Rudolf steiner



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blicken und das Hervorgehen des Einzelnen aus dem Ganzen im

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Geiste nachzuschaffen, das ist die Aufgabe. Nicht auf das fertig
gewordene Einzelne, sondern auf das Naturgesetz, nicht auf das
Individuum, sondern auf die Idee, den Typus, der uns jenes erst
begreiflich macht, kommt es an. Bei Goethe kommt diese Tat-
sache in der denkbar vollkommensten Form zum Ausdrucke. Was
wir aber gerade an seinem Verhalten der Natur gegenüber lernen
können, das ist die unumstößliche Wahrheit, daß für den moder-
nen Geist die unmittelbare Natur keine Befriedigung bietet, weil
wir nicht schon in ihr, wie sie als Erfahrungswelt ausgebreitet vor
unseren Sinnen liegt, sondern erst dann das Höchste, die Idee, das
Göttliche erkennen, wenn wir über sie hinausgehen. In der von
aller Wirklichkeit losgelösten, rein ideellen Form ist nun die
«höhere Natur in der Natur» in der Wissenschaft enthalten.
Während aber die bloße Erfahrung zur Aussöhnung der Gegen-
sätze von idealer und wirklicher Welt nicht kommen kann, weil
sie wohl die Wirklichkeit, aber noch nicht die Idee hat, ist der
Wissenschaft dieselbe aus dem Grunde nicht möglich, weil sie
wohl die Idee, aber die Wirklichkeit nicht mehr hat. Zwischen
beiden bedarf der Mensch eines neuen Reiches, eines Reiches, in
dem das Einzelne schon, und nicht erst das Ganze die Idee dar-
stellt, in dem schon das Individuum, nicht erst die Gattung mit
dem Charakter der Notwendigkeit ausgestattet ist. Eine solche
Welt kommt uns aber nicht von außen, der Mensch muß sie sich
selbst erschaffen; und diese Welt ist die Welt der Kunst, ein not-
wendiges drittes Reich neben dem der Sinne und dem der Ver-
nunft. Aufgabe der Ästhetik ist es nun, die Kunst als dieses dritte
Reich zu begreifen und von diesem Gesichtspunkte ausgehend
die Bestrebungen der Künstler zu verstehen. Das Problem zuerst
in der von uns angedeuteten Weise angeregt und damit alle ästhe-
tischen Hauptfragen eigentlich in Fluß gebracht zu haben, ist das
Verdienst der im Jahre 1790 erschienenen «Kritik der Urteils-
kraft» Kants. Die hierinnen ausgesprochenen Ideen in Verbin-
dung mit der großartigen Ausgestaltung, die sie durch Schiller (in
den «Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen») erfah-
ren haben, sind der Grundstein der Ästhetik. Kant findet, daß nur
dann das Wohlgefallen an einem Objekte ein rein ästhetisches ist,

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wenn es unbeeinflußt ist von dem Interesse am realen Dasein des-
selben, so daß die reine Lust am Schönen nicht durch die Ein-
mischung des Begehrungsvermögens, das nur nach Zweck und
Nutzen fragt und die Welt darnach beurteilt, getrübt wird. Schiller
findet nun, daß die geistige Tätigkeit, die sich im Schaffen und
Genießen des Schönen auslebt, sich darinnen kennzeichnet, daß sie
weder durch eine Naturnotwendigkeit gebunden ist, an die wir uns
zu halten haben, wenn wir einfach die Erfahrungswelt auf unsere
Sinne einwirken lassen, noch daß sie einer logischen Notwendig-
keit untersteht, die sofort in Betracht kommt, wenn wir zum
Zwecke wissenschaftlicher Forschung oder technischer Verwertung
der Naturkräfte (zum Beispiel beim Bau einer Maschine) an die
Wirklichkeit herantreten. Der Künstler gehorcht nun weder ein-
seitig der Naturnotwendigkeit noch der Vernunftnotwendigkeit.
Er gestaltet die Dinge der Außenwelt so um, daß sie erscheinen,
als ob ihnen schon der Geist eingeboren wäre, und den Geist
behandelt er so, als ob er unmittelbar natürlich wirkte.

Dadurch entsteht der ästhetische Schein, in dem sowohl die Na-


tur- wie die Vernunftnotwendigkeit aufgehoben ist; jene, weil sie
nicht ohne Geist, und diese, weil sie aus ihrer ideellen Höhe
herabgestiegen ist und wie Natur wirkt. Die Werke, die dadurch
entstehen, sind nun freilich nicht naturwahr im gewöhnlichen
Sinne des Wortes, weil ja in der Natur sich Idee und Wirklich-
keit nirgends decken, aber sie müssen Schein sein, wenn sie wahr-
hafte Kunstwerke sein sollen. Mit dem Begriffe des Scheines in
diesem Zusammenhange steht Schiller als Ästhetiker einzig da,
unübertroffen, ja unerreicht. Hier hätte die Ästhetik anknüpfen
und von da aus weiterbauen sollen. Statt dessen tritt Schelling mit
einer vollständig verfehlten Grundansicht auf den Plan und leitet
die Ästhetik damit auf einen Irrweg, so daß sie sich nie wieder
zurechtgefunden hat. Der Nestor unserer Schönheitswissenschaft,
Friedrich Theodor Vischer, hat bis an sein Lebensende, trotzdem
er selbst eine fünfbändige Ästhetik geschrieben, an der Überzeu-
gung festgehalten: Ästhetik liegt noch in den Anfängen. Wie alle
moderne Philosophie, so findet auch Schelling die Aufgabe des
höchsten menschlichen Strebens in dem Erfassen der ewigen Ur-

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bilder der Dinge. In ihnen sei alle Wahrheit und Schönheit ent-
halten. Die wahre Schönheit sei also etwas Übersinnliches und das
Kunstwerk, das ja das Schöne im Sinnlichen erreichen will, nur
ein Abglanz jenes ewigen Urbildes. Das Kunstwerk ist nach
Schelling nicht um seiner selbst willen schön, sondern darum, weil
es die Idee der Schönheit abbildet. Die Kunst hat da keine andere
Aufgabe, als die Wahrheit, wie sie auch in der Wissenschaft ent-
halten ist, objektiv zu verkörpern, zu veranschaulichen. Worauf es
da ankommt, woran sich unser Wohlgefallen am Kunstwerke
knüpft, das ist die ausgedrückte Idee. Das sinnliche Bild ist nur
Ausdrucksmittel für einen übersinnlichen Inhalt. Und hierinnen
folgen alle Ästhetiker der idealisierenden Richtung Schellings.
Weder Hegel und Schopenhauer, noch ihre Nachfolger sind in
diesem Punkte weitergekommen.* Wenn Hegel sagt: «Das Schöne
ist das sinnliche Scheinen der Idee» und noch deutlicher: «Die
harte Rinde der Natur und der gewöhnlichen Welt machen es
dem Geiste saurer, zur Idee durchzudringen, als die Werke der
Kunst», so liegt darinnen ganz deutlich ausgesprochen, daß das
Ziel der Kunst mit dem der Wissenschaft ein gleiches ist, nämlich
die Idee zu erfassen, nur will sie die Wissenschaft in reiner Ge-
dankenform, die Kunst aber in anschaulicher Weise durch ein
sinnliches Ausdrucksmittel vor uns stellen. Und in gleichem Sinne
definiert Vischer das Schöne als «die Erscheinung der Idee». Diese
Ästhetik kann die selbständige Bedeutung der Kunst nicht be-
greifen. Was diese nach ihrer Ansicht bietet, ist ja in reinerer,
ungetrübterer Gestalt auf dem Wege des Denkens auch zu errei-
chen. Und deswegen hat sich die idealisierende Kunstwissenschaft
als unfruchtbar erwiesen. Aber sie ist nicht durch eine Physiologie
des Geschmacks, nicht durch eine prinzipienlose, bloße Kunst-
geschichte zu ersetzen, sondern durch Anlehnung an Goethes
Kunstauffassung. Merck charakterisiert einmal Goethes Schaffen
dadurch, daß er sagt, der letztere suche dem Wirklichen eine

* Auch die Ausführungen Eduard von Hartmanns über Hegel in seiner


groß angelegten, geistvollen Ästhetik können mich in dieser Überzeugung
nicht erschüttern, und die im Text angeführten Zitate sprechen durchaus
für mich.

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poetische Gestalt zu geben, während die anderen nur das sogenannte
Imaginative zu verkörpern suchen, was dummes Zeug gebe. Da-
mit ist ein Kunstprinzip angedeutet, das Goethe im zweiten Teil
des «Faust» mit den Worten ausspricht: «Das Was bedenke, mehr
bedenke Wie.» Es ist damit klar gesagt, woran in der Kunst alles
liegt. Nicht um das Verkörpern eines Übersinnlichen, sondern um
das Umgestalten des Sinnlichen, des Tatsächlichen handelt es sich.
Das Wirkliche soll nicht zum Ausdrucksmittel herabsinken, nein,
es soll in seiner Selbständigkeit bestehen bleiben, nur soll es eine
neue Gestalt bekommen, eine Gestalt, in der es unser Bedürfnis
nach dem Notwendigen, Urbildlichen befriedigt. Nicht die Idee
in dem Sinnlichen soll der Grund unseres Vergnügens, unserer
Erhebung am Kunstwerke sein, sondern der Umstand, daß hier
ein Wirkliches, ein Individuelles so erscheint wie die Idee. In der
Natur treten uns die Gegenstände eben nie so entgegen, wie sie
ihrer Idee entsprechen, sondern gehemmt, beeinflußt von allen
Seiten von Kräften, die mit dem Keime im Innern derselben nichts
zu tun haben. Das Äußere deckt sich nicht mit dem Innern, die
Natur erreicht nicht, was sie gewollt. Der Künstler beseitigt nun
alle diese Gründe der Unvollkommenheit und stellt das Einzel-
ding so vor unser Auge, wie wenn es Idee wäre. Der Künstler
schafft Objekte, die vollkommener sind, als sie ihrem Naturdasein
nach sein können, aber es ist doch nur die eigene Vollkommen-
heit der Wesen, die er anschaulich macht, zur Darstellung bringt.
In diesem Hinausgehen eines Gegenstandes über sich selbst, aber
doch nur auf Grund dessen, was schon in ihm verborgen ist, liegt
das Schöne. Goethe kann mit Recht sagen: «Das Schöne ist eine
Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erschei-
nung ewig wären verborgen geblieben», und «Wem die Natur
ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine
unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der
Kunst». Das Schöne soll nicht eine Idee verkörpern, sondern
einem Wirklichen eine solche Gestalt verleihen, daß es vollkom-
men und göttlich wie eine Idee vor unsere Sinne tritt.

