben. Unsere Ideen werden
Lebensmächte. Wir haben nicht bloß ein Wissen von den Dingen,
sondern wir haben das Wissen zum realen, sich selbst beherrschen-
den Organismus gemacht; unser wirkliches, tätiges Bewußtsein hat
sich über ein bloßes passives Aufnehmen von Wahrheiten gestellt.

Ich habe es oft hören müssen: gegenwärtig sei es unsere Auf-


gabe, Baustein auf Baustein zu sammeln. Die Zeit sei vorbei, wo
man, ohne erst die Materialien zur Hand zu haben, im stolzen
Übermut philosophische Lehrgebäude aufführte. Wenn wir erst
dieses Materials genug gesammelt haben, dann wird schon das
rechte Genie erstehen und den Bau aufführen. Jetzt sei nicht die
Zeit zum Systembauen. Diese Ansicht entspringt einer bedauerns-
werten Unklarheit über die Natur der Wissenschaft. Wenn die
letztere die Aufgabe hätte, die Tatsachen der Welt zu sammeln,
sie zu registrieren und sie zweckmäßig nach gewissen Gesichts-

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punkten systematisch zu ordnen, dann könnte man etwa so spre-
chen. Dann aber müßten wir überhaupt auf alles Wissen verzich-
ten, denn mit dem Sammeln der Tatsachen würden wir wohl erst
am Ende der Tage fertig werden, und dann gebräche es uns an
der nötigen Zeit, die geforderte gelehrte Registrierarbeit zu voll-
ziehen.

Wer sich nur einmal klarmacht, was er eigentlich durch die


Wissenschaft erreichen will, dem wird die Irrtümlichkeit jener
eine unendliche Arbeit in Anspruch nehmenden Forderung gar
bald einleuchten. Wenn wir der Natur gegenübertreten, dann steht
sie zunächst wie ein tiefes Mysterium vor uns, sie dehnt sich wie
ein Rätsel vor unseren Sinnen aus. Ein stummes Wesen blickt uns
entgegen. Wie können wir Licht in diese mystische Finsternis
bringen? Wie das Rätsel lösen?

Der Blinde, der ein Zimmer betritt, kann nur Dunkelheit in


demselben empfinden. Und wenn er noch so lange herumwandelt
und alle Gegenstände betastet: Helligkeit wird ihm dadurch nim-
mer den Raum erfüllen. Wie dieser Blinde der Einrichtung des
Zimmers, so steht im höheren Sinne der Mensch der Natur gegen-
über, der von der Betrachtung einer unendlichen Zahl von Tat-
sachen die Lösung des Rätsels erwartet. Es liegt etwas in der Na-
tur, was uns tausend Tatsachen nicht verraten, wenn uns die Seh-
kraft des Geistes abgeht, es zu schauen.

Ein jegliches Ding hat zwei Seiten. Die eine ist die Außenseite.


Sie nehmen wir mit unseren Sinnen wahr. Dann gibt es aber auch
eine Innenseite. Diese stellt sich dem Geiste dar, wenn er zu be-
trachten versteht. An seine eigene Unfähigkeit in irgendeiner
Sache wird niemand glauben. Wer bei sich die Fähigkeit vermißt,
diese Innenseite wahrzunehmen, der leugnet sie am liebsten dem
Menschen ganz ab, oder er verschreit diejenigen als Phantasten,
die vorgeben, sie zu besitzen. Gegen ein absolutes Unvermögen läßt
sich nichts machen, und man könnte die nur bedauern, die wegen
desselben nie zur Einsicht in die Tiefen des Weltwesens kommen
können. Der Psychologe aber glaubt nicht an diese Unfähigkeit.
Jeder geistig normal entwickelte Mensch hat das Vermögen, in
jene Tiefen bis zu einem gewissen Punkte hinunterzusteigen.

