Rudolf steiner



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Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie unserer Dichterheroen

Neiße 1884

Daß am Ende des vorigen und am Anfange dieses Jahrhunderts
in Deutschland Philosophie und Dichtung gleichzeitig einen ge-
waltigen Aufschwung erlebten, ist kein zufälliges Zusammentref-
fen. Es fand eine Vertiefung des ganzen Wesens der Nation statt,

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und es war eine und dieselbe Botschaft, die von Philosophen so-
wohl als von Dichtern verkündet wurde. Die deutsche Philosophie
und die deutsche Dichtung der klassischen Periode fließen aus
einer Geistesrichtung. Daraus erklärt es sich, warum unsere größ-
ten Dichter: Lessing, Herder, Schiller, Goethe, auch den Drang
fühlten, sich mit den tiefsten Fragen der Wissenschaft auseinander-
zusetzen. Sie sind nicht bloß vollendete Künstler, sie sind voll-
endete Menschen im höchsten Sinne des Wortes. Daß neben den
der Betrachtung der Kunstschöpfungen unserer Klassiker gewid-
meten Schriften auch die ihren philosophischen Gedankenkreisen
zugewendeten stets zunehmen, ist hieraus erklärlich. Das oben-
genannte Buch behandelt die philosophische Entwickelung Goethes.
Der Geist, in dessen Schaffen die verschiedenen Ausgestaltun-
gen des deutschen Volksgeistes sich zu der schönsten Harmonie
vereinigt haben, ist Goethe. Künstlerische Gestaltungskraft und
wissenschaftlicher Einblick in die Triebkräfte der Natur und des
Menschengeistes sind die Elemente, die in das Wesen dieses Gei-
stes eingeflossen, jedoch so, daß sie ihr Sonderdasein aufgegeben
haben und zu einem einheitlichen Ganzen, zu einer unsere Welt-
anschauung zugleich erweiternden und vertiefenden Individualität
wurden. Nur so betrachtet wird die Rolle klar, die die Philosophie
in dem Organismus des Goetheschen Geistes spielt. Eine Schrift
über Goethes philosophische Entwickelung müßte zeigen, inwie-
fern die Philosophie erstens eine bei seinem künstlerischen Schaf-
fen mittätige Kraft und zweitens eine seine wissenschaftlichen
Versuche stützende Grundlage ist. Aus den aphoristischen Äuße-
rungen über seine Weltanschauung allein können wir kein Bild
derselben gewinnen, wenn sie auch vielfach klärend und ergän-
zend für dasselbe sind. Wenden wir das Gesagte auf Melzers Buch
an, so müssen wir gestehen, daß der Verfasser die springenden
Punkte der Sache nicht erkannt hat. Wir möchten dabei manches
Gute seines Buches nicht übersehen. Es gehört dazu vor allem die
Grundtendenz desselben, Goethe nicht aus einzelnen Äußerungen,
sondern aus dem Gange seiner Entwickelung zu erkennen (S. 3).
Wenn aber der Verfasser trotz dieser Tendenz (S. 36) zum Bei-
spiel findet, daß Goethes philosophisch-religiöse Ansicht am Ende

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seiner Jugendperiode eine Art Mittelding zwischen Rationalismus
und Orthodoxie sei, so zeigt das, wie wenig er sieht, worauf es
eigentlich ankommt. Schlagworte, wie Naturalismus, Rationalis-
mus, Pantheismus, führen uns in Goethes Geist einmal nicht hin-
ein; sie verlegen uns nur den Zugang in die Tiefe seines Wesens.
Deshalb geht für Melzer auch das Vollbestimmte, Individuelle der
Goetheschen Weltanschauung verloren. So sieht er die Quintessenz
des Aufsatzes «Die Natur» (S. 24) in dem Satze: «sie (die Natur)
ist alles» und definiert demzufolge Goethes Ansicht als Naturalis-
mus. Während aber der Naturalismus die Natur nur in ihren fer-
tigen Produkten sieht, als tote, abgeschlossene, und in dieser Ge-
stalt den Geist mit ihr identifiziert, geht Goethe auf sie als Pro-
duzentin, als schöpferische, zurück und dringt so über die Zufällig-
keit zur Notwendigkeit vor. Er erreicht damit jene Quelle, aus der
Geist und Natur zugleich fließen und kann von dieser wirklich
sagen: «sie ist alles.» Goethe hatte der Welt etwas zu verkünden,
was sich mit keinem überlieferten Gedankengebäude umspannen,
noch weniger mit den hergebrachten philosophischen Kunstaus-
drücken aussprechen läßt. Es lag in ihm eine Welt von ursprüng-
lichen Ideen, und wenn von dem Einfluß älterer oder neuerer Phi-
losophen auf ihn gesprochen wird, so kann das nicht in dem Sinne
geschehen — wie es Melzer tut —, als ob er auf Grund von deren
Lehren seine Ansichten gebildet habe. Er suchte Formeln, eine
wissenschaftliche Sprache, um den in ihm liegenden geistigen
Reichtum auszusprechen. Diese fand er bei den Philosophen, vor-
nehmlich bei Spinoza. Den Fehler, Goethes Ideenwelt als das Re-
sultat verschiedener von ihm aufgenommener Lehren darstellen zu
wollen, teilt Melzer mit vielen, die sich mit der dem Goetheschen
Schaffen zugrunde liegenden Philosophie beschäftigt haben. Es
wird dabei übersehen, daß, wer Goethes philosophische Entwicke-
lung darstellen will, vor allem aus dessen Wirken den Glauben an
die Ursprünglichkeit seiner Sendung und die Genialität seines
Wesens gewonnen haben muß.