Das Schöne ist Schein, weil es eine Wirklichkeit vor unsere


Sinne zaubert, die sich als solche wie die Ideenwelt selbst darstellt.

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Das Was bleibt ein sinnliches, aber das Wie des Auftretens wird
ein ideelles. Eine Welt der ideellen Vollkommenheit liefert uns
die Wissenschaft; diese können wir aber bloß denken; eine Welt
mit dem Charakter derselben Vollkommenheit ausgestattet, die
aber anschaulich ist, tritt uns in dem Schönen gegenüber. Eduard
von Hartmann, der neueste Bearbeiter der Ästhetik, der in seiner
«Philosophie des Schönen» ein sehr verdienstliches Werk geschaf-
fen hat, sagt ganz richtig, der Grundbegriff, von dem alle Schön-
heitsbetrachtung auszugehen hat, sei der Begriff des ästhetischen
Scheines.
Aber die Ideenwelt als solche kann niemals als Schein
betrachtet werden, gleichviel, in welcher Form sie erscheint. Ein
wirklicher Schein aber ist es, wenn das Natürliche, Individuelle
in einer ewigen, unvergänglichen Form, ausgestattet mit den
Charakteren der Idee erscheint, denn eine solche Form kommt
dem Natürlichen als solchem nicht zu. Die Ästhetik nun, die von
dieser Ansicht ausgeht, besteht dermalen noch nicht. Sie kann
schlechterdings bezeichnet werden als «Ästhetik der Goetheschen
Weltanschauung»; und sie ist die Ästhetik der Zukunft.

ÜBER DEN GEWINN UNSERER ANSCHAUUNGEN


VON GOETHES NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN
DURCH DIE PUBLIKATIONEN DES GOETHE-ARCHIVS

Die Fragen, die sich dem Betrachter von Goethes naturwissen-


schaftlichen Schriften aufdrängen, waren nach dem bisher vor-
liegenden Materiale nicht leicht zu beantworten. Der Grund hier-
von ist darinnen zu suchen, daß wir es nur auf dem Gebiete der
Farbenlehre mit einem völlig ausgearbeiteten, nach allen Seiten
hin abgeschlossenen Werke des Dichters aus dem Kreise der Natur-

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Wissenschaft zu tun haben. Aus den anderen Teilen derselben lie-
gen nur mehr oder weniger ausgeführte Aufsätze vor, die zu den
verschiedensten Problemen Stellung nehmen, von denen aber nicht
zu leugnen ist, daß sie scheinbar schwer zu vermittelnde Wider-
sprüche darbieten, wenn es sich darum handelt, eine allseitig um-
fassende Anschauung von Goethes Bedeutung auf diesem Gebiete
zu gewinnen. Die wichtigsten Punkte, die hierbei in Betracht kom-
men, wurden daher von den sich an der Sache beteiligenden For-
schern in der denkbar verschiedensten Weise aufgefaßt. War
Goethe Deszendenztheoretiker? Nahm er eine wirkliche Um-
wandlung der Arten an, und welchen Ursachen schrieb er sie zu?
Dachte er bei seinem «Typus» an ein sinnenfällig-reales Wesen
oder an eine Idee? Das sind Fragen, über die wir in den letzten
Jahrzehnten von verschiedenen Seiten einander völlig widerspre-
chende Antworten hören konnten. Von der Behauptung, daß
Goethe bei seinem «Typus» nur an einen abstrakten Begriff
im platonischen Sinne gedacht habe, bis zu jener, daß er als ein
echter Vorgänger Darwins anzusehen sei, fanden alle Zwischen-
stufen ihre Vertreter. Während ihn die einen verlästerten als
einen Menschen, der über die Natur bloß phantasiert habe, stimm-
ten die ändern sein Lob an, weil er zuerst jene Richtung in der
Naturwissenschaft eingeschlagen habe, die heute als die allein zum
Ziele führende angesehen wird.

Man muß gestehen, daß die Verteidiger aller dieser Ansichten


für ihre jeweiligen Ausführungen Belegstellen aus Goethes Wer-
ken genugsam aufzubringen wußten. Dabei darf freilich nicht
übersehen werden, daß in jedem Falle nur das gerade Passende
ausgewählt und andere Stellen, die zu einer gegenteiligen Mei-
nung berechtigen, einfach verschwiegen wurden. Wir sind weit
davon entfernt, daraus irgend jemandem einen Vorwurf zu machen,
haben vielmehr die Überzeugung, daß das bisher Vorliegende eine
widerspruchsfreie Auffassung der Sache äußerst schwierig machte,
wenn wir auch die Unmöglichkeit einer solchen nicht zugeben
können.

Für alle jene, die ein Interesse an dieser Seite Goetheschen


Schaffens haben, mußte nach diesem Stande der Dinge in dem

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Augenblicke, als die Schätze des Goethe-Archivs zugänglich wur-
den, die Frage entstehen: bieten die hinterlassenen Papiere des
Dichters hier eine Ergänzung? Der Schreiber dieser Zeilen findet
nun bei einem eingehenden Studium derselben, daß uns aus ihnen
gerade in bezug auf die oben angegebenen Gesichtspunkte die
überraschendsten Aufschlüsse werden, die ganz geeignet sind, eine
volle Befriedigung in dieser Richtung herbeizuführen.

Die hohe Besitzerin des Archivs, die Frau Großherzogin von


Sachsen, hat mir gnädigst gestattet, die vorhandenen Materialien
zum Behufe einer vorläufigen orientierenden Arbeit auf diesem
Gebiete zu benützen, und so ist denn dieser Aufsatz entstanden,
zu dem die notwendigen Beweismittel unter fortwährender liebe-
voller Mithilfe des Direktors des Goethe- und Schiller-Archivs,
Prof. Suphan, aus den Schätzen des Archivs ausgewählt wurden.

Wir wollen hier von der Farbenlehre und den geologischen und


meteorologischen Schriften vorläufig absehen und uns auf die
morphologischen Arbeiten beschränken, die ja für die angedeute-
ten Probleme die allerwichtigsten sind. Zweck unserer Ausfüh-
rungen soll sein, in allgemeinen Umrissen zu zeigen, was wir von
der Publikation der noch ungedruckten Aufsätze und Fragmente
Goethes auf diesem Gebiete für die Klarstellung von des Dichters
Bedeutung im Bereiche der Wissenschaft des Organischen zu
erwarten haben. Wir werden so viel wie möglich vermeiden, auf
zeitgenössische Ansichten über diese Dinge einzugehen, und uns
jeder Polemik enthalten. Für diesmal möge es genügen, die An-
sichten Goethes, ohne alle Seitenblicke auf andere, rein an sich
selbst darzustellen.

Vor allen übrigen Dingen müssen wir aber einen Irrtum zu-


rückweisen, der tief eingewurzelt ist und mit dem Goethe schon
bei seinen Lebzeiten vielfach zu kämpfen hatte. Derselbe gipfelt
in der Annahme, daß der Dichter zu seinen wissenschaftlichen
Ergebnissen nicht durch methodische, folgerichtige Gedanken-
arbeit, sondern «im flüchtigen Vorübergehen», durch einen «glück-
lichen Einfall» gekommen sei. Goethe hat die «Geschichte seiner
botanischen Studien» hauptsächlich aus dem Grunde ausführlich
beschrieben, weil er «anschaulich machen» wollte, wie er «Ge-

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legenheit gefunden, einen großen Teil seines Lebens mit Neigung
und Leidenschaft auf Naturstudien zu verwenden».*

Man kann sich keine bessere Illustration dieses letzten Satzes


denken als die im Archive aufbewahrten Blätter, die uns einen
Einblick gewähren in den Gang von Goethes botanischen Arbei-
ten während seiner italienischen Reise. Wir sehen aus denselben,
wie er sich durch unzählige Beobachtungen und durch gewissen-
hafte an den Naturobjekten angestellte Überlegungen zur end-
lichen Klarheit durchringt. Das sind Aufzeichnungen, die durch-
aus auf das Gegenteil von zufälligen Einfallen oder einem flüch-
tigen Vorübereilen deuten, sondern vielmehr auf sorgfältiges und
bedächtiges schrittweises Hinstreben zu den vorgezeichneten Zie-
len. Unermüdlich ist Goethe damit beschäftigt, Pflanzenexemplare
ausfindig zu machen, die in irgendeiner Weise geeignet sind, in
die Gesetze des Wachstums und der Fortpflanzung hineinzuleiten.
Besonders Charakteristisches wird gezeichnet, um im lebendigen
Nachbilden die Geheimnisse der Naturwirksamkeit zu entdecken.
Wir finden mit großer Vorsicht Beobachtungen notiert, die über
die Bedeutung der einzelnen Organe, über den Einfluß des Klimas
und der Umgebung der Pflanzen gemacht worden sind. Glaubte
Goethe irgendeinem Gesetze auf der Spur zu sein, so stellte er es
vorerst in hypothetischer Form auf, um es so als Leitfaden bei
weiteren Beobachtungen zu gebrauchen. Es soll auf diese Weise
entweder befestigt oder widerlegt werden. Solchen Hypothesen
teilt er eine ganz besondere Aufgabe bei der wissenschaftlichen
Forschung zu. Wir entnehmen darüber einer ungedruckten Auf-
zeichnung folgendes: «Hypothesen sind Gerüste, die man vor dem
Gebäude aufführt und die man abträgt, wenn das Gebäude fertig
ist; sie sind dem Arbeiter unentbehrlich; nur muß er das Gerüste
nicht für das Gebäude ansehen.»

Diese Worte bezeichnen seine wissenschaftliche Gesinnung, die


sich wohl davor hütet, eine flüchtige Bemerkung für ein Natur-
gesetz hinzunehmen.

* Siehe den Schluß des Aufsatzes: «Geschichte meines botanischen Stu-


diums», in Kürschners «Deutsche National-Literatur», Goethes Werke,
Band XXXIII, S. 84.

