Rudolf steiner



Yüklə 2,15 Mb.
səhifə16/33
tarix02.01.2018
ölçüsü2,15 Mb.
#19355
1   ...   12   13   14   15   16   17   18   19   ...   33
292

Beispiel eines Organismus zustande zu bringen, so muß es auch


etwas Analoges in dem Dinge selbst geben, das dasselbe in seiner
Wirklichkeit zustande bringt. Das Analogen in der Wirklichkeit
nun, das der Idee in unserem Bewußtsein entspricht, nennt Hart-
mann die unbewußte Idee.

Dieser Begriff der Idee ist aber gar nicht so sehr verschieden


von dem, was Hegel die Idee nennt. Hartmann behauptet nichts
anderes als das: was draußen in der Welt als Ursache der Dinge
und Prozesse wirkt, komme innerhalb unseres Bewußtseins in
Form der Idee zum Ausdrucke. Somit muß er den Inhalt unserer
Ideenwelt für dasjenige halten, was uns den Schleier des Daseins
lüftet, soweit das letztere für uns überhaupt möglich ist. Und
Hegel sagt: ergreife die Welt der Ideen in deinem Bewußtsein, so
hast du den objektiven Inhalt der Welt ergriffen. Soweit bestünde
nun eine vollständige Übereinstimmung der beiden Denker. Wäh-
rend aber Hegel einfach die Welt der Ideen in unserem Innern
aufsucht und dabei den inneren logischen Charakter derselben als
maßgebend hinnimmt, sagt Hartmann: die Idee als logische, bloß
wie sie in uns, in Gedanken, ist, könnte höchstens wieder Idee in
logischer Weise bedingen, nicht aber Dinge der Wirklichkeit
hervorbringen. Dazu muß ein Zweites, eine Kraft, etwas schlech-
terdings Unlogisches kommen. Erkennen kann ich von diesem
zweiten Elemente der höchsten Wirklichkeit natürlich wieder nur
den Repräsentanten, den es mir in mein Bewußtsein hereinsendet.
Wenn ich mich aber frage, welches ist die Kraft in mir, die das
tatsächlich vollzieht, zur Wirklichkeit macht, was die Logik be-
dingt, so finde ich meinen Willen. Etwas diesem Analoges muß
auch in der Außenwelt walten, um den sonst machtlosen Ideen
Wirklichkeit, gesättigtes Dasein zu verleihen. Dieses Analogen
nennt Hartmann den unbewußten Willen. Unbewußte Idee und
unbewußter Wille zusammen aber bilden den unbewußten Geist
oder das Unbewußte.

Man muß dabei beachten, daß Hartmann durchaus nicht etwa


behauptet, die unbewußte Idee oder der unbewußte Wille seien in
der Außenwelt gerade in derselben Qualität vorhanden wie ihre
bewußten Repräsentanten in unserem Geiste. Er hält vielmehr

293


daran fest, daß wir über die Qualität dessen, was der Idee und
dem Willen im Objektiven entspricht, nichts wissen, sondern daß
für uns nur das eine feststeht, daß solche Analoga existieren.*

Durch die letztere Annahme, durch den unbewußten Willen,


geht nun Hartmann wesentlich über Hegel hinaus. Mußte dieser
nach seiner Grundannahme die logische Bestimmtheit für das
allein bei der Idee in Betracht Kommende halten, überhaupt in
logischen Gesetzen die höchsten Weltgesetze sehen, so behauptet
Hartmann: alles, was wir in der Welt gewahr werden, ist: durch
den Willen realisiertes Ideelles. Da der Wille nun natürlich eine
Kraft ist, die von den Gesetzen der Logik nichts weiß, so sind
die Weltgesetze auch nicht die logischen. Wenn ich also bloß in
mich hineinblicke und meine Ideenwelt betrachte in ihren logi-
schen Zusammenhängen, so komme ich zu keinem Ziele. Ich
muß hinaussehen und durch Beobachtung erforschen, was der
Wille für Geschöpfe aus dem ewigen Quell des Seins herausspritzt.
Was ich da beobachte, was ich zuletzt als Resultat gewinne, ist
Idee, aber aus der Wirklichkeit entlehnte Idee.

