Rudolf steiner



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ten bezögen. «Es ist nichts besonderes dabei, sich einen Menschen


zu denken, der irgendein äußeres Objekt aufmerksam beobachtet.
Aber die Vorstellung eines solchen, der in die Selbstbeobachtung
vertieft ist, wirkt fast mit unwiderstehlicher Komik. Seine Situa-
tion gleicht genau der eines Münchhausen, der sich an dem
eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehen will.» Dieses Urteil ist zwei-
fellos einseitig. Aber es ist durchaus begreiflich bei dem Führer
der experimentellen Seelenforschung. Kraepelin, der Herausgeber
der «Psychologischen Arbeiten», kennzeichnet Wundts Verdienste
gewiß richtig, wenn er sagt: «Wir sind geneigt, das Bestehen einer
physiologischen Psychologie als etwas so Selbstverständliches hin-
zunehmen, daß es stellenweise schon in Vergessenheit zu geraten
beginnt, welchen ungeheuren Einfluß gerade erst Wundts zusam-
menfassende und anregende Tätigkeit auf den Ausbau alter und
die Entstehung neuer psychologischer Forschungsgebiete ausgeübt
hat.» Es ist unbedingt richtig, daß die Selbstbeobachtung eine
reiche Quelle von Irrtümern ist. Aber ebenso zweifellos ist es, daß
uns nichts intimer, unmittelbarer bekannt ist als gerade unser
eigenes Innere. Was wir auch sonst beobachten mögen: es bleibt
uns ein Äußeres. Wir können nicht in seinen Kern dringen. Im
Kreise unserer seelischen Erscheinungen stehen wir mitten drinnen.
Sie stehen uns also nahe wie nichts anderes in der Welt. Sollte
das nicht zugleich die Ursache davon sein, daß wir bei der Beob-
achtung dieser Erscheinungen so vielen Fehlern ausgesetzt sind?
Objektivität und Unbefangenheit ist dem Nahen gegenüber ge-
wiß schwieriger als dem Entfernten gegenüber. Weil die Selbst-
beobachtung etwas so Unmittelbares ist, darum wird sie wohl auch
eine schwierige sein. Und es wäre wohl möglich, daß eine aus-
reichende Selbstbeobachtung nur derjenige üben könnte, der wohl-
geschult von ändern Beobachtungsfeldern kommt. Was Goethe
von der Natur im allgemeinen sagte: «Und was sie deinem Geist
nicht offenbaren mag, das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und
mit Schrauben», dies Wort muß besonders von der Natur der
Seele gelten. Es gibt aber weite Gebiete des Seelenlebens, denen
mit «Hebeln und Schrauben» so viel abzugewinnen ist, daß ihre
Gesetze uns in strengen Rechenformeln entgegentreten. - Auf