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Die Blätter, auf denen Goethe seine naturwissenschaftlichen
Notizen während der italienischen Reise machte, gehörten kleinen
Heftchen an, die aber auseinandergerissen vorgefunden wurden,
gleich ändern Papieren mit Aufzeichnungen aus derselben Zeit,
zum Beispiel solchen zur «Nausikaa». Die letzteren wurden von
Prof. Suphan immer zu dem jeweiligen Zwecke geordnet; ein
gleiches ist nun auch mit den zur Naturwissenschaft gehörigen
geschehen.

Goethe blieb mit seinen Beobachtungen oft ziemlich lange im


Dunkeln, und er wollte das, um eine möglichst breite Basis für
seinen theoretischen Aufbau zu gewinnen. Er studiert die Vor-
gänge der Keimung, der Befruchtung, beobachtet die verschiede-
nen Formen der Organe und deren Verwandlungen. Wir können
Sätze, die später integrierende Teile seiner Metamorphosenlehre
geworden sind, hier in diesen Papieren in ihrer ersten Gestalt, wie
er sie gleichsam an den Naturvorgängen unmittelbar abliest, sehen,
zum Beispiel: «Die Pflanze muß eine Menge wäßriger Feuchtig-
keit haben, damit die Öle, die Salze sich darinnen verbinden kön-
nen. Die Blätter müssen diese Feuchtigkeit abziehen, vielleicht
modifizieren.» Oder:

«Was das Erdreich der Wurzel ist, wird nachher die Pflanze


den feinern Gefäßen, die sich in die Höhe entwickeln und aus der
Pflanze die feinern Säfte aussaugen.»

«Aloe ... werden die Blätter durch die Luft ausgedehnt und ver-


drängen die Zwischenräume ... unter der Erde sind die Blätter
klein, die Zwischenräume größer.»

Nachdem Goethe sich auf diese Weise durch eine Reihe von


Beobachtungen durchgearbeitet hat, drängt sich ihm seine spätere
Anschauung als Hypothese auf. Wir finden auf einem Blatte die
Notiz: «Hypothese. Alles ist Blatt und durch diese Einfachheit
wird die größte Mannigfaltigkeit möglich.»

Diese Hypothese verfolgt er nun weiter. Wo ihn ein Erfah-


rungsfall über irgend etwas im unklaren läßt, da notiert er ihn
gewissenhaft, um an einem günstigeren sich den nötigen Auf-
schluß zu holen. Solchen unklar gebliebenen und für zukünftige
Beobachtungen aufgesparten Fragen begegnen wir sehr häufig.

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Jedenfalls liefern diese Blätter den Beweis, daß eine lange Ge-
dankenarbeit und eine nicht kleine Summe von Erfahrungen hin-
ter Goethe lagen, als er endlich Mitte 1787 die Hypothese von
der Urpflanze zur entschiedenen Überzeugung erhob. Wie er die-
selbe nun weiter verfolgte, die eingeschlagene Betrachtungsart
auch auf die übrigen Organismen ausdehnte und 1790 den ersten
Versuch in dieser Richtung veröffentlichte, habe ich in der Ein-
leitung zu meiner Ausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen
Schriften (Goethes Werke, in Kürschners «Deutsche National-
Literatur», Band XXXIII) ausführlich dargestellt.

Hier wollen wir uns sogleich zu der Frage wenden: was ver-


steht Goethe unter «Urpflanze»? Er schreibt am 17. April 1787 in
Palermo über dieselbe die Worte nieder: «Eine solche muß es
doch geben; woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder
jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem
Muster gebildet wären.»* Dieser Satz liefert den Beweis, daß
unter der Urpflanze jenes Etwas zu verstehen ist, welches dem
menschlichen Geiste als das Gleiche in allen den für die sinnen-
fällige Anschauung verschiedenen Pflanzenformen entgegentritt.
Wir wären nicht imstande zu erkennen, daß alle diese Formen
zusammengehören, daß sie ein Naturreich bilden, wenn wir die
«Urpflanze» nicht erfassen könnten.

Wenn wir uns dies vergegenwärtigen, so können wir uns auch


sogleich einen Begriff davon machen, was sich Goethe unter Er-
fahrung dachte. Er wollte nicht nur das sorgfältig beobachten, was
der Sinneswahrnehmung erreichbar ist, sondern er strebte zugleich
nach einem geistigen Inhalte, der ihm gestattete, die Objekte der-
selben ihrer Wesenheit nach zu bestimmen. Diesen geistigen In-
halt nun, wodurch ihm ein Ding heraustrat aus der Dumpfheit
des Sinnendaseins, aus der Unbestimmtheit der äußeren Anschau-
ung und zu einem bestimmten wurde (Tier, Pflanze, Mineral),
nannte er Idee. Nichts anderes kann man aus den oben angeführ-
ten Worten herauslesen, und wir sind außerdem noch imstande,
unsere Behauptung durch folgenden bisher ungedruckten Aus-

* Siehe Italienische Reise (Kürschners «Deutsche National-Literatur»),


Goethes Werke, Band XXI, I. Abteilung, S. 336.

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Spruch zu erhärten: «Durch die Pendelschläge wird die Zeit, durch
die Wechselbewegung von Idee zu Erfahrung die sittliche und
die wissenschaftliche Welt regiert.»

Was sollte Goethe mit diesen Worten meinen, wenn nicht


dieses, daß die Wissenschaft sich mit der Erfahrung nicht begnü-
gen kann, sondern über diese hinaus zur Idee fortschreiten muß?
Die Idee soll ja bestimmen, was das Erfahrungsobjekt ist; sie kann
also nicht mit demselben identisch sein. Daß nun Goethe dem
Geiste eine wesentlich tätige Rolle bei Hervorbringung der Ideen
zuschrieb, geht aus folgender interessanten Einteilung der Wissens-
arten hervor:

«Um uns in diesen verschiedenen Arten* einigermaßen zu


orientieren, wollen wir sie einteilen in: Nutzende, Wissende, An-
schauende und Umfassende.

  1. Die Nutzenden, Nutzensuchenden, Fordernden sind die ersten,
    die das Feld der Wissenschaft gleichsam umreißen, das Praktische
    ergreifen. Das Bewußtsein durch Erfahrung gibt ihnen Sicherheit,
    das Bedürfnis eine gewisse Breite.

  2. Die Wißbegierigen bedürfen eines ruhigen, uneigennützigen
    Blickes, einer neugierigen Unruhe, eines klaren Verstandes und
    stehen immer im Verhältnis mit jenen; sie verarbeiten auch nur
    im wissenschaftlichen Sinne dasjenige, was sie vorfinden.

  3. Die Anschauenden verhalten sich schon produktiv, und das
    Wissen, indem es sich selbst steigert, fordert, ohne es zu bemer-
    ken, das Anschauen und geht dahin über, und so sehr sich auch
    die Wissenden vor der Imagination kreuzigen und segnen, so
    müssen sie doch, ehe sie sichs versehen, die produktive Einbildungs-
    kraft zu Hilfe rufen.

  4. Die Umfassenden, die man in einem stolzern Sinne die Er-
    schaffenden nennen könnte, verhalten sich im höchsten Grade pro-
    duktiv; indem sie nämlich von Ideen ausgehen, sprechen sie die
    Einheit des Ganzen schon aus, und es ist gewissermaßen nach-
    her die Sache der Natur, sich in diese Idee zu fügen.»

* der Menschen nach den Arten ihres Wissens und ihres Verhaltens zur
Außenwelt.

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Was auf der obersten Stufe des Erkennens eigentlich erst in die
Rätsel der Natur hineinführen soll, das muß der Geist schaffend
den Dingen der Sinneswahrnehmung entgegenbringen. Ohne diese
produktive Kraft bleibt unsere Erkenntnis auf einer der unteren
Stufen stehen.*

Goethe stellt sich somit unter der Urpflanze eine Wesenheit


vor, die in unserem Geist nicht gegenwärtig werden kann, wenn
sich derselbe bloß passiv der Außenwelt gegenüber verhält. Was
aber nur durch den menschlichen Geist in die Erscheinung treten
kann, muß deshalb noch nicht notwendig aus dem Geiste stam-
men. Hier liegt nämlich eine irrtümliche Auffassung sehr nahe.
Es ist für die Mehrzahl der Menschen unmöglich, sich vorzustellen,
daß etwas, zu dessen Erscheinung durchaus subjektive Bedingun-
gen notwendig sind, doch eine objektive Bedeutung und Wesen-
heit haben kann. Und gerade von dieser letzteren Art ist die «Ur-
pflanze». Sie ist das objektiv in allen Pflanzen enthaltene Wesent-
liche derselben; wenn sie aber erscheinendes Dasein gewinnen soll,
so muß sie der Geist des Menschen frei konstruieren.

Aber im Grunde ist diese Auffassung nur eine Fortbildung der


Ansicht, welche die moderne Naturwissenschaft auch auf dem
Gebiete der Sinnesempfindung vertritt. Ohne die Konstitution und
Wirksamkeit des Auges gäbe es keine Farbenempfindung, ohne
die des Ohres keinen Ton. Dennoch wird niemand behaupten
wollen, daß nicht Farbe und Ton ihre durchaus objektive Bedeu-
tung und Wesenheit haben. Wie man sich das nun näher vor-
stellen will: ob man als Anhänger der Undulationshypothese
Schwingungen der Körperteile und des Äthers beziehungsweise
der Luft als die objektive Wesenheit von Farbe und Ton ansieht,
oder ob man einer anderen Ansicht zuneigt, ist hier ohne Belang.

* Wenn auch die obigen Zeilen nicht aus der Zeit stammen, in der


Goethe anfing, Naturwissenschaft zu treiben, sondern wahrscheinlich aus
dem Ende der neunziger Jahre, so können wir sie doch mit Recht an die-
ser Stelle anführen. Denn sie wurden eben in jener Epoche niedergeschrie-
ben, wo der Dichter sich bereits seiner Forschung gegenüber reflektierend
verhielt, wo er sein eigener Ausleger wurde. Sie sind also gerade dazu ge-
eignet, zu zeigen, wie Goethe sein Verhalten der Natur gegenüber auf-
gefaßt wissen will.