Den Naturforschern warf Hartmann vor, daß sie einfach nicht


die Fähigkeit hätten, die Ideen zu beobachten, und deshalb bei der
bloßen Sinneswahrnehmung stehenblieben. Den Philosophen aber
fertigten die Naturforscher damit ab, daß sie seine «Philosophie
des Unbewußten» für das Werk eines Phantasten erklärten, der
über naturwissenschaftliche Fragen in ganz dilettantenhafter Weise
mitsprechen wolle. Bald nach der «Philosophie des Unbewußten»
erschienen eine Reihe von Gegenschriften vom naturwissenschaft-
lichen Standpunkte, unter denen sich auch die eines Anonymus
befand. Die Naturforscher erklärten dieselbe für ein sehr ver-
dienstliches Büchlein, das mit echter Sachkenntnis die leichtferti-
gen Ausführungen Hartmanns vom Standpunkte wahrer Erfah-
rungswissenschaft widerlege. Das Schriftchen erlebte eine zweite

* Hartmann bezeichnet die Beziehung eines im Bewußtsein vorhan-


denen Etwas auf ein jenseits desselben Bestehendes, uns Unbekanntes, als
transzendental. Deshalb nennt er seine Weltansicht, die eine solche Rea-
lität annimmt und den Bewußtseinsinhalt auf sie bezieht, transzendentalen
Realismus.

294


Auflage; der Verfasser setzte aber jetzt seinen vollen Namen auf
das Titelblatt. Es war — Eduard von Hartmann. Der Philosoph
hatte sich den Spaß gemacht, einmal den Gegnern gründlich zu
zeigen, daß man sie schon verstehen kann, wenn man sich nur
hinunter auf ihren Standpunkt stellen will. Es war ihm trefflich
gelungen, zu zeigen, wer deshalb widerspricht, weil er den Gegner
nicht versteht.

Der Erfolg der «Philosophie des Unbewußten» war der denkbar


größte. Bis heute sind zehn Auflagen erschienen, und in alle euro-
päischen Kultursprachen sind Übersetzungen besorgt. Hartmann,
ermutigt dadurch, widmete sich mit aller Kraft dem Ausbau seiner
Weltanschauung. Er suchte nicht nur die sich immer mehrenden
Erfahrungen der Naturwissenschaft von dem Gesichtspunkte seiner
Philosophie zu beleuchten*, sondern auch die Konsequenzen für
Ethik, Religionswissenschaft und Ästhetik zu ziehen.

Die ethischen Anschauungen Hartmanns finden wir hauptsäch-


lich in seinem Buche: «Phänomenologie des sittlichen Bewußt-
seins». Aus seinen Grundansichten auf dem Gebiete der Ethik
folgt auch sein Standpunkt in der Politik und in den kulturellen
Tagesfragen.

Die unbewußte Idee wird durch den unbewußten Willen ver-


wirklicht. Dies ist das Wesen des Weltprozesses. Und der histo-
rische Entwickelungsprozeß ist nur ein Teil dieses Prozesses. Aber
als solcher ist er wieder ein Ganzes, und die einzelnen Kultur-
systeme und sittlichen Anschauungen der Völker und Zeitalter
sind nur seine Teile. Wer das erkennt, kann den Zweck seines
Daseins nicht in einer einzelnen Handlung suchen, sondern nur
in dem Werte, den sein besonderes Dasein für den Kulturprozeß
der ganzen Menschheit und mittelbar dadurch für den ganzen
Weltlauf hat. Nur in der selbstlosen Hingabe an die Ganzheit, in
dem Aufgehen in der Menschheit, kann der Einzelne sein Heil
finden. Als Ergänzung gleichsam zu dieser Erkenntnis sucht Hart-
mann den empirischen Nachweis zu liefern, daß keine Lust in der

* Eben (1891) ist ein Ergänzungsband zur ersten bis neunten Auflage


der «Philosophie des Unbewußten» (Leipzig, Wilhelm Friedrich) erschie-
nen, der sich mit den neuesten Ergebnissen der Naturlehre auseinandersetzt.

295


Welt uns ein uneingeschränktes Gefühl des Glückes gewähren
kann. Wo immer wir hinblicken mögen: wenn wir uns an Einzel-
nes, Vorübergehendes hängen, so wird die Entbehrung größer sein
als die Befriedigung. Wir müssen uns mit dieser Überzeugung
durchdringen und dann um so freudiger der oben gekennzeichne-
ten idealen Lebensaufgabe widmen. Wenn man diese ethische
Auffassung Pessimismus nennen will, dann mag man es immerhin
tun. Nur hüte man sich davor, diese Hartmannsche Ansicht mit
dem Pessimismus Schopenhauers zu verwechseln.