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mein Ohr wirkt ein Schalleindruck. Ich empfinde ihn. Meine Emp-
findung setzt meinen Willen in Bewegung. Ich fühle mich durch
den wahrgenommenen Schall veranlaßt, eine Handlung auszufüh-
ren. Der psychologische Experimentator bemächtigt sich dieses
Tatbestandes. Er schaltet in einen elektrischen Stromkreis eine
Uhr ein, deren Zeiger sich so lange bewegen, als auf irgendeine
Vorrichtung ein Druck ausgeübt wird. Es seien zwei solcher Vor-
richtungen in den Stromkreis eingeschaltet. Dann bewegt sich der
Zeiger nur so lange, als auf beide Vorrichtungen gedrückt wird.
Ein Beobachter mache nun folgendes. Er drücke auf die eine Vor-
richtung so lange, bis er einen bestimmten Schall wahrnimmt.
Dann lasse er los und drücke zugleich auf die zweite Vorrichtung.
Während er dies tut, bewegt sich der Zeiger. Es gibt also eine
Zeit, in der er auf beide Vorrichtungen drückt. Dies ist die Zeit,
die verflossen ist zwischen dem Empfang des Sinneseindruckes
und der Handlung, die auf diesen Eindruck folgt. Man findet, daß
ein Achtel bis ein Sechstel einer Sekunde verfließt von der Auf-
fassung einer Sinnesempfindung bis zu dem Augenblick, in wel-
chem der Mensch eine Bewegung auf diese Empfindung hin aus-
führen kann. Man erforscht durch ähnlich geistreiche Vorkehrun-
gen die Abnahme der Stärke einer Erinnerung mit der Zeit, die
verflossen ist, seit ein Eindruck dem Gedächtnisse einverleibt wor-
den ist; man kann erkennen, wie rasch sich eine neue Vorstellung
an eine alte angliedert; man kann ferner den Einfluß der Ermü-
dung, der Übung auf unser Seelenleben beurteilen und ähnliche
Erscheinungen in unerschöpflicher Fülle und Mannigfaltigkeit. In
einer stattlichen Reihe von Bänden hat Wundt als «Philosophische
Studien» Ergebnisse solcher Forschungen veröffentlicht, die von
ihm und seinen Schülern in der Mutteranstalt der Experimental-
psychologie, in seinem Leipziger Laboratorium, ausgeführt worden
sind. Eine Reihe deutscher und auswärtiger Hochschulen haben
sich nach dem Leipziger Muster ähnliche Anstalten eingerichtet.
Aus allen Teilen der gebildeten Welt fanden sich in Leipzig die
Schüler ein, die sich unter Wundts Führung die neuen Methoden
aneigneten. Und überallhin trugen sie die modernen psycholo-
gischen Untersuchungsweisen. In Kopenhagen und Jassy, in Ita-

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lien und Amerika lehrt man Experimentalpsychologie im Geiste
des Leipziger Forschers. Eine Anzahl bedeutender Gelehrter kann
namhaft gemacht werden, die mehr oder weniger selbständig ihren
psychologischen Laboratoriumsarbeiten obliegen und zu schönen
Ergebnissen gelangt sind. Carl Stumpf hat namentlich auf dem
Felde der Tonpsychologie, Hermann Ebbinghaus auf dem der Ge-
dächtniserscheinungen Wertvolles geleistet. Ernst Mach ist beson-
ders glücklich in der Vereinigung des Experimentes mit der geist-
vollen Erklärung desselben. Hugo Münsterberg, der lange in
Zürich gewirkt hat, wurde zur Pflege der neuen Wissenschaft
nach Cambridge berufen.

Es ist in einem kurzen Überblick unmöglich, auf alle die Per-


spektiven hinzuweisen, die durch die Experimentalpsychologie er-
öffnet werden. Unter vielem wird gewiß nicht das Unwichtigste
sein, was die Pädagogik von dem jungen Forschungszweige zu
lernen hat. Der Unterrichtende, der die Gesetze des jugendlichen
Seelenlebens zu lenken hat, wird sich künftig nach den experi-
mentell festgestellten Gesetzen dieses Seelenlebens zu richten ha-
ben. Er wird dem Gedächtnisse, der Übung nur so viel zuzutrauen
haben, als diese Seelenvermögen nach den psychologischen Ergeb-
nissen leisten können. — Und an die Psychiatrie stellt Kraepelin
die entschiedene Forderung, sich die Ergebnisse der Experimental-
psychologie zunutze zu machen. Dieser Forscher ist seit vielen
Jahren bemüht, die Frage zu beantworten, auf «welche Weise und
in welchem Umfange» dies möglich ist. Er ist der Meinung, daß
der Zeitpunkt gekommen sei, in dem die Psychiatrie mit den bis-
her gebräuchlichen Beobachtungsmethoden keinen weiteren Fort-
schritt machen kann. Es müssen zu diesen Methoden diejenigen
der frisch aufblühenden Experimentalseelenkunde treten. — Es ist
gerade das Zeugnis Kraepelins, auf das man sich gerne berufen
mag, wenn es auf die Würdigung der neuen Wissenschaft an-
kommt. Denn dieser besonnene und geistvolle Forscher ist auch
gegen die Schattenseiten nicht blind, welche dieser Wissenschaft
durch manche ihrer Vertreter eigen sind. «Wir müssen zugeben,
daß unter der Hochflut experimenteller Arbeiten, welche uns das
letzte Jahrzehnt gebracht hat, so manche den berechtigten Anfor-