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Wir legen nur Wert darauf, daß, trotzdem der moderne Physio-
loge überzeugt ist, daß die Sinnesempfindung nur durch die Tätig-
keit
des entsprechenden Sinnesorgans ins erscheinende, für uns
wahrnehmbare Dasein treten kann, er keinen Augenblick behaup-
ten wird, Farbe, Ton, Wärme und so weiter seien lediglich sub-
jektiv, seien ohne entsprechendes Korrelat im Reich des Objek-
tiven. Aber Goethes Gedanke des organischen Typus ist nur die
konsequente Ausdehnung dieser Auffassung von der subjektiven
Erzeugung des Erscheinungsdaseins auf ein Gebiet, in dem die
bloße Sinneswahrnehmung nicht mehr ausreicht, um zu Erkennt-
nissen zu gelangen.

Die Sache bietet auf diesem Gebiete nur deshalb dem Verständ-


nisse Schwierigkeiten, weil auf jener Stufe des menschlichen Auf-
fassungsvermögens, auf der Ideen hervorgebracht werden, bereits
das Bewußtsein beginnt. Wir wissen nun, daß wir eine tätige
Rolle beim Ergreifen der Ideen spielen, während die Tätigkeit des
Organismus da, wo derselbe die Sinnesempfindung vermittelt, eine
völlig unbewußte ist. Dieser Umstand ist aber für die Sache selbst
ganz ohne Belang. So wie Farbe, Ton, Wärme und so weiter in
rerum natura eine objektive Bedeutung haben, trotzdem sie ohne
die subjektive Tätigkeit unserer Sinneswerkzeuge nicht eine Be-
deutung für uns gewinnen können, so haben die Ideen einen ob-
jektiven Wert, obwohl sie nicht ohne die eigene Tätigkeit des
Geistes in denselben eintreten können.

Es ist eben durchaus notwendig, daß alles, was in unserem Be-


wußtsein auftreten soll, erst durch unseren physischen oder psy-
chischen Organismus hindurchgeht.

Dies vorausgesetzt, erkennen wir, daß im Sinne der Goetheschen


Denkart ein fortwährendes Abwechseln zwischen dem Zufluß des
durch die Sinne gelieferten Materiales und des frei von der Ver-
nunft erschaffenen Typischen und ein Durchdringen dieser beiden
Produkte im Geiste des Forschers stattfinden muß, wenn eine be-
friedigende Lösung der Probleme der Naturwissenschaft möglich
sein soll. Dieses Abwechseln vergleicht Goethe mit einer Systole
und Diastole des Geistes, deren fortwährendes Übergehen ineinan-
der er bei jedem wahren Naturforscher voraussetzt. Er sagt: «Es

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müsse in dem Geiste des wahren Naturforschers sich immerfort
wechselweise wie eine sich im Gleichgewicht bewegende Systole
und Diastole ereignen.»

Das bis jetzt Gesagte liefert uns nun auch die Möglichkeit,


darüber zu entscheiden, ob es der Auffassung Goethes gemäß ist,
die Urpflanze oder das Urtier mit irgendeiner zu einer be-
stimmten Zeit vorgekommenen oder noch vorkommenden sinn-
lich-realen organischen Form zu identifizieren. Darauf kann nur
mit einem entschiedenen «Nein» geantwortet werden. Die «Ur-
pflanze» ist in jeder Pflanze enthalten, kann durch die konstruk-
tive Kraft des Geistes aus der Pflanzenwelt gewonnen werden;
aber keine einzelne individuelle Form darf als typisch angespro-
chen werden.

Nun ist aber gerade die «Urpflanze» (oder auch das «Urtier»)


dasjenige, was jede einzelne Form zu dem macht, was sie ist; sie
ist das Wesentliche. Das müssen wir festhalten, wenn wir in
Goethes Absichten vollständig eindringen wollen.

Das Gesetzmäßige des Organischen darf nicht auf demselben
Gebiete gesucht werden wie das des Unorganischen.
In der Wis-
senschaft der unorganischen Natur habe ich meine Aufgabe voll-
kommen erfüllt, wenn es mir gelungen ist, das, was ich mit den
Sinnen wahrnehme, nach seinem ursächlichen Zusammenhange zu
erklären. Im Organischen muß ich solche Tatsachen der Erklärung
unterwerfen, die für die Sinne nicht mehr wahrzunehmen sind.
Wer an einem Lebewesen nur das betrachten und zur Erklärung
herbeiziehen wollte, was er an demselben mit den Sinnen wahr-
nimmt, der genügte vor dem Forum Goethescher Wissenschaftlich-
keit nicht.

Man hat vielfach behauptet, das Organische sei nur dann zu


erklären, wenn man die Gesetze des Anorganischen einfach in das
Reich des Belebten herübernehme. Die Versuche, eine Wissen-
schaft der Lebewesen auf diese Weise zu begründen, sind auch
heute noch auf der Tagesordnung. Es war aber Goethes großer
Gedankenflug, der ihn erkennen ließ, daß man auch dann an der
Möglichkeit einer Erklärung des Organischen nicht zu zweifeln
brauche, wenn sich die anorganischen Naturgesetze hierzu als un-

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zulänglich erweisen sollten. Soll denn unsere Fähigkeit zu erklären
nur so weit reichen, als wir die Gesetze des Anorganischen an-
wenden können? Was Goethe wollte, war nichts anderes, als: alle
dunklen und unklaren Vorstellungen wie Lebenskraft, Bildungs-
trieb und so weiter aus der Wissenschaft verbannen und für sie
Naturgesetze auffinden. Aber er wollte für die Organik Gesetze
suchen, wie man sie für die Mechanik, Physik, Chemie gefunden
hat, nicht einfach die in diesen ändern Gebieten vorhandenen her-
übernehmen. Der zerstört das Reich des Organischen, der es ein-
fach in das des Unorganischen aufgehen läßt. Goethe wollte eine
selbständige Organik, die ihre eigenen Axiome und ihre eigene
Methode hat. Dieser Gedanke setzte sich immer mehr bei ihm fest,
und «Morphologie» wurde ihm allmählich der Inbegriff alles
dessen, was zu einer befriedigenden Erklärung der Lebenserschei-
nungen aufgebracht werden muß. So lange man nicht alle Be-
wegungserscheinungen aus Naturgesetzen ableiten konnte, gab es
keine Mechanik; so lange man die einzelnen Orte, welche die
Himmelskörper einnehmen, nicht durch gesetzliche Linien zu-
sammenzufassen imstande war, gab es keine Astronomie; so lange
man die Lebensäußerungen nicht in Form von Prinzipien aufzu-
fassen in der Lage ist, gibt es keine Organik, sagte sich Goethe.
Eine Wissenschaft, die das Organische in seinem Zentrum erfaßt
und die Gesetze seiner verschiedenen Gestaltungen bloßlegt,
schwebte ihm vor. Nicht die Formen der Organe allein, nicht den
Stoffwechsel und seine Gesetze für sich, nicht die anatomischen
Tatsachen für sich wollte er erfassen; nein, er strebte nach einer
Totalauffassung des Lebens, aus der sich alle jene Teilerscheinun-
gen ableiten lassen. Er will eine Wissenschaft, zu der sich Natur-
geschichte, Naturlehre, Anatomie, Chemie, Zoonomie, Physiologie
nur wie vorbereitende Stufen verhalten. Eine jede von diesen ge-
nannten Wissenschaften behandelt ja nur eine Seite des Natur-
körpers; aber alle zusammen, bloß als Summe gedacht, erschöpfen
das Leben doch auch nicht. Denn dieses ist wesentlich mehr als die
Summe seiner Einzelerscheinungen. Wer mit Hilfe der genannten
Einzelwissenschaften alle Seiten des organischen Seins begriffen
hat, dem fehlt noch immer die lebendige Einheit. Diese zu er-

275


fassen ist nach Goethes Ansicht die Aufgabe der Morphologie im
weiteren Sinne.

Die Naturgeschichte hat die Aufgabe, die «Kenntnis der orga-


nischen Naturen nach ihrem Habitus und nach dem Unterschied
ihrer Gestaltverhältnisse» zu vermitteln; der Naturlehre obliegt
die «Kenntnis der materiellen Naturen überhaupt als Kräfte und
in ihren Ortsverhältnissen»; die Anatomie sucht die «Kenntnis
der organischen Naturen nach ihren inneren und äußeren Teilen,
ohne aufs lebendige Ganze Rücksicht zu nehmen»; die Chemie
strebt nach «Kenntnis der Teile eines organischen Körpers, inso-
fern er aufhört, organisch zu sein, oder insofern seine Organi-
sation nur als Stoff-hervorbringend und als Stoff-zusammen-
gesetzt angesehen wird»; von der Zoonomie wird verlangt: die
«Betrachtung des Ganzen, insofern es lebt und diesem Leben eine
besondere physische Kraft untergelegt wird», von der Physiologie
die «Betrachtung des Ganzen, insofern es lebt und wirkt», von der
Morphologie im engern Sinne «Betrachtung der Gestalt sowohl in
ihren Teilen als im Ganzen, ihren Übereinstimmungen und Ab-
weichungen ohne alle andere Rücksichten». Die Morphologie im
weitern und im Goetheschen Sinne aber will: «Betrachtung des
organischen Ganzen durch Vergegenwärtigung aller dieser Rück-
sichten und Verknüpfung derselben durch die Kraft des Geistes.»*

Goethe ist sich dabei voll bewußt, daß er die Idee einer «neuen


Wissenschaft» nach «Ansicht und Methode» aufstellt. Nicht neu
ist sie allerdings dem Inhalte nach, «denn derselbe ist bekannt».
Das heißt aber nichts anderes, als er ist, rein tatsächlich genom-
men, derselbe, der in den vorher charakterisierten Hilfswissenschaf-
ten dargelegt wird. Neu aber ist die Art, wie dieser Inhalt in den
Dienst einer Gesamterfassung der organischen Welt gestellt wird.

Das ist wieder wichtig für die Bestimmung des Goetheschen


«Typus». Denn der Typus, das Gesetzliche im Organischen, ist ja
der Gegenstand seiner Morphologie im weitern Sinne. Was die
sieben Hilfswissenschaften zu leisten haben, das liegt im Bereich

* Diese Sätze sind einem erhaltenen Manuskript entlehnt, das in großen


Zügen die Idee einer solchen Morphologie skizziert und offenbar einer sol-
chen als Einleitung dienen sollte.