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Aber die Bequemlichkeit des Denkens verhindert viele daran.
Ihre geistigen Waffen sind nicht stumpf, aber die Träger sind zu
lässig, sie zu handhaben. Es ist ja unendlich viel bequemer, Tat-
sache auf Tatsache zu häufen, als die Gründe für dieselben durch
das Denken aufzusuchen. Vor allem ist bei solcher Tatsachenhäu-
fung der Fall ausgeschlossen, daß ein anderer kommt und das von
uns Vertretene umstößt. Man kommt auf diese Weise nie in die
Lage, seine geistigen Positionen verteidigen zu müssen; man
braucht sich nicht darüber aufzuregen, daß morgen von jemand
das Gegenteil unserer heutigen Aufstellungen vertreten wird. Man
kann sich, wenn man bloß mit tatsächlicher Wahrheit sich abgibt,
hübsch in dem Glauben wiegen, daß uns diese Wahrheit niemand
bestreiten kann, daß wir für die Ewigkeit schaffen. Jawohl, wir
schaffen auch für die Ewigkeit, aber wir schaffen bloß Nullen.
Diesen Nullen durch das Vorsetzen einer bedeutungsvollen Ziffer
in Form einer Idee einen Wert zu verleihen, dazu fehlt uns eben
der Mut des Denkens.

Davon haben heute wenige Menschen eine Ahnung: daß etwas


wahr sein kann, auch wenn das Gegenteil davon mit nicht gerin-
gerem Rechte behauptet werden kann. Unbedingte Wahrheiten
gibt es nicht. Wir bohren tief in ein Ding der Natur, wir holen
aus den verborgensten Schachten die geheimnisvollsten Weisheiten
herauf; wir drehen uns um, bohren an einer zweiten Stelle: und
das Gegenteil zeigt sich uns als ebenso berechtigt. Daß eine jede
Wahrheit nur an ihrem Platze gilt, daß sie nur so lange wahr ist,
als sie unter den Bedingungen behauptet wird, unter denen sie ur-
sprünglich gegründet ist, das muß vor allem begriffen werden.

Wer macht heute nicht einen respektvollen Knix, wenn der


Name Friedrich Theodor Vischer genannt wird? Daß dieser Mann
es als die höchste Errungenschaft seines Lebens bezeichnete, gründ-
lich die oben ausgesprochene Überzeugung von dem Wesen der
Wahrheit erlangt zu haben, das wissen aber nicht viele. Wüßten
sie es, dann strömte ihnen noch eine ganz andere Luft aus Vischers
herrlichen Werken entgegen; und man würde auf weniger zere-
monielles Lob, aber auf mehr ungezwungenes Verständnis dieses
Schriftstellers stoßen.

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Wo sind die Zeiten, in denen Schiller tiefes Verständnis fand,
als er den philosophischen Kopf pries gegenüber dem Brotgelehr-
ten! Jenen, der rückhaltlos nach den Wahrheitsschätzen gräbt,
wenn er auch der Gefahr ausgesetzt ist, daß gleich darauf ein
zweiter Schatzgräber ihm alles entwertet durch einen neuen Fund
gegenüber dem, der ewig nur das banale, aber unbedingt «wahre»:
«Zweimal zwei ist vier» wiederholt.

Wir müssen den Mut haben, kühn in das Reich der Ideen ein-


zudringen, auch auf die Gefahr des Irrtums hin. Wer zu feig ist,
um zu irren, der kann kein Kämpfer für die Wahrheit sein. Ein
Irrtum, der dem Geist entspringt, ist mehr wert als eine Wahrheit,
die der Plattheit entstammt. Wer nie etwas behauptet hat, was in
gewissem Sinne unwahr ist, der taugt nicht zum wissenschaft-
lichen Denker.

Aus feiger Furcht vor dem Irrtum ist unsere Wissenschaft der


baren Flachheit zum Opfer gefallen.

Es ist geradezu haarsträubend, welche Charaktereigenschaften


heute als Tugenden des wissenschaftlichen Forschers gepriesen
werden. Wollte man dieselben ins Gebiet der praktischen Lebens-
führung übersetzen, so käme das — Gegenteil eines festen, ent-
schiedenen, energischen Charakters heraus.