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derungen nicht genügt, daß mit dem Weizen auch das Unkraut
vielfach üppig in Saat geschossen ist.» Ebenso wahr sind aber auch
die ändern Worte Kraepelins: «Gleichwohl dürfen wir heute mit
Sicherheit erwarten, daß die junge Wissenschaft diese Entwick-
lungskrankheit ohne Schaden überstehen und dauernd ihren selb-
ständigen Platz neben den übrigen Zweigen der Naturwissenschaft
und insonderheit der Physiologie zu behaupten imstande sein
wird.»

HERMAN GRIMM


Gestorben am 16. Juni 1901

Den 16. Juni ist Herman Grimm gestorben. Wer die Art seines


Geistes zu schätzen wußte, den überkam bei der Nachricht von
seinem Hingange das Gefühl, mit ihm ist eine der Persönlich-
keiten von uns geschieden, denen die, welche ihren Bildungsweg
im letzten Drittel des abgelaufenen Jahrhunderts zurückgelegt
haben, Unsagbares verdanken. Er war für uns die lebendige Ver-
mittlung mit dem Zeitalter Goethes. Die uns nachfolgen, werden
keine Zeitgenossen haben, die so über Goethe zu sprechen wissen
wie Herman Grimm. Wenn er auch bei Goethes Tode selbst erst
vier Lebensjahre zählte, so darf man doch von Herman Grimm
wie von einem Zeitgenossen Goethes sprechen. Er war der Schwie-
gersohn Bettinas, die ganz in Goethes Ideenwelt aufging und von
der wir das schöne Buch haben «Goethes Briefwechsel mit einem
Kinde». Und Herman Grimm selbst war ganz heimisch innerhalb
einer Vorstellungswelt, die ihre Nahrung aus einem unmittelbaren
persönlichen Verhältnis zu Goethe sog. Aus dieser Vorstellungsart
urteilte er über alle Dinge, nicht nur über Goethe selbst. Wie er
seine Bücher über Michelangelo, über Raphael schrieb, so konnte
sie nur ein Mann schreiben, der zu Goethe stand wie Herman
Grimm. Man wird auch anders über diese Genien urteilen kön-
nen, und man wird von anderen Kunstperspektiven und anderen

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Zeitbedürfnissen heraus anders urteilen müssen. Aber näher in der
Auffassungsweise wird ihnen kaum ein Zeitalter kommen können
als dasjenige Goethes. Daß sie in der Auffassung des Goethe-
Zeitalters geschrieben sind, das wird Herman Grimms Werken
für immer einen unvergleichlichen Wert geben.