276


des Sinnlich-Erreichbaren. Ja, eben deswegen, weil sie in dem
Gebiete des Sinnlich-Erreichbaren bleiben, können sie nicht über
die Erkenntnis von einzelnen Seiten des Organischen hinaus-
kommen.

So sehen wir uns denn durchaus gezwungen anzuerkennen, daß


Goethe der organischen Welt eine Gesetzmäßigkeit zuschrieb, die
sich mit derjenigen nicht deckt, welche wir an den Erscheinungen
der unorganischen Natur beobachten. Wir können uns dieselbe
nur durch eine freie Konstruktion des Geistes vergegenwärtigen,
da sie sich mit dem, was wir am Organismus sinnenfällig wahr-
nehmen, nicht deckt.

Nun fragt es sich: wie verhält sich Goethe unter solchen Vor-


aussetzungen zu der Mannigfaltigkeit der organischen Arten?

Diese Frage kann nicht beantwortet werden, ohne vorher das


Verhältnis des Typus (Urpflanze, Urtier) zu dem einzelnen Indi-
viduum festgestellt zu haben. «Das Individuum ist kein Einzelnes,
sondern eine Mehrheit.»* Und zwar eine Mehrheit von äußerlich
voneinander durchaus verschiedenen Einzelheiten. Wie ist das nun
möglich? Wie kann das Verschiedene doch eine Einheit sein?
Oder im Speziellen: wie kann ein und dasselbe Organ einmal als
Stengelblatt, dann wieder als Blumenblatt oder als Staubgefäß er-
scheinen? Wer die Einheit im Sinne eines abstrakten Begriffes,
eines Schemas oder dergleichen faßt, kann das freilich nicht be-
greifen. Aber das ist sie im Goetheschen Sinne nicht. Da ist sie
eine Gesetzmäßigkeit, die als solche die Form, in der sie sich für
die Sinnenwelt äußert, noch vollständig unbestimmt läßt. Eben
weil der eigentliche Kern, der tiefere Gehalt dieser Gesetzlichkeit
nicht in dem aufgeht, was sinnenfällig wird, kann er sich in ver-
schiedenen
sinnlichen Formen äußern und doch immer derselbe
bleiben. Es ist vielmehr der organischen Gesetzlichkeit bei ihrem
Auftreten als äußere Erscheinung ein unendliches Feld geöffnet,
wie das möglich ist. Da aber die Stoffe und Kräfte der unorga-
nischen Natur in den Dienst dieser Gesetzmäßigkeit treten müssen,
wenn überhaupt reale Organismen entstehen sollen, so folgt von

* Siehe: Goethes naturwissenschaftliche Schriften (Kürschners «Deutsche


National-Literatur»), Goethes Werke, Band XXXIII, S. 9.

277


selbst, daß nur jene Formen möglich sind, die den in jenen Stoffen
und Kräften liegenden Bedingungen nicht widersprechen. Und in-
soferne sind die Kräfte und Stoffe der unorganischen Natur nega-
tive Bedingungen des organischen Lebens. Dieses bringt sich durch
sie und in ihren Formen zur Geltung, so gut sie es zulassen. Damit
ist aber schon die Notwendigkeit einer unendlichen Mannigfaltig-
keit organischer Formen gegeben. Denn diese Äußerlichkeit des
Daseins ist nichts, was in einem eindeutigen Zusammenhange mit
der inneren Gesetzlichkeit stünde Ja, man wird von diesem Stand-
punkte aus sogar die Frage aufwerfen können: wie kommt es, daß
es überhaupt Arten gibt, daß nicht jegliches Individuum von jeg-
lichem anderen verschieden ist? Darauf wollen wir noch zurück-
kommen. Jedenfalls steht fest, daß die charakterisierte Anschauung
Goethes von konstanten Formen des Organischen nicht sprechen
kann, weil das, was einer Form die Bestimmtheit gibt, nicht aus
dem fließt, was sie zur organischen Form macht. Nur derjenige
kann eine Konstanz der Form annehmen, der in dieser Form ein
Wesentliches sieht.

Was aber einer Sache nicht wesentlich ist, das braucht sie auch


nicht unbedingt beizubehalten. Und damit ist die Möglichkeit der
Umwandlung bestehender Formen abgeleitet. Mehr aber konnte
vom Standpunkte Goethes aus nicht gegeben werden als eine Ab-
leitung dieser Möglichkeit. Die empirischen Beobachtungen dazu
hat Darwin geliefert. Das ist ja immer die Beziehung zwischen
Theorie und Erfahrung, daß die letztere zeigt, was ist und ge-
schieht, und die erstere die Möglichkeit darlegt, inwieferne solches
sein und geschehen kann.

Jedenfalls kann auf Grund des im Goethe-Archiv vorhandenen


Materiales an kein anderes als an dieses Verhältnis Goethes zu
Darwin gedacht werden.

Wer nun aber die organischen Formen für wandelbar ansieht,


an den tritt die Aufgabe heran: die zu einer Zeit tatsächlich be-
stehenden zu erklären, das heißt die Ursachen anzugeben, warum
sich unter den von ihm vorausgesetzten Verhältnissen doch be-
stimmte Formen entwickeln und ferner jene: den Zusammenhang
dieser bestehenden Formen untereinander darzulegen.

278


Dies war Goethe vollständig klar, und wir ersehen aus den
hinterlassenen Papieren, daß er bei der beabsichtigten Weiter-
führung seiner morphologischen Arbeiten daran dachte, seine An-
schauungen nach dieser Richtung hin auszugestalten. So enthält
ein Schema zu einer «Physiologie der Pflanzen» folgendes:

«Die Metamorphose der Pflanzen, der Grund einer Physiologie


derselben. Sie zeigt uns die Gesetze, wonach die Pflanzen gebildet
werden.

Sie macht uns auf ein doppeltes Gesetz aufmerksam:



  1. Auf das Gesetz der innern Natur, wodurch die Pflanzen kon-
    stituiert werden.

  2. Auf das Gesetz der äußern Umstände, wodurch die Pflanzen
    modifiziert werden.

Die botanische Wissenschaft macht uns die mannigfaltige Bil-
dung der Pflanze und ihrer Teile bekannt, und von der ändern Seite
sucht sie die Gesetze dieser Bildung auf.

Wenn nun die Bemühungen, die große Menge der Pflanzen in


ein System zu ordnen nur den höchsten Grad des Beifalls verdie-
nen, wenn sie notwendig sind, die unveränderlichen Teile von den
mehr oder weniger zufälligen und veränderlichen abzusondern und
dadurch die nächste Verwandtschaft der verschiedenen Geschlech-
ter immer mehr und mehr ins Licht setzen: so sind die Bemühun-
gen gewiß auch lobenswert, welche das Gesetz zu erkennen trach-
ten, wonach jene Bildungen hervorgebracht werden; und wenn es
gleich scheint, daß die menschliche Natur weder die unendliche
Mannigfaltigkeit der Organisation fassen, noch das Gesetz, wonach
sie wirkt, deutlich begreifen kann, so ist's doch schön, alle Kräfte
aufzubieten und von beiden Seiten, sowohl durch Erfahrung als
durch Nachdenken, dieses Feld zu erweitern.»

Jede bestimmte Pflanzen- und Tierform ist nach Goethes Auf-


fassungsweise also aus zwei Faktoren zu erklären: aus dem Gesetz
der innern Natur und aus dem Gesetz der Umstände. Da nun
aber diese Umstände an einem bestimmten Orte und in einer be-
stimmten Zeit eben gegebene sind, die sich innerhalb gewisser
Grenzen nicht verändern, so ist es auch erklärlich, daß die orga-
nischen Formen innerhalb dieser Grenzen konstante bleiben. Denn

279


diejenigen Formen, die unter jenen Umständen möglich sind,
finden eben in den einmal entstandenen Wesen ihren Ausdruck.
Neue Formen können nur durch eine Veränderung dieser Um-
stände bewirkt werden. Dann aber haben diese neuen Umstände
nicht allein sich dem Gesetze des Inneren der organischen Natur
zu fügen, sondern auch mit den schon entstandenen Formen zu
rechnen, denen sie gegenübertreten. Denn was in der Natur ein-
mal entstanden ist, erweist sich fortan in dem Tatsachenzusammen-
hange als mitwirkende Ursache. Daraus ergibt sich aber, daß den
einmal entstandenen Formen eine gewisse Kraft, sich zu erhalten,
innewohnen wird. Gewisse einmal angenommene Merkmale wer-
den noch in den fernsten Nachkommen bemerkbar sein, wenn sie
auch aus den Lebensverhältnissen dieser Wesen durchaus sich
nicht erklären lassen. Es ist dies eine Tatsache, für die man in
neuerer Zeit das Wort Vererbung gebraucht. Wir haben gesehen,
daß in der Goetheschen Anschauungsweise ein begrifflich strenges
Korrelat für das mit diesem Worte Verbundene gefunden werden
kann.

Ein besonderes Licht wirft auf diese Auffassung aber noch die


Art, wie Goethe sich die Fortpflanzung der Organismen mit ihren
übrigen Entwickelungsprinzipien im Zusammenhange dachte. Er
stellte sich nämlich vor, daß mit dem, was wir als Individuum an-
nehmen, die innere Entwickelungsfähigkeit eines organischen We-
sens noch nicht abgeschlossen ist, sondern daß die Fortpflanzung
einfach nur die Fortsetzung und ein spezieller Fall dieser Ent-
wickelungsfähigkeit ist. Das, was sich auf einer niederen Stufe als
Wachstum äußert, ist auf einer höheren Stufe Fortpflanzung.
Goethe hatte schon die Ansicht, daß die Zeugung nur ein Wachs-
tum des Organismus über das Individuum hinaus sei.

Auch das läßt sich aus seinen eigenen Aufzeichnungen nach-


weisen: «Wir haben gesehen, daß sich die Pflanzen auf verschie-
dene Art fortpflanzen, welche Arten als Modifikationen einer ein-
zigen Art anzusehen sind. Die Fortpflanzung wie die Fortsetzung,
welche durch die Entwickelung eines Organs aus dem ändern ge-
schieht, hat uns hauptsächlich in der Metamorphose beschäftigt.
Wir haben gesehen, daß diese Organe, welche selbst von äußerer

280


Gleichheit bis zur größten Unähnlichkeit sich verändern, innerlich
eine virtuelle Gleichheit haben...»