Der letztere ist der Überzeugung, daß der Wille in seiner Ver-


nunftlosigkeit das einzige Weltprinzip und die Idee gar keine
objektive Bedeutung habe, sondern lediglich ein «Hirnprodukt»
sei. Deshalb findet er die Welt vernunftlos und schlecht. Eine
Realisierung durch den vernunftlosen Willen könne überhaupt
nur ein wertloses Dasein erzeugen. Es gäbe nichts Lebenswertes in
der Welt. Da wir in einer solchen Welt nichts erreichen können,
so sei für den Menschen das Nichthandeln dem Handeln vorzu-
ziehen. Schopenhauers Ethik endigt, wie man sieht, mit der Emp-
fehlung der vollständigen Tatenlosigkeit.

Man vergleiche damit die Ethik Hartmanns, so wird man sehen,


daß sie zu einem ganz entgegengesetzten Resultat führt, daß sie
gerade in dem selbstlosen, hingebungsvollen Handeln die Befrie-
digung sucht, die uns das selbstsüchtige Genießen nimmermehr
bieten könnte. Daß man dennoch beide Weltanschauungen, trotz
wiederholten Protestes von Seite E. v. Hartmanns, immerfort zu-
sammenwirft, beweist, welche Gewalt Schlagworte selbst über das
gebildete Publikum haben.

Woher aber sollen wir die Grundsätze für unser jeweiliges


Handeln nehmen, fragt Hartmann. Wir wirken am zweckmäßig-
sten, wenn wir an dem Orte, an den uns die Geschichte gestellt
hat, unsere Aufgabe am richtigsten erfassen. Was heute gut ist,
war es nicht im Mittelalter und wird es nicht nach Jahrhunderten
sein. Was ein Mensch zu tun hat, muß sich daraus ergeben, was
sein Vorgänger getan hat. Hier muß er den Faden anknüpfen und
weiter entwickeln. Nur wer aus der Vergangenheit, aus der histo-
rischen Entwickelung, seine Aufgaben für die Gegenwart kennt,

296


der schafft Gutes. Nicht mit abstrakten, schablonenhaften Begrif-
fen dürfen wir auf den Schauplatz des Handelns treten, sondern
ausgerüstet mit Erkenntnis von den wahren Bedürfnissen der tat-
sächlichen Wirklichkeit.

Weil die liberalen Parteien mit Außerachtlassung dieser Bedürf-


nisse, von außen her, aus der Theorie, die Welt regieren wollen,
deshalb ist Hartmann ein Gegner derselben. Er will Parteigrund-
sätze, die aus dem Studium der Wirklichkeit folgen. Er ist kon-
servativ in dem Sinne, daß er überall die Reformbestrebungen an
Vorhandenes angeknüpft wissen will, aber durchaus nicht in der
Weise vieler Konservativer, die der Entwickelung allerlei Hemm-
schuhe anlegen oder ihr am liebsten gar Stillstand gebieten möch-
ten. Hartmann will den Fortschritt, aber nicht, wie ihn der Scha-
blonenliberalismus auffaßt, sondern als fortwährende Annäherung
zu den großen Kulturzielen der Menschheit. Jede Kulturepoche
ist ihm nur die Vorbereitung der folgenden. Kein Kulturzweig ist
von dieser Entwickelung ausgeschlossen.

Wie sich auch die religiösen Bedürfnisse diesem allgemeinen


Gesetze unterworfen zeigen, hat Hartmann in seinen beiden Wer-
ken: «Die Selbstzersetzung des Christentums und die Religion der
Zukunft» und «Das religiöse Bewußtsein der Menschheit im
Stufengang seiner Entwicklung» ausgeführt. Wir stehen in der
Zeit, in welcher allerorten die alten religiösen Formen morsch
geworden sind und neuen Platz machen müssen. Das Christentum
ist keine absolute Religion, sondern nur eine Phase in der religiö-
sen Entwickelung der Menschheit, und schon sind Anzeichen
genug vorhanden, von welcher neuen Anschauung es abgelöst
werden wird.