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ÜBER DEN GEWINN

DER GOETHE-STUDIEN DURCH DIE WEIMARER AUSGABE


IN NATURWISSENSCHAFTLICHER BEZIEHUNG

«Goethe - und noch immer kein Ende! Kritische Würdigung der


Lehre Goethes von der Metamorphose der Pflanzen», so nennt sich
eine jüngst erschienene Schrift von K. Fr. Jordan (Hamburg
1888, Verlagsanstalt und Druckerei AG), in welcher wieder ein-
mal der Beweis versucht wird, daß Goethes Weltanschauung
jeder wissenschaftliche Wert abgehe, daß dem großen Dichter
überhaupt der «rechte wissenschaftliche Sinn» gemangelt habe.
Als Grund für diese Behauptung gibt der Verfasser an, daß Goethe
eine von der mechanischen Naturauffassung völlig abweichende
Geistesrichtung einschlug. Für Jordan aber hört die Wissenschaft
da auf, wo die mechanische Auffassung aufhört; «die Wissenschaft
muß mechanisch sein, denn die mechanischen Vorgänge sind dem
menschlichen Geiste die faßlichsten», behauptet er. Mit solchen
geistigen Voraussetzungen sich bis zur Geisteshöhe Goethes zu er-
heben, ist nun freilich eine Unmöglichkeit. Es soll nicht geleugnet
werden: Goethe war ein Gegner der von Jordan vertretenen Denk-
weise. Aber er war es deshalb, weil seinem tief in das Wesen der
Dinge dringenden Geiste klar war, daß diese Denkweise nur für
die Erkenntnis der unteren Stufen des Naturdaseins ausreicht und
daß uns ein Einblick in die eigentlichen Gesetze des organischen
Lebens verschlossen bliebe, wenn wir uns nicht über das Denken
der mechanischen Gesetzlichkeit erheben könnten. Gerade Goethes
Idee der Pflanzen-Metamorphose ist ein Beweis dafür, daß uns
unser Erkenntnisvermögen auch da nicht im Stiche läßt, wo wir
an das Leben herantreten, das in seiner Wesenheit doch niemals
von der Mechanik erfaßt werden wird. Mit dieser Idee sind der
Organik ebenso neue Wege gewiesen worden wie mit Galileis
Grundgesetzen der Mechanik. Wer sich dieser Tatsache ver-
schließt, wird nicht nur niemals zu einer gerechten Würdigung
der wissenschaftlichen Stellung Goethes kommen, sondern er fügt