«Wir haben gesehen, daß diese sprossende Fortsetzung bei den


vollkommenen Pflanzen nicht ins Unendliche fortgehen kann, son-
dern daß sie stufenweise zum Gipfel führt und gleichsam am ent-
gegengesetzten Ende seiner Kraft eine andere Art der Fortpflan-
zung, durch Samen, hervorbringt.»

Hier sieht also Goethe die Fortsetzung von Glied zu Glied bei


einer und derselben Pflanze und die Fortpflanzung durch Samen
nur als zwei verschiedene Arten einer und derselben Tätigkeit an.

«An allen Körpern, die wir lebendig nennen, bemerken wir die


Kraft ihresgleichen hervorzubringen», sagt Goethe; diese Kraft
schließt aber gewissermaßen ihren Kreis auch während des Wachs-
tums eines Individuums mehrmals ab, denn: Goethe will den «Be-
weis» erbringen, daß «von Knoten zu Knoten der ganze Kreis der
Pflanze im wesentlichen geendigt sei»; wenn wir dann «diese
Kraft geteilt gewahr werden, bezeichnen wir sie unter dem Namen
der beiden Geschlechter». Von dieser Anschauung ausgehend, skiz-
ziert er den Gang seines Vortrages über Wachstum und Fortpflan-
zung folgendermaßen:

«Bei Betrachtung der Pflanze wird ein lebendiger Punkt an-


genommen, der ewig seinesgleichen hervorbringt.

Und zwar tut er es bei den geringsten Pflanzen durch Wieder-


holung eben desselbigen.

Ferner bei den vollkommenem durch progressive Ausbildung


und Umbildung des Grundorgans in immer vollkommenere und
wirksamere Organe, um zuletzt den höchsten Punkt organischer
Tätigkeit hervorzubringen, Individuen durch Zeugung und Geburt
aus dem organischen Ganzen abzusondern und abzulösen.

Höchste Ansicht organischer Einheit.»

Auch daraus erhellt, daß Goethe in der Fortpflanzung kein
wesentlich neues Element der Pflanzenentwickelung, sondern nur
eine höhere Modifikation des Wachsens sieht.

Die angeführte Stelle ist aber noch in anderer Beziehung be-


merkenswert. Goethe spricht darinnen von einem «organischen
Ganzen», aus dem sich die einzelnen Individuen absondern und

281


ablösen. Dieses zu verstehen, nennt er die «höchste Ansicht orga-
nischer Einheit».

Damit ist die Summe alles organischen Lebens als einheitliche


Totalität bezeichnet, und alle Einzelwesen sind dann nur als Glie-
der dieser Einheit zu bezeichnen. Wir haben es somit mit einer
durchgängigen Verwandtschaft aller Lebewesen im wahrsten Sinne
des Wortes zu tun. Und zwar mit einer tatsächlichen Verwandt-
schaft, nicht einer bloß ideellen. Die «organische Ganzheit» ist
eine einheitliche, die in sich die Kraft hat, ihresgleichen in immer-
währender äußerer Veränderung hervorzubringen; die Mannig-
faltigkeit der Formen entsteht, indem sie diese Hervorbringungs-
fähigkeit nicht nur über Individuen, sondern auch über Gattungen
und Arten hinaus fortsetzt.

Es ist nur im genauen Sinne der Goetheschen Ausführungen,


wenn man sagt: die Kraft, durch welche die verschiedenen Pflan-
zenfamilien entstehen, ist genau dieselbe wie jene, durch welche
ein Stengelblatt sich in ein Blumenblatt verwandelt. Und zwar ist
diese Kraft durchaus als reale Einheit und das Hervorgehen der
einen Art aus der ändern durchaus im realen Sinne vorzustellen.

Die organischen Arten und Gattungen sind auf eine wahrhafte


Deszendenz unter fortwährender Veränderung der Formen zurück-
zuführen. Goethes Anschauung ist eine Deszendenztheorie mit
einer tiefen theoretischen Grundlage.

Man darf nun aber keineswegs denken, daß die folgenden Ent-


wickelungsformen in den früheren schon angedeutet liegen. Denn,
was sich durch alle Formen hindurchzieht, ist eben die ideelle or-
ganische Gesetzlichkeit, bei der von jenen Formen gar nicht
gesprochen werden kann. Gerade weil das Wesen des Organischen
mit der Art, wie es in Formen auftritt, nichts zu tun hat, kann es
sich in denselben realisieren, ohne sie aus sich heraus zu wickeln.
Die organische Wesenheit bildet die Form nicht aus sich heraus,
sondern sich in dieselbe hinein. Deswegen kann diesen Formen
keinerlei Präexistenz, auch nicht der Anlage nach, zukommen.
Goethe war deshalb ein Gegner jener Einschachtelungslehre,
welche annahm, daß die ganze Mannigfaltigkeit des Organischen
schon im Keime, aber verborgen, enthalten sei.

282


«Dieses Viele* in Einem sukzessiv und als eine Einschachtelung
zu denken, ist eine unvollkommene und der Einbildungskraft wie
dem Verstand nicht gemäße Vorstellung, aber eine Entwickelung
im höhern Sinne müssen wir zugeben: das Viele im Einzelnen, am
Einzelnen; und setzt uns (so) nicht mehr in Verlegenheit.»

Entwickelung besteht eben darinnen, daß sich eine Einheit fort-
bildet und daß die Formen, die sie dabei annimmt, als etwas ganz
Neues an ihr auftreten. Dies rührt daher, weil diese Formen nicht
dem einheitlichen Entwickelungsprinzipe angehören, sondern dem
Mittel, dessen sich dasselbe bedient, um sich zu manifestieren. Die
Entwickelungsformen müssen alle ideell aus der Einheit erklärbar
sein, wenn sie auch nicht reell aus derselben hervorgehen. Daß
Goethe nur an dieses ideelle Enthaltensein dachte, beweist zum
Beispiel die Behauptung, daß «diese verschiedenen Teile aus einem
idealen Urkörper entsprungen und nach und nach in verschiede-
nen Stufen ausgebildet gedacht werden...»

Das nächste, was sich nach den obigen Sätzen uns aufdrängen


muß, ist, zu erfahren, in welcher Weise die beiden Faktoren:
inneres Bildungsprinzip und äußere Bedingungen an dem Zu-
standekommen einer organischen Form beteiligt sind. Denn nur
wenn der rechtmäßige Anteil von beiden Seiten gegeben ist, kann
man von einer tatsächlichen Erklärung einer solchen Form
sprechen.

Zweifellos muß man die äußeren Bedingungen zuerst einmal


ihrer realen Wirklichkeit nach durch Erfahrung kennen. Goethe
zählt unter diesen Bedingungen auf: Temperatur eines Landes,
Menge des Sonnenlichtes, Beschaffenheit der Luft der Umgebung
und anderes mehr. Die Beobachtung zeigt uns, daß sich unter dem
Einflüsse einer gewissen Tatsachenreihe eine bestimmte Form
bildet. Goethe sagt, daß der Typus eine gewisse «Einschränkung»
erfährt. Haben wir aber auf diese Weise erkannt, daß unter ge-
wissen äußeren Einflüssen irgendeine Form entsteht, dann stehen
wir erst vor dem Problem: dieselbe zu erklären, zu sagen, wie sie
entstehen konnte. Und da müssen wir die Idee des Typus als Er-
klärungsprinzip zugrunde legen. Wir müssen aus der allgemeinen

* Die Mannigfaltigkeit der Organe und Organismen.

Form des Typus diese besondere vorliegende abzuleiten imstande
sein. Wenn wir nicht zu sagen vermögen: wie der spezielle Fall
mit dem allgemeinen des Typus zusammenhängt, wenn wir nicht
in der Lage sind zu sagen: durch diese oder jene Wirkungsform
hat sich der Typus gerade in der individuellen Weise ausgebildet,
dann ist das Wissen der äußern Bedingungen wertlos.

Diese Bedingungen geben die Gelegenheitsursache ab, daß das


Organische in bestimmter Weise erscheint; die Kenntnis der
innern Gesetzlichkeit gibt die Erklärung, wie gerade diese be-
stimmte Wirklichkeitsform entstehen konnte. Goethe sagt darüber
in nicht mißzuverstehender Weise, die Form eines Organismus sei
durch «Wechselwirkung der lebendigen Teile nur aus sich selbst
zu erklären». Und als Methode der Erklärung empfiehlt er in be-
stimmtester Weise sehr oft: sich in Kenntnis der äußern Um-
stände zu setzen und dann nach den innern Bedingungen zu
fragen, die als Gestaltungsprinzip unter dem Einflüsse derselben
auftreten.

Eine Erklärung, welche nur die äußeren Einflüsse als causa der


organischen Verwandlungen gelten lassen wollte, würde Goethe
also entschieden zurückweisen müssen.

Wir haben uns darauf beschränkt, Goethes Ansicht einfach hin-


zustellen. Wie sich dieselbe zum Darwinismus in seiner gegen-
wärtigen Form verhält: darüber sich ein Urteil zu bilden, über-
lassen wir diesmal dem Leser.* Wir wollen nur zum Schlüsse noch
ein Wort über die Methode sagen, durch die Goethe zu seinen
Resultaten gelangt. Goethes naturwissenschaftliche Ansichten be-
ruhen auf idealistischen Forschungsresultaten, die auf einer empi-
rischen Basis ruhen.** Der Typus ist ein solches idealistisches
Forschungsresultat. Wir wissen aus jenem vielangeführten Gespräch

* Ausgeführt, freilich damals ohne die Materialien des Goethe-Archivs


zu kennen, haben wir dieses Verhältnis in den Einleitungen zu Goethes
naturwissenschaftlichen Schriften (Kürschners «Deutsche National-Litera-
tur»), Goethes Werke, Band XXXIII und XXXIV.

** Die nähere Bestimmung und der Beweis dieses Satzes sind zu er-


sehen aus Goethes Werken (Kürschners «Deutsche National-Literatur»),
Band XXXIV, S. XXXVII ff.