Es wäre ein arges Vorurteil, wenn man glauben wollte, die


philosophischen Erörterungen Hartmanns seien wertlos für das
praktische Leben. Ich will nur auf einiges hinweisen, das geeignet
ist, solches zu entkräften. Hartmann hat theoretisch das Deutsch-
Österreichische Bündnis und die gegenwärtige Konstellation der
europäischen Staaten, lange bevor sie sich wirklich vollzogen
haben, gefordert. Die Parteibildungen, wie wir sie in Deutschland
in der zweiten Hälfte des verflossenen Dezenniums haben ent-

297


stehen sehen, stellte Hartmann vorher als eine Notwendigkeit hin.
Die Polenfrage haben wir bereits erwähnt. Dabei darf man nun
durchaus nicht vergessen, daß unser Philosoph weit davon ent-
fernt ist, zu behaupten, daß das von ihm in dieser Weise als not-
wendig Bezeichnete auch das Beste sei. Das Beste zu verlangen, ist
überhaupt nach seiner Ansicht eine leere Forderung; man muß
zusehen, was nach den in den Menschen und in der Zeit wirken-
den Motiven entstehen kann und dazu seine Hand bieten. Hart-
mann ist im eminentesten Sinne Realpolitiker.

Seit einiger Zeit ist man in Deutsch-Österreich auf Hartmann


nicht gut zu sprechen, weil er 1885 in einem Aufsatze von einem
«Rückgange des Deutschtums in den österreichischen Ländern»
gesprochen hat. Wollte man den Inhalt dieses Aufsatzes genau
prüfen, so würde man wahrscheinlich zu einem anderen Urteile
kommen. Denn abgesehen von einigen Bemerkungen, welche die
Lage unserer Stammesgenossen trauriger hinstellen, als sie in
Wirklichkeit ist, und die auf Rechnung des Umstandes zu setzen
sind, daß Hartmann seine Kenntnisse doch zum Teil aus den die
Sache verfälschenden Zeitungsberichten und Broschüren haben
muß, wird man in jenem Aufsatze nur die Ansichten vertreten
finden, die heute die nationalsten österreichischen Politiker auf
ihre Fahne geschrieben haben. Hartmann legte den Deutschen in
Österreich dar, daß sie unter das Maß von Einfluß, das ihnen
gebührt, herabsinken müssen, wenn sie fortfahren, über liberalen
Parteiprogrammen die tatsächlichen Aufgaben ihrer Nation und
des Reiches aus den Augen zu verlieren. Sie haben, nach seiner
Ansicht, sich auf die Volkskraft und ihre höhere Bildung zu stüt-
zen, um so das zu erreichen, was sie nimmermehr durch Paktieren
mit «unreifen Natiönchen» und durch liberale Phrasen erreichen
können, nämlich «das Staatsruder West-Österreichs» zu lenken.
Hartmann wegen dieses Aufsatzes auch nur im geringsten einer
deutschfeindlichen Gesinnung zu zeihen, geht nicht an, wenn man
bedenkt, wie tief seine ganze Weltanschauung im Deutschtum
wurzelt und wie er dieses Deutschtum ehrt, wenn er zum Beispiel
sagt, beim Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges «hat es
sich so recht gezeigt, daß Deutschland im wesentlichen wohl für

298


immer darauf wird verzichten müssen, von anderem als deutschem
Blute verstanden zu werden».

Welche Bedeutung Hartmanns Auffassung der politischen Situa-


tion hat, wird man erst so recht würdigen können, wenn sich eine
seiner Hauptideen: «Vollständige Trennung aller politischen Par-
teien von wirtschaftlichen und religiös-kirchlichen» verwirklicht
haben und wenn der von ihm 1881 geforderte mitteleuropäische
Zollverein möglich werden wird. Man wird dann sehen, daß Hart-
manns Ansichten nichts sind als die in Begriffe gebrachten sitt-
lichen, politischen, religiösen, wirtschaftlichen usw. Kräfte der
Gegenwart. Er sucht ihnen abzulauschen, nach welcher Richtung
sie hinstreben, und nach dieser Richtung sucht er den praktischen
Reformen den Weg vorzuzeichnen.