Einem festen, kühnen Denkermut verdankt nun ein eben er-


schienenes Werk seine Entstehung, das auf Grundlage der großen
tatsächlichen Ergebnisse der Naturwissenschaft und aus einem
wahren, echten philosophischen Geiste heraus zugleich die Lösung
der Welträtsel versucht: Ernst Haeckels «Die Welträtsel».

II

«Vierzig Jahre Darwinismus! Welcher ungeheure Fortschritt unse-


rer Naturerkenntnis! Und welcher Umschwung unserer wichtig-
sten Anschauungen, nicht allein auf den nächstbetroffenen Ge-
bieten der gesamten Biologie, sondern auch auf demjenigen der
Anthropologie und ebenso aller sogenannten ten>!» So konnte Ernst Haeckel in der Rede, die er auf dem vier-
ten internationalen Zoologenkongreß in Cambridge am 26. August

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1898 gehalten hat, von den naturwissenschaftlichen Errungen-
schaften sprechen, die sich an den Namen Darwin knüpften.
Haeckel selbst hat schon vier Jahre nach dem Erscheinen von
Darwins epochemachendem Werke «Über die Entstehung der
Arten im Tier- und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung»
(London 1859) mit seiner «Generellen Morphologie der Organis-
men» (Berlin 1866) sich zu dem berufenen Vorkämpfer, aber
auch dem Fortführer der Darwinschen Anschauungen gemacht.
Die Kühnheit des Denkens, die vor keiner Konsequenz, die sich
aus der neuen Lehre ergab, zurückschreckende Geistesschärfe die-
ses Naturforschers und Weltdenkers traten bereits in diesem Buche
klar zutage. Seither hat er selbst weitere dreiunddreißig Jahre un-
ermüdlich mitgearbeitet an dem Aufbau der naturwissenschaft-
lichen Weltanschauung, die unser Jahrhundert als das «Jahrhundert
der Naturwissenschaft» erscheinen läßt. Spezialarbeiten, die ein
helles Licht verbreiten über bisher unbekannte Gebiete des Natur-
lebens, und zusammenfassende Schriften, welche von dem neu
gewonnenen Gesichtspunkte aus das ganze Gebiet der Erkennt-
nisse behandelten, die heute unsere höchsten geistigen Bedürf-
nisse befriedigen, sind die Frucht dieses mit seltener Energie aus-
gestatteten Forscherlebens.

Und jetzt legt uns dieser Geist in seinen «Welträtseln» «die


weitere Ausführung, Begründung und Ergänzung der Überzeugun-
gen» dar, welche er in seinen anderen «Schriften bereits ein Men-
schenalter hindurch vertreten» hat.

Was demjenigen, der sich verständnisvoll mit Haeckels Leistun-


gen beschäftigt, vor allen Dingen in die Augen springt, das ist die
Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Denkerpersönlichkeit, von
der sie ausgehen. In ihm ist nichts von dem fragwürdigen Streben
derjenigen, welche die «Versöhnung von Religion und Kultur»
suchen, um «fromm fühlen und frei denken zugleich» zu können.
Für Haeckel gibt es nur eine Quelle wahrer Kultur: «Mutiges
Streben nach Erkenntnis der Wahrheit» und «Gewinnung einer
klaren, fest darauf gegründeten, naturwissenschaftlichen Welt-
anschauung» (Welträtsel, S. 3 f.). Ihm ist auch die eiserne Strenge
des Denkers eigen, der mit Unerbittlichkeit alles als Unwahrheit

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kennzeichnet, was er als solches erkannt hat. Mit solcher Strenge
führt er seinen Krieg gegen die reaktionären Mächte, die am Ende
unseres aufgeklärten Jahrhunderts gern wieder frühere Finsternis
des Geistes zurückrufen möchten.