Wer Herman Grimm persönlich kannte, hatte im höchsten


Maße die Empfindung, wie wenn durch diesen Mann noch Goethe
selbst mittelbar zu ihm spräche. — Diesen Eindruck hatte auch der,
dessen persönlicher Verkehr mit Herman Grimm sich über so
kurze Zeiträume beläuft wie der des Schreibers dieser Zeilen. Ich
denke oft an schöne Stunden, die ich in Weimar mit ihm verbrin-
gen durfte. Besonders lebhaft schwebt mir eine Unterredung vor,
die ich mit ihm allein hatte, als er mich einmal aufforderte, in
einem Weimarer Hotel an seinem Mittagsmahle teilzunehmen. Er
sprach von seiner Geschichte der deutschen Phantasie als von
einem Werke, in dem sich ihm zusammenfaßte, was er über den
Entwicklungsgang des deutschen Volkes gedacht hatte. Wie
wußte er doch auf die charakteristischen Stellen zu deuten, in
denen sich der Kulturgehalt einer Zeit wie in Brennpunkten sam-
melte. Man mochte selbst über irgend etwas mehr oder weniger
anders denken wie er: blitzschnell befiel einem bei jeder seiner
Ausführungen die Empfindung, daß sein Gesichtspunkt in irgend-
einer Weise berechtigt und im höchsten Maße bedeutend und
fruchtbar sei. Ich bin der Meinung, daß man durch nichts die
eigentliche Art der deutschen Kultur im zweiten Drittel des neun-
zehnten Jahrhunderts so vor seinen Augen sehen konnte, wie wenn
man Persönlichkeiten wie Herman Grimm sprechen hörte. Ich
habe noch einen Mann kennengelernt, bei dem Ähnliches zutraf,
meinen hochverehrten Lehrer Karl Julius Schröer. Er ist vor eini-
gen Monaten in Wien gestorben. Es ist mir ein Herzensbedürfnis,
bald das Bild dieser so verkannten Persönlichkeit, wie es in meiner
Seele lebt, zu zeichnen. In etwas anderer Art als Herman Grimm
lebte auch er ganz in der Vorstellungsart Goethes. Es liegt in der
Natur unseres Zeitalters, daß diejenigen, die nur um acht oder
zehn Jahre jünger sind als meine Altersgenossen, ein ganz anderes
Bild sich von solchen Persönlichkeiten machen müssen als wir.

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Im gewissen Sinne stand Herman Grimm den Grundbedürf-
nissen unserer Zeit ganz fern. Die sozialen Störungen unserer
Tage lagen von seinem Verständnis ab, und den Anschauungen
der Darwin und Haeckel gegenüber hat ihn wohl stets ein frö-
stelndes Gefühl ergriffen. Aber gerade deshalb - so paradox es
auf den ersten Blick erscheinen mag, wenn man solches sagt — ist
sein Buch über Goethe ein geschichtliches Dokument, wie es nicht
viele gibt. Es wird niemand mehr so über Goethe schreiben kön-
nen. Nicht unsere Gegenwartskultur und keine folgende wird das
möglich machen. Auf Goethes Generation mußte eine folgen, die
noch so viel von Goethe hatte, daß sie unbeirrt um alles Folgende
sein Bild festhalten konnte. Herman Grimm gehörte dieser Gene-
ration an. Was auch immer über Goethe noch gesagt wird,
Grimms «Goethe» kann nicht überholt werden. So wie er wird
keiner mehr über Goethe empfinden können; aber in diesen Emp-
findungen über Goethe lebte sich das Goethe-Zeitalter erst voll
aus.

Die sich im «eigentlichen Sinne» Gelehrte nennen, wollten


Herman Grimm nicht zu den Ihrigen zählen. Sie sprechen ihm
die «strenge Methode» ab. Er durfte darüber lächeln. Er wollte
nicht mit diesen «Gelehrten» verglichen sein und nicht zu ihnen
gezählt werden. Er wußte zu gut, wie es um die «Methode» steht.
Sie ist zumeist eine Krücke für alle diejenigen, die aus Mangel an
persönlicher Kraft nicht auf eigenen Füßen gehen können und
aus ihrer Eigenschaft heraus zu nichts kommen. Er wußte, daß
ihm nur Methode absprechen kann, wer «selbst nichts hat, als nur
Methode». Seine Überzeugung war: «Die Persönlichkeit des Ein-
zelnen innerhalb seines beschränkten Kreises wird immer das
Wertvolle bleiben.»