284


mit Schiller, daß Goethe den empirischen Charakter dieses «Ty-
pus» entschieden betonte.* Er wurde ärgerlich, als Schiller ihn
eine «Idee» nannte. Es war das in jener Zeit, wo ihm die ideelle
Natur desselben selbst noch nicht recht klar war. Er war sich da-
mals nur bewußt, daß er zu seiner «Urpflanze» durch sorgfältige
Beobachtung gekommen war. Daß er aber gerade auf diese Weise
zu einer «Idee» gelangt ist, das erkannte er noch nicht. Er hielt
noch an der Ansicht der einseitigen Empiriker fest, welche glau-
ben, das Beobachtbare erschöpfe sich in den Gegenständen der
äußeren Sinneswahrnehmung. Aber gerade Schillers Bemerkung
veranlaßte ihn, über diesen Punkt weiter nachzudenken. Er sagte
sich: «Wenn er das für eine Idee hielt, was ich als Erfahrung aus-
sprach, so mußte doch zwischen beiden irgend etwas Vermitteln-
des, Bezügliches obwalten! Der erste Schritt war getan.»** Nämlich
der erste Schritt, um durch weiteres Nachdenken zu einer befrie-
digenden Lösung der Frage zu kommen: wie sind die Ideen des
Typus (Urpflanze, Urtier) festzuhalten, wenn man streng auf dem
Boden der Beobachtung, der Erfahrungswissenschaft stehenbleiben
will? Wie ist der Einklang zwischen der Methode und dem Grund-
charakter des Resultates herzustellen? Durch gewöhnliches Beob-
achten der Dinge kommen wir doch nur zur Kenntnis von bloßen
individuellen Einzelheiten und zu keinen Typen. Welche Modifi-
kation hat das Beobachten zu erleiden? Goethe mußte zu einer
«Theorie der Beobachtung» getrieben werden. Es sollte festgestellt
werden: wie muß man beobachten, um wissenschaftlich verwert-
bare Resultate im obigen Sinne zu erhalten? In dieser Unter-
suchung hatte Goethe nur einen Vorgänger, dessen Denkweise
aber der seinigen ziemlich fremd war: Francis Bacon. Dieser hat
gezeigt, wie man den Erscheinungen der Natur gegenübertreten
müsse, um nicht zufällige, wertlose Tatsachen zu erhalten, wie sie
sich der gewöhnlichen naiven Anschauung darbieten, sondern Re-
sultate mit dem Charakter der Notwendigkeit und Naturgesetz-
lichkeit. Goethe versuchte dasselbe auf seinem Wege. Bisher ist

* Siehe den Aufsatz: «Glückliches Ereignis» (Kürschners «Deutsche


National-Literatur»), Goethes Werke, Band XXXIII, S. 108-113.
** Siehe «Glückliches Ereignis», a.a.O., S. 112.

785


als Frucht dieses Nachdenkens nur der Aufsatz: «Der Versuch als
Vermittler von Objekt und Subjekt» bekannt.* Nun erfahren wir
aber aus einem Briefe Goethes an Schiller vom 17. Januar 1798**,
daß der erstere seinem Schreiben einen Aufsatz beilegt, der die
Prinzipien seiner naturwissenschaftlichen Forschungsweise enthält.
Ich vermutete aus Schillers Antwort vom 19. Januar 1798, daß die-
ser Aufsatz wichtige Aufschlüsse über die Frage enthalten müsse,
wie sich Goethe den Grundbau der Naturwissenschaft gedacht
habe, und versuchte dann in der Einleitung meines zweiten Bandes
von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften*** denselben nach
Schillers Ausführungen zu rekonstruieren. Zu meiner besonderen
Befriedigung fand sich nun dieser Aufsatz genau in der von mir
vorher konstruierten Form im Goethe-Archiv vor. Er gibt tatsäch-
lich über die Grundansichten Goethes über die naturwissenschaft-
liche Methodik und über die Bedeutung und den Wert verschie-
dengearteter Beobachtungen eingehende Aufschlüsse. Der Forscher
müsse sich erheben vom gemeinen Empirismus durch das Zwi-
schenglied des abstrakten Rationalismus zum rationellen Empiris-
mus. Der gemeine Empirismus bleibt bei dem unmittelbaren Tat-
bestand der Erfahrung stehen; er kommt nicht zu einer Schätzung
des Wertes der Einzelheiten für eine Auffassung der Gesetzlich-
keit. Er registriert die Phänomene nach ihrem Verlaufe, ohne zu
wissen, welche von den Bedingungen, die dabei in Betracht kom-
men, notwendig und welche zufällig sind. Er liefert daher kaum
mehr als eine Beschreibung der Erscheinungswelt. Er weiß immer
nur, was vorhanden sein muß, damit eine Erscheinung eintrete,
aber er weiß nicht, was wesentlich ist. Daher kann er die Phäno-
mene nicht als eine notwendige Folge ihrer Bedingungen dar-
stellen. Das nächste ist, daß der Mensch über diesen Standpunkt
hinausgeht, indem er an den Verstand appelliert und so auf dem
Wege des Denkens sich über die Bedingungen klar werden will.

* Siehe Goethes Werke (Kürschners «Deutsche National-Literatur»),


Band XXXIV, S. 10-21.

** Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, 2. Band, S. 10 ff.

*** Goethes Werke (Kürschners «Deutsche National-Literatur»), Band
XXXIV, S. XXXIX ff.

286


Dieser Standpunkt ist wesentlich jener der Hypothesenbildung.
Der Rationalist sucht die Ursachen der Erscheinungen nicht; er
ersinnt sie; er lebt in dem Glauben, daß man durch Nachdenken
über eine Erscheinung herausfinden könne, warum sie erfolgt. Da-
mit kommt er natürlich ins Leere. Denn unser Verstand ist ein
bloß formales Vermögen. Er hat keinen Inhalt außer jenem, den
er sich durch Beobachtung erwirbt. Wer unter Voraussetzung die-
ser Erkenntnis doch nach einem notwendigen Wissen strebt, der
kann dem Verstande dabei nur eine vermittelnde Rolle zuer-
kennen. Er muß ihm das Vermögen zugestehen, daß er die Ur-
sachen der Erscheinungen erkennt, wenn er sie findet; nicht aber
jenes, daß er sie selbst ersinnen könne. Auf diesem Standpunkte
steht der rationelle Empiriker. Es ist Goethes eigener Standpunkt.
«Begriffe ohne Anchauungen» sind leer, sagt er mit Kant; aber er
setzt hinzu: sie sind notwendig, um den Wert der einzelnen An-
schauungen für das Ganze einer Weltanschauung zu bestimmen.
Wenn nun der Verstand in dieser Absicht an die Natur herantritt
und diejenigen Tatsachenelemente zusammenstellt, welche einer
inneren Notwendigkeit nach zusammengehören, so erhebt er sich
von der Betrachtung des gemeinen Phänomens zum rationetten
Versuch, was unmittelbar ein Ausdruck der objektiven Natur-
gesetzlichkeit ist. Goethes Empirismus entnimmt alles, was er zur
Erklärung der Erscheinungen heranzieht, aus der Erfahrung; nur
die Art, wie er es entnimmt, ist durch seine Anschauung bestimmt.
Jetzt begreifen wir vollständiger, wie er die oben mitgeteilten
Worte über seine beabsichtigte Morphologie sprechen konnte, daß
sie die Idee einer «neuen Wissenschaft» enthalte «nicht dem In-
halt», sondern «der Ansicht und Methode» nach.*

Der in Rede stehende Aufsatz ist also die methodologische


Rechtfertigung von Goethes Forschungsweise. Er ergänzt in dieser
Beziehung alles, was Goethe über Naturwissenschaft geschrieben
hat, denn er sagt uns, wie wir es aufzufassen haben.

* Vgl. Goethes Brief an Hegel vom 7.Oktober 1820 (Fr.Strehlke, Goethes


Briefe, Erster Teil, S. 240): «Es ist hier die Rede nicht von einer durch-
zusetzenden Meinung, sondern von einer mitzuteilenden Methode, deren
sich ein jeder als eines Werkzeugs nach seiner Art bedienen möge.»

287


Mit diesen Ausführungen wollten wir vorläufig auf die erfreu-
liche Tatsache hingewiesen haben, daß durch das Material des Ar-
chives die wissenschaftliche Ansicht Goethes nach zwei Seiten hin
in ein helleres Licht gerückt wird: erstens werden die bisher be-
merkbaren Lücken in seinen Schriften ausgefüllt, und zweitens
wird die Art seines Forschens und sein ganzes Verhalten zur Natur
neu beleuchtet.

Die Frage: was suchte Goethe in der Natur und Naturwissen-


schaft, ohne deren Beantwortung das Verständnis der ganzen Per-
sönlichkeit des Menschen doch nicht möglich ist, wird nach der
Publikation der «naturwissenschaftlichen Abteilung» in der Wei-
marer Goethe-Ausgabe in einer ganz anderen Form beantwortet
werden müssen, als dies bisher häufig geschah.

EDUARD VON HARTMANN


Seine Lehre und seine Bedeutung

Dem Philosophen obliegt es, nach einem oft wiederholten Aus-


spruche, den Kulturgehalt seiner Zeit in der Form des reinen Ge-
dankens auszusprechen. Wie der Künstler anstrebt, dasjenige, was
in der Tiefe des Volks- und Zeitbewußtseins an Ideen, Gefühlen
und sonstigem Lebensinhalt waltet, in sinnlich-anschaulicher Form
zum Ausdrucke zu bringen, so sucht der Philosoph die Gesamtheit
alles dessen, was seine Zeit und sein Volk beherrscht und belebt,
in begrifflicher, denkender Weise darzustellen. Kuno Fischer sagt
in seinem geistreichen Werke «Geschichte der neueren Philo-
sophie» : «Wenn wir ein Kultursystem oder ein Zeitalter mit einer
Bildsäule vergleichen wollen, so bildet darin die Philosophie das
sinnende Auge, welches nach innen schaut.» Ohne diesen leben-
digen Bezug zum Zeitalter, ohne den Drang, das, was sich im
Leben unter hin- und herwogenden Kämpfen und in der Unruhe
des Tages abspielt, in ruhiger Klarheit denkend zu durchdringen,

288


um so wieder befruchtend auf dasselbe zurückzuwirken, kann der
Philosoph dem Schicksale nicht entgehen, auf seiner einsamen
Höhe ein wertloses Dasein zu führen.