In der letzten Zeit schenkte uns Hartmann eine zweibändige


«Ästhetik». Der erste Band sucht die Entwickelung der deutschen
Kunstgeschichte seit Kant geschichtlich darzustellen; der zweite
ist bestrebt, ein eigenes selbständiges Gebäude der «Wissenschaft
des Schönen» aufzubauen. Im ersten Teile bewundern wir die All-
seitigkeit, die auf jede Erscheinung eingeht und nicht nur eine
geschichtliche Entwickelung der Grundansichten der einzelnen
Ästhetiker bringt, sondern auch eine Darstellung des Fortganges
der einzelnen ästhetischen Grundbegriffe, wie: schön, häßlich,
komisch, erhaben, anmutig und so weiter. Daß in dem Buche der
oft mißverstandene Deutinger und der vollständig verschollene,
aber hochbedeutende Trahndorff ihre gerechte Würdigung finden,
gehört nicht zu seinen geringsten Verdiensten. Wer sich eingehend
unterrichten will, wie sich die Ansichten über Kunst von Kant
herauf bis auf unsere Tage entwickelt haben, der muß zu diesem
Buche greifen.

In der «Wissenschaft des Schönen» sucht Hartmann, seinem


Prinzipe getreu, jenes Gebiet im tatsächlich Vorhandenen zu suchen,
worinnen das Schöne, das von der Kunst Geschaffene, seinen Sitz
hat. Er verwirft den abstrakten Idealismus der Schellingianer, die
das Schöne nicht im Kunstobjekte selbst, sondern in einer abstrak-
ten Sphäre suchen und behaupten, jedes einzelne Schöne sei nur
ein Abglanz der niemals in seiner Vollkommenheit erscheinenden

299


überirdischen Idee des Schönen. Diesem «abstrakten Idealismus»
setzt Hartmann seinen «konkreten» entgegen, der den Grund und
die Wurzel in dem ästhetischen Objekte selbst sucht, kurz, der
auch hier die beobachtende, betrachtende, nicht die konstruie-
rende Methode anwendet. Was ist eigentlich das Objekt, worin-
nen sich das «Schöne» verwirklicht? so fragt Hartmann. Weder
bloß das reale Werk, das wir vor uns haben, wie die Realisten
wollen, noch bloß die Harmonie der Gefühle und Empfindungen,
die es in uns erzeugt, wie die Idealisten wollen, sind der Sitz des
Schönen, sondern der Schein der Realität, zu dessen Hervorbrin-
gung dem Künstler das reale Produkt nur als Mittel dient. Wer
nicht davon abzusehen imstande ist, welche realen Wirkungen
von dem Kunstprodukte auf ihn ausgeübt werden, und nur sich
dem Eindrucke des von aller Wirklichkeit abgelösten «ästheti-
schen Scheines» hingeben kann, der ist des wahren Kunstgenusses
noch nicht fähig. Ein Mensch, der in der Wirklichkeit ein Ver-
brechen begeht, erzeugt in uns ein reales Gefühl des Abscheues
durch seine wirkliche Tat. Er wirkt in uns durch das, was er ist.
Der Schauspieler, der den Verbrecher darstellt, wirkt nur dann
richtig auf uns ein, wenn er mit Verleugnung seines wirklichen
Seins nur durch das in uns Empfindungen und Gefühle erregt,
was er scheinen soll, durch seine Darstellung, die sich im Schein
erschöpft und hinter der keine Wirklichkeit steht. «Wer noch
nicht die letzte Spur realistischer Velleitäten vom ästhetischen
Schein und den in ihm verborgenen Gehalt abgestreift hat, der ist
noch nicht zur rein ästhetischen Auffassung durchgedrungen, son-
dern ist mehr oder minder in einer Verquickung von ästhetischer
mit theoretischer oder praktischer Auffassung steckengeblieben.»
(Wissenschaft des Schönen, S. 21.) Nur wer es vermag, sich gänz-
lich von der realen Bedeutung des Objektes, das vor ihm steht, zu
emanzipieren und sich nur dem Genüsse dessen hingibt, was es
scheinen will, der ist in ästhetischer Betrachtung begriffen. Und
nun zeigt uns Hartmann ebensowohl, wie der von der Realität
abgelöste Schein sich in einzelnen Formen des künstlerischen
Schaffens ausspricht, im sinnlich Angenehmen, in den mathemati-
schen Verhältnissen, in den organischen Bildungen und so weiter,