47l


III

Dr. RICHARD WÄHLE • GEHIRN UND BEWUSSTSEIN


Physiologisch-psychologische Studie. Wien 1884

Diese Schrift ist eine von jenen in unserer Zeit immer seltener


werdenden philosophischen Erscheinungen, die ein bestimmtes
wissenschaftliches Problem nicht vom Standpunkte irgendeiner
Schulrichtung, sondern selbständig und voraussetzungslos zu lösen
versuchen. Der Verfasser stellt sich die Aufgabe, die Bedeutung
der physiologischen Erforschung des Gehirnmechanismus für die
Erkenntnis der Bewußtseinserscheinungen darzulegen. Zunächst
widerlegt er die in naturwissenschaftlichen Kreisen heute allge-
mein geltende Ansicht, daß die uns unmittelbar durch die Sinne
gegebene Welt, dieser Komplex von Farben, Tönen, Gestalten,
Wärmedifferenzen und so weiter nichts weiter sei als die Wirkung
objektiver materieller Vorgänge auf unsere subjektive Organisa-
tion. Die Erscheinungswelt sei also im Grunde ein subjektiver
Schein, der nur so lange Bestand habe, als wir unsere Sinne den
Eindrücken der materiellen Prozesse offenhalten, wogegen diese
Prozesse selbst aus einer von uns ganz unabhängigen eigenen
Wirklichkeit gesättigt und so die wahre Ursache aller Natur-
erscheinungen seien. Wähle zeigt nun, daß den Vorgängen in der
Materie gar kein höherer Grad von Wirklichkeit zukommt als
jener angeblich von ihnen bewirkten subjektiven Welt. Wir müs-
sen beide als uns vorliegende Vorkommnisse betrachten, die uns
als zusammengehörig (koordiniert) gegenübertreten, ohne daß wir
berechtigt wären anzunehmen, das eine sei die wahre Ursache des
anderen. Es ist so, wie wir etwa Tag und Nacht als einander
koordiniert ansehen müssen, ohne daß das eine von beiden als
Wirkung des anderen betrachtet werden könnte. So wie hier die
notwendige Aufeinanderfolge in dem Bau und den Vorgängen
unseres Sonnensystems begründet liegt, so wird auch die Koordi-
nation eines materiellen Prozesses und einer Empfindungsqualität,
zum Beispiel Ton, Farbe und so weiter, von irgendeinem wahr-
haften Tatbestand bedingt sein; jedenfalls aber nicht davon, daß
der erstere die letztere bewirkt. Nun ergibt sich die Zusammen-

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gehörigkeit von Gehirnmechanismus und Bewußtsein nur als ein
spezieller Fall einer solchen Koordination. Wir sind, nach Wähle,
nur in der Lage wahrzunehmen, daß beide parallel verlaufende
Vorkommnisse sind; wir sind aber nicht berechtigt, das Bewußt-
sein als reale Folge des Gehirnmechanismus anzusehen. Die Phy-
siologie behält recht, wenn sie die materiellen Korrelate zu den
geistigen Phänomenen sucht; aber die materialistische Phantastik,
die den Geist zum wahrhaften Produkte des Gehirns machen will,
erhält den Abschiedsbrief. Ja, jener arbeitet Wähle sogar entgegen,
indem er zeigt, daß die bisher in der Psychologie als selbständige
Akte des Bewußtseins geltenden Phänomene, wie Anerkennen,
Verwerfen, Lieben, Wünschen, Wollen und so weiter, nichts
anderes sind als miteinander oder mit anderen koordinierte Vor-
kommnisse, die gar nicht die Annahme einer besonderen subjek-
tiven Tätigkeit, welche der Physiologie ungünstig wäre, nötig
machen. Die Bewußtseinsphänomene führt der Verfasser auf ein
allgemeines Gesetz zurück, wodurch eine Vorstellung durch eine
ihr nicht ganz, sondern teilweise gleiche in das Bewußtsein zurück-
gerufen werden kann. So wäre es bloß Aufgabe der Physiologie,
für diesen psychologischen Befund den korrespondierenden mecha-
nischen Tatbestand im Gehirne zu finden, was gewiß leichter ist,
als wenn das für jeden der obenangeführten angeblichen Bewußt-
seinsakte geschehen müßte.