«Die Welträtsel» sind ein Buch, eingegeben von der Hingabe


an die Wahrheit und von dem Abscheu vor veralteten und der
wissenschaftlichen Einsicht schädlichen Bestrebungen. Ein Buch,
das für uns nicht nur erhebend ist wegen der Höhe der Einsicht,
von der aus der Verfasser das Leben und die Welt betrachtet, son-
dern auch durch die moralische Energie und die Erkenntnisleiden-
schaft, die uns aus ihm entgegenleuchten. Für Haeckel ist die
naturgemäße Weltanschauung Glaubensbekenntnis geworden, das
er nicht bloß mit der Vernunft, sondern mit dem Herzen ver-
teidigt. «Durch die Vernunft allein können wir zur wahren Natur-
Erkenntnis und zur Lösung der Welträtsel gelangen. Die Vernunft
ist das höchste Gut des Menschen und derjenige Vorzug, der ihn
allein von den Tieren wesentlich unterscheidet. Allerdings hat sie
aber diesen hohen Wert erst durch die fortschreitende Kultur und
Geistesbildung, durch die Entwickelung der Wissenschaft erhalten.
... Nun ist aber in weiten Kreisen noch heute die Ansicht ver-
breitet, daß es außer der göttlichen Vernunft noch zwei weitere
(ja sogar wichtigere!) Erkenntniswege gebe: Gemüt und Offen-
barung. Diesem gefährlichen Irrtum müssen wir von vornherein
entschieden entgegentreten. Das Gemüt hat mit der Erkenntnis der
Wahrheit gar nichts zu tun. Was wir nennen und hoch-
schätzen, ist eine verwickelte Tätigkeit des Gehirns, welche sich
aus Gefühlen der Lust und Unlust, aus Vorstellungen der Zunei-
gung und Abneigung, aus Strebungen des Begehrens und Fliehens
zusammensetzt. Dabei können die verschiedensten ändern Tätig-
keiten des Organismus mitspielen, Bedürfnisse der Sinne und der
Muskeln, des Magens und der Geschlechtsorgane Usw. Die Er-
kenntnis der Wahrheit fördern alle diese Gemütszustände und Ge-
mütsbewegungen in keiner Weise; im Gegenteil stören sie oft die
allein dazu befähigte Vernunft und schädigen sie häufig in emp-
findlichem Grade. Noch kein ist durch die Gehirn-
funktion des Gemüts gelöst oder auch nur gefördert worden. Das-

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selbe gilt aber auch von der sogenannten und den
angeblichen, dadurch erreichten ; diese be-
ruhen sämtlich auf bewußter oder unbewußter Täuschung» (Welt-
rätsel, S. 19 f.). So spricht nur eine Persönlichkeit, deren eigenes
Gemüt ganz durchdrungen ist von der Wahrheit dessen, was die
Vernunft offenbart. Wie nehmen sich gegenüber solchem Denker-
mut heute diejenigen aus, die noch immer Worte der Bewunde-
rung übrig haben für solche, die die Religion auf das Gemüt auf-
bauen und «sie als persönliches Erlebnis unabhängig» machen
wollen «von der fortschreitenden Wissenschaft»?

Ein tief philosophischer Grundzug in seiner Vorstellungsart


versetzte Haeckel in die Möglichkeit, von der Naturwissenschaft
aus die Lösung der höchsten menschlichen Fragen zu unternehmen,
und ein sicherer Blick für die gesetzmäßigen Zusammenhänge in
natürlichen Vorgängen, die der unmittelbaren Beobachtung so ver-
wickelt als möglich erscheinen, bewirken in seinem Weltbilde jene
monumentale Einfachheit, die immer im Gefolge der Größe in
Dingen der Weltanschauung erscheint. Einer der größten Natur-
forscher und Denker aller Zeiten, Galilei, hat gesagt, daß die
Natur in allen ihren Werken der nächsten, einfachsten und leich-
testen Mittel sich bediene. An diesen Ausspruch werden wir
immerfort erinnert, wenn wir Haeckels Anschauungen verfolgen.
Was so mancher Philosoph auf den abgelegensten Wegen der
Spekulation sucht, das findet er in der einfachen, klaren Sprache
der Tatsachen. Aber er bringt diese Tatsachen wirklich zum
Sprechen, so daß sie nicht geistlos nebeneinanderstehen, sondern
sich in philosophischer Weise gegenseitig erklären. «Als einen der
erfreulichsten Fortschritte zur Lösung der Welträtsel müssen wir
es begrüßen, daß in neuerer Zeit immer mehr die beiden einzigen
dazu führenden Wege: Erfahrung und Denken — oder Empirie
und Spekulation — als gleichberechtigte und sich gegenseitig er-
gänzende Erkenntnismethoden anerkannt worden sind. ... Aller-
dings gibt es auch heute noch manche Philosophen, welche die
Welt bloß aus ihrem Kopfe konstruieren wollen und welche die
empirische Naturerkenntnis schon deshalb verschmähen, weil sie
die wirkliche Welt nicht kennen. Anderseits behaupten auch heute