300


wie er uns ferner darstellt, in welcher Weise die einzelnen Künste
mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln den «ästhetischen
Schein» hervorrufen können. Wir haben selbst in diesen Blättern
einen Aufsatz veröffentlicht, der von den Grundanschauungen
ausgeht, die sich mit den Hartmannschen nicht vollständig decken.
Besonders glauben wir, daß die Ästhetik nicht versäumen soll, zu
sagen, was denn eigentlich im «ästhetischen Schein» dasjenige ist,
das auf uns wirkt. Es ist ebenso gewiß, daß derjenige, welcher in
seiner ästhetischen Betrachtung «durch zufällige Kenntnisse über
das Privatleben des Schauspielers Schultze und der Tänzerin Müller
in der Beurteilung ihrer mimischen Kunstleistungen» beeinflußt
wird, nicht zum wahren Kunstgenuß kommt, wie es wahr ist, daß
ich auch bei der reinen Betrachtung des Scheines ästhetisch un-
berührt bleiben muß, wenn ich keine Empfindung dafür habe, was
gerade durch den ästhetischen Schein zu mir spricht. Gewiß, der
Künstler kann auf mich nur durch den Schein wirken, aber nicht
der Charakter der Scheinhafrigkeit macht die Natur des Kunst-
werkes aus, sondern der Inhalt im Schein, das, was der Künstler
im Scheine verkörpert. Wer nur für den Schein Sinn hat und kei-
nen für das im Scheine Ausgesprochene, der bleibt der Kunst
gegenüber doch unempfindlich. Der Schein ist bloß deshalb not-
wendig, weil uns die Kunst etwas zu sagen hat, was uns von der
unmittelbaren Wirklichkeit nicht gesagt werden kann. Er ist ein
notwendiger Behelf der Kunst, eine Folge des künstlerischen
Schaffens, aber er macht das letztere nicht aus. Das sind jedoch
prinzipielle Einwände, und wir wären ungerecht, wenn wir den-
selben nicht entgegensetzten, daß wir selten ein Buch mit solcher
Befriedigung, mit so großem Nutzen gelesen haben wie Hartmanns
Ästhetik. Jeder kann daraus lernen durch die gründliche Kenntnis
der Technik in den einzelnen Künsten, die den Verfasser auszeich-
net, durch die Ausblicke auf das Leben, die von Hartmanns Genia-
lität und dem großen Stil zeugen, mit denen er die Summe aller
Kulturäußerungen auffaßt, und schließlich durch den feinen Ge-
schmack, von dem alle seine Kunsturteile getragen sind.

Wir sind selten so erfreut, wie wenn wir die Ankündigung eines


neuen Werkes Hartmanns lesen, denn dann wissen wir stets, daß

301


ein großer Schatz unserem Geiste zugeführt wird. Und wir wün-
schen der Zeit Glück zu allem, was von Hartmann noch ausgehen
wird, denn, wie wir schon erwähnt, er steht in der Vollkraft sei-
nes Schaffens. Er hat sein System fast ausgebaut. Wir wissen nicht,
auf welches Gebiet sich seine Tätigkeit nun werfen wird. Das aber
wissen wir: den Charakter des Großen und Bedeutenden wird alles
haben, was wir noch von ihm zu erwarten haben.

GEDANKEN ZU DEM HANDSCHRIFTLICHEN


NACHLASSE GOETHES

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des Genies, daß es in großen


Zügen den Plan der Kulturentwickelung entwirft, dessen Ausbau
in den Einzelheiten der nachfolgenden Generation obliegt. Es
müssen oft lange Zeiträume vergehen, ehe die Welt auf Um-
wegen zum vollen Verständnisse dessen gelangt, was ein Einzel-
ner auf der Höhe seiner Geisteskultur geschaffen. Und immer,
wenn ein Same, den ein führender Genius der Bildung eingepflanzt
hat, reif ist, als Frucht bei der Nachwelt aufzugehn, dann kehrt
die letztere zu jenem Führer zurück, um sich wieder einmal mit
ihm auseinanderzusetzen.

Als solche Auseinandersetzungen sind die zahlreichen Kund-


gebungen aufzufassen, die fortwährend aus allen Teilen des gebil-
deten Europas in bezug auf Goethe zutage treten. Man fühlt immer
besser, daß man von Goethe um so mehr zu lernen hat, je weiter
man es selbst in der Bildung gebracht hat. Der Zweig der Kultur,
der dies in den letzten Jahrzehnten am anschaulichsten bewiesen
hat, ist wohl die Naturwissenschaft. Zahkeiche Forscher, die zu
irgendeiner Wahrheit gelangt waren, fühlten förmlich ihr Gewis-
sen erleichtert, wenn sie einen Anhaltspunkt dafür fanden, daß
Goethe über die von ihnen aufgeworfene Frage eine der ihrigen
ähnliche Ansicht gehabt. Das Kapitel «Goethe und die Naturwis-
senschaft» ist seit langem auf der Tagesordnung und bliebe es ohne

302


Zweifel auch dann noch für unabsehbare Zeiten, wenn nicht der
außerordentliche Umstand eingetreten wäre, daß die Publikatio-
nen des Goethe-Archives unsere Kenntnisse in diesem Felde nun
wesentlich bereichern. Da dieses letztere aber in hohem Maße der
Fall ist, so wird die Erörterung der einschlägigen Fragen in der
nächsten Zeit überhaupt in ein neues Stadium treten.