Die Hauptbedeutung dieses Werkchens liegt darin, einmal in


scharfen Konturen gezeigt zu haben, was uns eigentlich die Er-
fahrung gibt und was oft zu ihr nur hinzugedacht wird. Alles,
was die einzelnen Wissenschaften finden können, besteht nur in
dem Konstatieren zusammengehöriger Vorkommnisse, wobei wir
voraussetzen müssen, daß die Hinzugehörigkeit selbst in irgend-
einem wahrhaften Tatbestande gegründet liege. Wir halten das
von dem Verfasser Vorgebrachte für durchaus überzeugend, glau-
ben jedoch, daß er die letzte Konsequenz seiner Ansichten nicht
gezogen hat. Sonst hätte er wohl gefunden, daß uns jene wahr-
haften Tatbestände selbst als erfahrungsmäßige Vorkommnisse -
nämlich die ideellen — gegeben sind und daß die Negation des
Materialismus folgerichtig zum wissenschaftlichen Idealismus führt.

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Sehen wir somit eigentlich in dem Fortschreiten von der durch-
aus soliden Grundlage, die Wähle gelegt, zu einer höheren Stufe
der Erkenntnis das Richtige, so gestehen wir doch rückhaltlos, daß
wir in dieser Schrift eine hervorragende Leistung erblicken, die
bestimmend auf den Zweig der Wissenschaft wirken wird, dem
sie angehört, und die gewiß in der Geschichte der Philosophie
eine Stelle einnehmen wird.

ÜBER DAS VERHÄLTNIS THOMAS SEEBECKS


ZU GOETHES FARBENLEHRE

Aus dem soeben erschienenen Buche: «Erinnerungen an Moritz


Seebeck» von Kuno Fischer (Heidelberg 1886) möchten wir einige
Punkte anführen, die ein klares Licht auf das Verhalten werfen,
das der ausgezeichnete Physiker Thomas Seebeck (der Vater
Moritz,) der Farbenlehre Goethes gegenüber beobachtete. Nur ein
paar Worte mögen vorausgehen. Seebeck, dem wir die epoche-
machende Entdeckung der entoptischen Farben verdanken, wurde
von Goethe als ein begeisterter Anhänger seiner Farbenlehre an-
gesehen. Die beiden verkehrten besonders 1802 bis 1810 viel in
Jena, wo sie gemeinschaftlich Versuche auf dem Gebiete dieser
Wissenschaft anstellten. Im Jahre 1818 wurde Seebeck zum Mit-
gliede der Berliner Akademie berufen. Dem scheinen nicht geringe
Hindernisse im Wege gestanden zu sein. So berichtet Zelter nach
Seebecks Tode an Goethe: «wie der Minister Arbeit gehabt, den
bedeutenden Mann in die Akademie zu schaffen, der doch der
berufenen Farbenlehre ergeben gewesen, sich aber nachher im
Amte selber, wo nicht als Abgefallener, doch gemäßigt erwiesen
habe, weil er sich in der Mathematik nicht stark gefunden» (siehe
Fischer, S. 11). Als Abgefallenen betrachtete ihn denn auch Goethe
nach der Berufung. Er hatte ihm Unrecht getan. Seebeck war bis
zu seinem Tode treu geblieben, wie eben Fischer in seinem Buche
nachweist. Seite 19 sagt derselbe: «Was Seebecks Verhalten zur