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noch manche Naturforscher, daß die einzige Aufgabe der Wissen-
schaft das tatsächliche Wissen, die objektive Erforschung der ein-
zelnen Natur-Erscheinungen sei>; das
sei vorüber und an ihre Stelle sei die Naturwissenschaft getreten.
(Rudolf Virchow, Die Gründung der Berliner Universität und der
Übergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche
Zeitalter, Berlin 1893.) «Diese einseitige Überschätzung der Em-
pirie ist ebenso ein gefährlicher Irrtum wie jene entgegengesetzte
der Spekulation. Beide Erkenntnis-Wege sind sich gegenseitig un-
entbehrlich. Die größten Triumphe der modernen Naturforschung,
die Zellentheorie und die Wärmetheorie, die Entwicklungstheorie
und das Substanzgesetz, sind philosophische Taten, aber nicht Er-
gebnisse der reinen Spekulation, sondern der vorausgegangenen,
ausgedehntesten und gründlichsten Empirie» (Welträtsel, S. 20 f.).

Daß es nur eine Art von Naturgesetzmäßigkeit gibt und daß


wir eine solche Gesetzmäßigkeit in gleicher Weise verfolgen kön-
nen in dem Stein, der auf einer schiefen Ebene herunterrollt nach
dem Gesetz der Schwere, in dem Wachstum der Pflanze, in der
Organisation des Tieres und in den höchsten Vernunftleistungen
der Menschen: diese Überzeugung zieht sich durch Haeckels ganzes
Forschen und Denken. Eine Grundgesetzlichkeit im ganzen Uni-
versum erkennt er an. Deshalb nennt er seine Weltanschauung
Monismus im Gegensatz zu denjenigen Ansichten, die für die
mechanisch verlaufenden Naturvorgänge eine andere Art von Ge-
setzmäßigkeit annehmen als für die Wesen (die Organismen), in
denen sie eine zweckmäßige Einrichtung wahrnehmen. Wie die
elastische Kugel fortrollt, wenn sie von einer ändern gestoßen
wird: mit derselben Notwendigkeit hängen auch alle Lebensvor-
gänge im Tierreich, ja auch alle geistigen Ereignisse im Kultur-
gange der Menschheit zusammen.

«Die alte Weltanschauung des Ideal-Dualismus mit ihren mysti-


schen und anthropistischen Dogmen versinkt in Trümmer; aber
über diesem gewaltigen Trümmerfelde steigt hehr und herrlich die
neue Sonne unseres Real-Monismus auf, welche uns den wunder-
baren Tempel der Natur voll erschließt. In dem reinen Kultus des
, welcher den Kern unserer neuen

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monistischen Religion bildet, finden wir reichen Ersatz für die
verlorenen anthropistischen Ideale von sterblichkeit>» (Welträtsel, S. 438 f.).