Der Verfasser dieser Zeilen hat bereits vor einiger Zeit die ver-


ehrten Leser der Goethe-Chronik auf die zu erwartende Bereiche-
rung unserer Goethe-Kenntnisse nach dieser Richtung hin auf-
merksam gemacht. Seine vor einigen Monaten im Goethe-Archive
wieder aufgenommenen Studien haben ihn nun nicht nur in dieser
Überzeugung bestärkt, sondern seine Erfahrungen auf diesem Ge-
biete um manches wertvolle Stück vermehrt. Die hohe Besitzerin
der Goethe-Schätze, die Frau Großherzogin Sophie von Sachsen, hat
ihm nun gnädigst gestattet, im Einvernehmen mit dem Direktor des
Goethe- und Schiller-Archivs, Prof. Suphan, die Ergebnisse seiner
Forschung zur vorläufigen Orientierung des Publikums zu verwer-
ten, welcher Umstand denn auch diesen Aufsatz möglich macht.

Die Maxime, auf welche sich die gegenwärtige Naturwissen-


schaft besonders viel zugute tut, ist die, daß sie alle ihre Resultate
auf dem Wege der Beobachtung gewinnen will. Nichts soll als
wahr gelten, was nicht der Erfahrung, der Empirie seinen Ur-
sprung verdankt. Es ist hier nicht der Ort, auf die umfassende
Prüfung der Richtigkeit des damit gekennzeichneten Standpunk-
tes einzugehen. Auf eines aber müssen wir die Aufmerksamkeit
unserer Leser lenken, weil es für die Beurteilung der naturwissen-
schaftlichen Denkweise Goethes von grundsätzlicher Wichtigkeit
ist. Wir meinen die präzise Beantwortung der Frage: was ist denn
eigentlich Beobachtung? Was ist Erfahrung? — Wenn ich irgend-
einen Satz der Wissenschaft als Erfahrungsresultat hinstelle, so
habe ich doch damit nicht ein objektives Kennzeichen dieses
Satzes, sondern einzig und allein die Art und Weise angegeben,
auf die der Forscher zu demselben gekommen ist. Ich habe nichts
über die Sache selbst, sondern nur etwas über das Verhältnis des
beobachtenden Menschen zu den Dingen bestimmt. Wer mir die
strenge Einhaltung des Grundsatzes der Erfahrung anempfiehlt,

303


der sagt mir nichts weiter, als wie ich mich verhalten soll, um zu
richtigen Ergebnissen zu gelangen. Die Natur dieser Ergebnisse
selbst muß er völlig unbestimmt lassen. Denn in seiner Forderung
liegt es ja, daß ich mir eben von den Dingen selbst über diese ihre
Natur Aufschluß hole, daß ich mein Auffassungsvermögen frei
der Einwirkung der Welt öffne und die Objekte an mich heran-
kommen lasse. Dann sollen sie selbst mir das enthüllen, was an
ihnen für mich erkennbar ist.

Es wird diesem Grundsatze sofort widersprochen, wenn man,


ausgehend von der Forderung strenger Erfahrungswissenschaft,
behauptet: weil die Welt nur durch Erfahrung erkennbar ist, des-
halb muß sie diese oder jene Eigenschaften haben. Wer durch das
Prinzip der Erfahrung sich zum Materialismus, Atomismus und so
weiter drängen läßt, der überschreitet die Grenzen, die er sich
selbst gezogen hat.