Wenige der namhaften Philosophen haben ihre Aufgabe in der


eben gekennzeichneten Weise so trefflich angefaßt wie unser
großer Zeitgenosse Eduard von Hartmann. Während wir ihn auf
der einen Seite mit den tiefsten Geheimnissen des Weltbaues und
den Rätseln des Lebens ringen sehen, verschmäht er es auf der
ändern nicht, sich mit den schwebenden Fragen des Tages, mit
den Bestrebungen der Parteien und den Interessen des Staates
gründlich auseinanderzusetzen. Die sozialpolitischen Strömungen
der Gegenwart, die Irrtümer der liberalen Parteigänger, die militä-
rischen und kirchenpolitischen Fragen, die Schul- und Studien-
reform, die nationalen und demokratischen Ideen nehmen sein
Interesse nicht weniger in Anspruch als die modernen Kunst-
bestrebungen, die Frauenfrage und das literarische Getriebe unse-
rer Zeit. Ja, auch in verfänglichen Dingen, wie in bezug auf Spiri-
tismus, Hypnotismus und Somnambulismus, hat er ein offenes,
rückhaltloses Wort gesprochen; und als die Polenfrage in Deutsch-
land auf die Tagesordnung kam, war er der erste, der für jene
Lösung sich schriftstellerisch einsetzte, die später Bismarck als die
richtige vertreten hat. Und dabei ist es nicht etwa eine einmal
zurechtgelegte Schablone, mit der er wie so viele Philosophen in
den Streit der Meinungen sich mischt, sondern es sind immer die
in den Dingen liegenden und aus einem gründlichen Studium der
Tatsachen hervorgehenden Gründe, die ihn leiten. Wie Hartmann
aus dem vollen eines schier unermeßlichen Wissens schöpft, über
welche Summe von Kenntnissen er verfügt, das zu beurteilen, dazu
muß man einmal das Glück gehabt haben, ihm persönlich gegen-
über getreten zu sein. Daß aber diese Art des Wirkens nur eine
Konsequenz seiner wissenschaftlichen Überzeugung ist, das wollen
wir im Verlaufe dieses Aufsatzes zeigen.

Die Folge dieser in der Geschichte des Geisteslebens seltenen


Erscheinung ist nun aber auch eine ganz unglaubliche Wirkung
derselben. E. v. Hartmann steht heute im neunundvierzigsten
Lebensjahre, auf dem Gipfel der Schaffenskraft und Schaffensfreu-

289


digkeit, vieles noch versprechend (sein erstes Auftreten fällt in
das Jahr 1868), und schon besitzen wir eine Literatur über ihn, die
unübersehbar ist. Anders spiegelt sich die Bedeutung eines Men-
schen im Bewußtsein der Zeitgenossen, anders in dem der Nach-
welt. Die ersteren können kaum den rechten Maßstab der Beurtei-
lung finden. Der künftige Geschichtsschreiber des geistigen Lebens
in Deutschland in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhun-
derts wird Hartmann ein großes Kapitel widmen müssen. Wir
wollen zuerst die geschichtliche Stellung des Hartmannschen Ideen-
kreises kennzeichnen und dann auf die einzelnen Hauptgebiete
seiner Tätigkeit eingehen.

In den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts war die deutsche


Philosophie an einem bedenklichen Punkte ihrer Entwickelung
angelangt. Die Zuversicht, mit welcher die Schüler Hegels nach
dem Tode des Meisters (1830) auftraten, war einer vollständigen
Entmutigung auf dem Gebiete dieser Wissenschaft gewichen. Von
Hegel ausgehend, hatte man gehofft, ein Netz von unbedingt
gewissen Erkenntnissen über alle Zweige des Wissens auszubrei-
ten, aber die Hegelianer waren bald nicht mehr imstande, sich
mit der Fülle des sich nach und nach häufenden Materials von
tatsächlichen Ergebnissen der Forschung auseinanderzusetzen. Sie
gaben Stück für Stück von ihrem Lehrgebäude auf, suchten da und
dort zu bessern und die überkommene Lehre der neuen Lage der
Erfahrungswissenschaften anzupassen. Die meisten aber suchten
sich vollständig von dem Glauben ihrer Jugend loszumachen
und betrachteten, wie zum Beispiel der Ästhetiker Vischer, ihre
Hegeische Periode nur als Zeit der Schulung ihres philosophi-
schen Denkens. Auf den Kathedern herrschte vollständige Zerfah-
renheit und Ratlosigkeit. Während die eine Gruppe von Berufs-
philosophen vorläufig jede Aussicht auf Erfolg im Ausbaue einer
Weltansicht aufgab und sich bloß der Bearbeitung von Spezial-
fragen zuwendete, verlegte sich eine andere auf eine ziemlich un-
fruchtbare Fortbildung der in antediluvianischen Vorurteilen
steckengebliebenen Herbartschen Denkweise. Die Vertreter der
Erfahrungswissenschaften aber sahen mit Verachtung auf alle
Philosophie herab, die nach ihrer Ansicht nur mit wertlosen Phan-

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tasiegebilden sich zu tun mache. Die große Masse der Gebildeten
endlich befriedigte ihr philosophisches Bedürfnis aus der Weltauf-
fassung eines bis dahin fast unbeachtet gebliebenen und für ein
ernstes, gründliches Betreiben der Wissenschaft tatsächlich bei-
nahe unbrauchbaren Denkers: Schopenhauers. Die schlimmen Er-
fahrungen, die Schopenhauer mit seinem Erstlingswerke, dem ein-
zigen von ihm, das für die Wissenschaft größere Bedeutung hat:
«Über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde», bei den
Fachgelehrten gemacht hatte, führte ihn zu immer bedenklicheren
Abwegen. Er machte nunmehr aus persönlichen Ansichten und
subjektiven Erfahrungen philosophische Lehrsätze und opferte in
«Parerga und Paralipomena» die Wahrheit vollständig einem
geistreichelnden, das Publikum bestechenden Stile auf. Seine Aus-
führungen wurden deshalb mit Gier ergriffen, weil man sich auf
leichte Weise aus seinen Schriften, die in entsprechender Form
nichts als philosophische Trivialitäten boten, mit den zum Tages-
gebrauche nötigen Phrasen versehen konnte.

Das war die Lage der Philosophie, als Hartmann auf den Plan


trat (1868). Er tat es gleich mit dem unerläßlichen Selbstvertrauen
in die Waffen seines Denkens und im Vollbesitze der zu seiner
Zeit vorhandenen Erkenntnisse der Einzelwissenschaften. Er er-
kannte, daß von Hegel weder alles anzunehmen noch alles zu ver-
werfen sei. Er schälte den bleibenden Kern der Hegeischen Welt-
anschauung aus ihrer schädlichen Hülle heraus und fing an, ihn
weiter zu bilden. Er trennte vollständig die Methode von den Er-
gebnissen der Hegeischen Philosophie und erklärte: das Gute bei
Hegel sei ohne, ja gegen seine Methode gefunden, und das, was
die letztere allein geliefert, sei von zweifelhaftem Werte. Die
Methode bedurfte nach seiner Ansicht einer gründlichen Reform.
Und hier war es, wo er den Bund mit der Naturwissenschaft ein-
ging. Die Forderung, wissenschaftliche Ergebnisse nur auf dem
Wege der Beobachtung zu suchen, welche die Naturforscher im-
mer energischer erhoben, wurde auch die seinige auf philosophi-
schem Gebiete. «Metaphysische Resultate nach naturwissenschaft-
lich-induktiver Methode» wurde das Motto seines im Jahr 1869 in
Berlin erschienenen Hauptwerkes «Philosophie des Unbewußten».

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Aber er vertrat die Anschauung, daß auch Hegel zu seinen wirk-
lich wertvollen Ergebnissen durch eben dieselbe Methode gekom-
men war, ja daß man zu positiven wissenschaftlichen Sätzen über-
haupt nur auf diese Weise gelangen kann. Hartmanns strenge
Konsequenz behütete ihn jedoch, von dieser Methode aus zu den
einseitigen Anschauungen zu kommen, welche die Naturwissen-
schaften der Zeit kennzeichnen. Wie kann man behaupten, daß
die Beobachtung nichts liefere, als was die Sinne wahrnehmen,
was Augen sehen, Ohren hören und so weiter, fragte er sich? Ist
das Denken nicht ein über alle Sinne hinausgehendes Auffas-
sungsorgan? Sollte sich die Wirklichkeit in dem Rohstofflichen
erschöpfen? Öffnet eure Sinne der Wirklichkeit, aber tut das nicht
minder mit eurem vernünftigen Denken, so rief er den Natur-
forschern zu, dann werdet ihr finden, daß es eine höhere Wirk-
lichkeit gibt, als die ihr für die allein wahre haltet!

Hegel war von keinem geringeren Durste nach Wirklichkeit


beseelt als ein moderner Naturforscher, aber sein auf Höheres
gerichteter Sinn offenbarte ihm auch eine höhere Wirklichkeit.
In dieser Lage befand sich auch ein E. v. Hartmann. Er ging von
der Ansicht aus, daß sich nicht alles, was uns in der Welt ent-
gegentritt, aus Ursachen erklären lasse, die wir mit den Sinnen
wahrnehmen. Schon wenn wir einen Stein zur Erde fallen sehen,
schreiben wir die Ursache der Anziehungskraft der Erde zu, die
wir aber nicht mehr wahrnehmen, sondern nur im Denken erfas-
sen können. Und erst, wenn wir einen Organismus in seiner Ent-
wickelung vom Ei bis zu seiner Vollendung verfolgen! Wer wollte
da sein Erklärungsbedürfnis befriedigen, ohne zu der Auffassung
seine Zuflucht zu nehmen, daß hier Kräfte walten, die wir uns
nur im Gedanken vergegenwärtigen können. Es wird uns bei einer
solchen Betrachtung des Organismus klar, daß wir eine einheit-
liche gedankliche Grundlage voraussetzen müssen, wenn wir unser
Erkenntnisbedürfnis befriedigen wollen. Wir müssen im Denken
und aus dem Denken etwas zu der Wahrnehmung hinzufügen,
wenn wir die Sache verstehen wollen. Was wir da hinzufügen,
kann natürlich nur ein Gedanke, eine Idee sein. Wie wir aber in
unserem Denken eine Idee brauchen, um die Vorstellung zum


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