III


Ihren Grundcharakter erhält die Naturauffassung Haeckels durch
die Beseitigung jeder Art von Zweckmäßigkeitslehre oder
Teleologie aus den menschlichen Vorstellungen über Welt und
Leben. Solange solche Vorstellungen noch vorhanden sind, kann
von einer wirklich naturgemäßen Weltanschauung nicht die Rede
sein. Diese Frage der Zweckmäßigkeit kommt in ihrer bedeutungs-
vollsten Form zur Geltung, wenn es sich um die Bestimmung der
Stellung des Menschen in der Natur handelt. Entweder ist etwas
dem Ähnliches, was wir Menschengeist, menschliche Seele und so
weiter nennen, außerhalb des Menschen in der Welt vorhanden
und bringt die Erscheinungen hervor, um sich selbst zuletzt im
Menschen sein Ebenbild zu schaffen, oder dieser Geist ist im
Laufe der natürlichen Entwickelung erst in dem Zeitpunkt vor-
handen, in dem er im Menschen wirklich auftritt. Dann haben
die natürlichen Vorgänge durch rein ursächliche Notwendigkeit
den Geist hervorgebracht, ohne daß er durch irgendwelche Absicht
in die Welt gekommen wäre. Dies letztere ergibt sich aus Haeckels
Voraussetzung unwiderleglich. Im Grunde stammen alle anderen
Gedanken aus veralteten theologischen Ideen. Auch wo solche Ge-
danken in der Philosophie noch heute auftreten, können sie für
denjenigen, der genauer betrachtet, ihren Ursprung nicht verleug-
nen. Man hat das Grobe, Kindliche der theologischen Mythologien
abgestreift, aber doch zweckmäßig waltende Weltideen, kurz gei-
stige Potenzen beibehalten. Schopenhauers Wille, Hartmanns Un-
bewußtes sind nichts anderes als solche Reste alter theologischer
Vorstellungen. Vor kurzem hat wieder der Botaniker J. Reinke
in seinem Buche «Die Welt als Tat» die Ansicht vertreten, daß
das Zusammenwirken der Stoffe und Kräfte aus sich selbst die
Formen des Lebens nicht hervorbringen könne, sondern daß es
dazu durch Richtkräfte oder Dominanten in einer gewissen Weise

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bestimmt werden müsse. Daß alle solchen Annahmen überflüssig
sind, daß die Welterscheinungen für unser Erkenntnisbedürfnis
vollständig erklärbar sind, wenn wir nichts weiter als die natur-
gesetzliche Notwendigkeit voraussetzen: das zeigt Haeckels neues
Buch in übersichtlicher Weise.

Es skizziert den Lauf der Weltentwickelung von den Vorgängen


der unorganischen Natur bis herauf zu den Äußerungen der
menschlichen Seele. Die Überzeugung, daß die sogenannte «Welt-
geschichte» eine verschwindend kurze Episode in dem langen Ver-
laufe der organischen Erdgeschichte und diese selbst wieder nur
ein kleines Stück von der Geschichte unseres Planetensystems ist:
sie wird mit allen Mitteln der modernen Naturwissenschaft ge-
stützt. Die ihr entgegenstehenden Irrtümer werden unerbittlich
bekämpft. Es lassen sich diese Irrtümer im Grunde alle auf einen
einzigen zurückführen, auf die «Vermenschlichung» der Welt.
Haeckel versteht unter diesem Begriffe «jenen mächtigen und
weit verbreiteten Komplex von irrtümlichen Vorstellungen, welche
den menschlichen Organismus in Gegensatz zu der ganzen übri-
gen Natur stellt, ihn als vorbedachtes Endziel der organischen
Schöpfung und als ein prinzipiell von dieser verschiedenes, gott-
ähnliches Wesen auffaßt. Bei genauerer Kritik dieses einfluß-
reichen Vorstellungskreises ergibt sich, daß derselbe eigentlich aus
drei verschiedenen Dogmen besteht, die wir als den anthropozen-
trischen, anthropomorphischen und anthropolatrischen Irrtum un-
terscheiden. I. Das anthropozentrische Dogma gipfelt in der Vor-
stellung, daß der Mensch der vorbedachte Mittelpunkt und End-
zweck alles Erdenlebens — oder in weiterer Fassung der ganzen
Welt - sei. Da dieser Irrtum dem menschlichen Eigennutz äußerst
erwünscht und da er mit den Schöpfungsmythen der drei großen
Mediterran-Religionen, mit den Dogmen der mosaischen, christ-
lichen und mohammedanischen Lehre innig verwachsen ist, be-
herrscht er auch heute noch den größten Teil der Kulturwelt. -
II. Das anthropomorphische Dogma... vergleicht die Weltschöp-
fung und Weltregierung Gottes mit den Kunstschöpfungen eines
sinnreichen Technikers oder und mit der
Staatsregierung eines weisen Herrschers. Gott... wird... menschen-

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