Zu denjenigen Forschern nun, die sich streng innerhalb dieser


Grenzen gehalten haben, gehört Goethe. Wie kommt es nun aber,
daß seine Anschauungen doch gerade von denjenigen oft erheb-
lich abweichen, die wir bei den sogenannten reinen Empirikern
finden? Die letzteren verwerfen ja den Standpunkt des Idealismus,
und dieser ist doch der Goethes. Verträgt sich denn die Forderung
der Erfahrung überhaupt mit dem Idealismus? Wir antworten:
ja, wenn der Empiriker nicht bloß mit den Sinnen des Körpers,
sondern auch mit denen des Geistes zu beobachten versteht. So
wie das Auge Farben und Formen, wie das Ohr Töne, so liefert
der Geist Ideen als Resultate der Erfahrung.

Dies ist ein Widerspruch, vernehmen wir von Seite der Empiri-


ker. Ideen können nie Gegenstand der Erfahrung sein, denn sie
sind nicht in der Außenwelt, sondern nur in uns, in unserer Seele
enthalten. So sagen die Vertreter der Erfahrung, ohne zu merken,
daß sie damit eine ungeheure Inkonsequenz begehen. Was berech-
tigt mich zu sagen: nur das gehört den Dingen der Außenwelt
an, was mit den äußeren Sinnesorganen wahrzunehmen ist? Die
Objekte können sich mir doch nimmermehr ihrem ganzen Inhalte
nach enthüllen, wenn ich ihnen vorschreibe, sie dürfen keine ande-
ren Eigenschaften haben als solche, die mich meine physischen

304


Organe erkennen lassen. Das Prinzip der Erfahrung verlangt, daß
ich alles, was an mir ist, den Objekten entgegenhalte, um allseitig
ihr Wesen zu erforschen. Das sinnliche Auffassungsvermögen ist
aber nur eine Seite im Wesen des Menschen. Und Goethe kann
denjenigen nicht als wahren Forscher gelten lassen, der sich von
vornherein dazu verdammt, von den Dingen nur die Hälfte ken-
nenzulernen, weil er behauptet, nur die Hälfte seines Wesens lie-
fere ihm die Wahrheit. Nur in der Entfaltung aller unserer Er-
kenntniskräfte erschließt sich uns nach Goethes Ansicht das We-
sen der Dinge, soweit es uns überhaupt erkennbar ist.

Wer in einseitiger Weise bloß dem Denken, der Entwickelung


unseres Begriffsvermögens sich hingibt, dessen wissenschaftliche
Ansichten sind leer, inhaltlos, sie tragen den Charakter des Über-
flüssigen, weil sie gerade das Gebiet, in dessen Rätsel sie uns ein-
führen sollen, fliehen; wer nur den Sinnen vertraut, nichts sucht,
als das, was sie ihm liefern, der krankt an geistiger Blindheit; er
tastet an den Objekten herum, ohne den Faden zu kennen, der
ihn ins Innere führt, wo sich ihm die scheinbare Regellosigkeit als
gesetzliche Ordnung enthüllt. Der echte wissenschaftliche Geist
gibt sich für Goethe darinnen kund, daß er zwischen sinnlicher
Wahrnehmung und denkender Überlegung fortwährend abwech-
selt. Wie Einatmen und Ausatmen das Leben unterhalten, so unter-
hält das Hin- und Herbewegen des Geistes zwischen Ausbreitung
über die Masse der Sinnenwelt und Zusammenziehung auf die
gesetzmäßigen Quellen dieser Mannigfaltigkeit die sachgemäße
Forschung. Ja, aller wissenschaftliche Betrieb wird Goethe zuletzt
nur als solche lebensvolle Tätigkeit des Menschen verständlich.
Theorien, Hypothesen sind an sich tot; sie gewinnen nur Leben,
wenn sie den Geist wie Systole und Diastole beherrschen.* Nicht
um die Resultate ist es Goethe zu tun, sondern darum, durch die

* Prof. Suphan macht mich während der Ausarbeitung dieses Aufsatzes


auf eine Stelle in Biedermann, Goethes Gespräche, VII, S. 122, aufmerk-
sam, die einen wichtigen Beleg für meine obigen Ausführungen liefert:
«So entgegnete er (Goethe) Herrn Vogel auf seine Behauptung, die Theo-
rie müsse immer der Praxis vorangehen, mit Nachdruck, daß sie immer
mit der Praxis zusammengehe: perlose Seelen zu schaffen>.»


Yüklə 2,15 Mb.

Dostları ilə paylaş:
1   ...   12   13   14   15   16   17   18   19   ...   33




Verilənlər bazası müəlliflik hüququ ilə müdafiə olunur ©genderi.org 2024
rəhbərliyinə müraciət

    Ana səhifə