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Farbenlehre betrifft, so hat Goethe dasselbe nicht richtig beurteilt.
Auch als Akademiker hat Seebeck seine Ansicht weder geändert
noch verheimlicht. Wir hören darüber das vollwichtige Zeugnis
der akademischen Gedächtnisrede: «Gemeinsames Interesse an den
Farbenerscheinungen veranlaßte, daß er und Goethe öfters Ver-
suche zusammen anstellten, wobei zwar im einzelnen manche Ab-
weichungen zur Sprache kamen, in den Hauptbeziehungen jedoch
Übereinstimmung der Ansichten von dem Wesen der Farbe statt-
fand ... In der Farbenlehre stand er auf Goethes Seite und behaup-
tete, wie dieser, die Einfachheit des weißen Lichts.» Seite 13 ff.
zitiert Fischer den Brief, den Moritz Seebeck bei dem Tode seines
Vaters (20. Dezember 1831) an Goethe richtete. Darin heißt es:
«Ew. Exzellenz Schriften jedes Inhalts kamen nicht von seinem
(Seebecks) Tische, sie waren seine liebste Lektüre; oft sprach er es
aus: der einzige, der weiß, worauf es ankommt>.» Wir möchten gerade
in dem Verhältnis Seebecks zu Goethes Farbenlehre den Beweis
erblicken, daß von einem Verlassen der tiefen Auffassung Goethes
bei dem gar nicht mehr die Rede sein kann, der wirklich so in sie
eingedrungen ist, daß er den Punkt gefunden hat, auf den alles
ankommt.

HUNDERT JAHRE ZURÜCK


Zur Farbenlehre

Außer dem zweiten Teile des «Faust» ist über kein Werk Goethes


so geringschätzend geurteilt worden wie über seine Farbenlehre.
Seine poetischen Schöpfungen werden immer mehr zur Grundlage
unserer ganzen Bildung und seine gewaltige Naturauffassung mit
ihren wunderbaren Konsequenzen im Reiche des Organischen er-
freut sich immer mehr der Anerkennung derer, die Tiefblick
genug besitzen, einzusehen, daß gerade sie das geistige Band bil-
det für die Unzahl der heute auf naturwissenschaftlichem Boden
bekannten Tatsachen. Nur die Farbenlehre gilt als der mißlungene

478


Versuch eines Mannes, dessen ganzer Geistesrichtung die Denk-
weise fremd war, die in der Physik maßgebend ist. Dieser schrof-
fen Ablehnung steht die vollwichtige Tatsache gegenüber, daß
gerade die Farbenlehre die reifste Frucht von Goethes Forschen
ist, daß also gerade in ihr seine Naturauffassung sich bewähren
mußte. Das genügt allein schon, die Akten hierüber noch einmal
zu prüfen. Vielleicht ist die Fragestellung bisher nicht die rechte
gewesen. Wir wollen uns bemühen, dieselbe wenigstens in einem
Punkte zu berichtigen: was Goethes Verhältnis zur Mathematik
betrifft. Gerade der Umstand, daß er kein Mathematiker gewesen,
steht ja einer unbefangenen Beurteilung seiner Farbenlehre stö-
rend im Wege. Wer aber das von Goethe über Mathematik Ge-
sagte eingehend erwägt, wird sehen, wie der Dichter bemüht war,
die Grenze zu finden, wo in der Naturwissenschaft Mathematik
am Platze ist, wo nicht. Damit wollte er zugleich das Reich seines
Forschens begrenzen. Mit Rücksicht darauf ergeben sich in bezug
auf diesen Punkt folgende Hauptfragen: 1. Hat Goethe diese
Grenze richtig bestimmt? 2. Hat er sie gebührend berücksichtigt?
und 3. Hätte er bei genauer Bekanntschaft mit der Mathematik
seiner Farbenlehre eine andere Gestalt geben können, ohne zu-
gleich seiner ganzen Naturauffassung untreu zu werden? Diese
Fragen müssen künftig die Grundlage bilden, wenn es sich um
die Beurteilung von Goethes Farbenlehre handelt. Mindestens, so
scheint es uns, sollte man über Goethes Farbenlehre nicht weiter
den Stab brechen, ohne früher diese Fragen zu erledigen.

ERNST MELZER • GOETHES PHILOSOPHISCHE ENTWICKLUNG


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