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auch der Wissenschaft selbst einen erheblichen Schaden zu, denn
er entzieht ihr ein bereits erschlossenes Gebiet fruchtbarer Ideen.
Schreiber dieser Zeilen versucht nun seit einer Reihe von Jahren
jenen Standpunkt Goethe, dem Forscher, gegenüber zu vertreten,
der dessen ganz eigenartiger Stellung innerhalb der Geschichte
der Wissenschaft gerecht wird. Bei der oft aphoristischen, oft frag-
mentarischen Art, in der uns Goethes wissenschaftliche Ideen in
seinen Werken vorliegen, war es dabei notwendig, oft über das
bloße Studium und die Auslegung des vorhandenen Stoffes hinaus-
zugehen und die verbindenden Gedanken zu suchen, die in
Goethes Geist lagen und die vielleicht überhaupt nicht aufgezeich-
net, vielleicht aus irgendeinem Grunde im Pulte zurückgeblieben
waren. Dadurch gestaltete sich ein Ganzes Goethescher Welt-
anschauung aus, das freilich von den gebräuchlichen Auffassungen
sehr abwich. Der Einblick nun, der mir vor kurzem in die hinter-
lassenen Papiere des Dichters wurde, erfüllte mich mit innigster
Befriedigung. — Mit der Herausgabe eines Teiles der wissenschaft-
lichen Schriften Goethes für die Weimarische Goethe-Ausgabe
betraut, war es mir gegönnt, das ungedruckte reiche Material zu
prüfen. Diese Prüfung ergab nun durchwegs eine vollkommene
Bestätigung dessen, was man bei einer gründlichen, liebevollen
Vertiefung in die wissenschaftlichen Werke des Dichters wohl er-
kennen mußte, womit man aber dennoch auf solche Widersprüche
wie jene Jordans gefaßt sein mußte, weil jene verbindenden Ge-
danken, von denen wir oben gesprochen, für viele Menschen doch
zu sehr den Charakter des Hypothetischen trugen. Wir meinen
damit nicht, daß für uns jenes Ganze Goethescher Auffassung
nicht vollen wissenschaftlichen Wert gehabt hätte, aber das ist
eine Überzeugung, die zuletzt nur der gewinnen kann, der den
Willen zu einer solchen liebevollen Vertiefung in Goethes Geist
hat — und das ist ja doch nicht jedermanns Sache; wenigstens
scheint es so. — Durch die neue Weimarer Ausgabe wird nun ein
Zweifaches gewonnen werden: einmal wird jeder Zweifel darüber
verstummen müssen, wie Goethe über gewisse Punkte in der
Naturwissenschaft dachte, weil seine eigenen Ausführungen deut-
lich und klar seinen Standpunkt bestimmen; zweitens wird der

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hohe wissenschaftliche Ernst, der aus diesen Ausführungen spricht,
endlich das Urteil, das den Dichter als wissenschaftlichen Dilet-
tanten hinstellen möchte, einfach als oberflächlich erscheinen las-
sen. Goethe ein Dilettant! Er, der mit der Mehrzahl der geistig
Strebenden Deutschlands in seiner Zeit unmittelbare Beziehungen
hatte und in so viele weltbewegende Ideen mit persönlichem An-
teil eingriff! Wir sehen die größten Gelehrten seiner Zeit mit ihm
die Gedanken über ihre Entdeckungen austauschen, wir sehen
seine fördernde Anteilnahme an der ganzen Entwickelung seiner
Zeit.

Man hat versucht, Goethe als einen Vorläufer Darwins hinzu-


stellen. Es war das die wohlwollende Überzeugung derjenigen, die
im Darwinismus das «Um und Auf» aller Wissenschaft von den
Lebewesen sehen und die dadurch Goethes wissenschaftliche Aus-
führungen «retten» wollten. Diese Ansicht hat bei den mehr zur
Du Bois-Reymondschen Schule hinneigenden Naturforschern Wider-
spruch hervorgerufen, weil zahllose Stellen in Goethes Schriften
durchaus nicht mit der heute üblichen Auffassung der Lehre Dar-
wins in Einklang zu bringen sind. Man konnte nun nicht in Ab-
rede stellen, daß diese beiden Parteien scheinbar gewichtige Gründe
für ihre Behauptungen aufbringen konnten. Dem tiefer Blicken-
den war freilich klar, daß Goethe ein Darwinianer im landläufi-
gen Sinne niemals sein konnte. Seinem Blicke entging es ja nicht,
daß alle Naturwesen im innigen Zusammenhange miteinander
stehen, daß es nichts Unvermitteltes in der Natur gibt, sondern
daß Übergänge zwischen den in ihrer Bildung verschiedenen Lebe-
wesen die ganze Natur als eine stetige Stufenfolge erscheinen las-
sen müssen. Aber er blickte tiefer als der Darwinismus von heute.
Während dieser nur die verwandtschaftlichen Beziehungen der
organischen Wesen und die Beziehungen zu ihrer Umgebung
untersucht, um dadurch einen möglichst vollständigen Stamm-
baum alles Lebens auf der Erde zu gewinnen, drang Goethe auf
die Idee des Organischen, auf dessen innere Natur. Er wollte
untersuchen, was ein organisches Wesen ist, um daraus dann die
Möglichkeit einzusehen, wie es in so und so viel mannigfaltigen
Formen auftreten kann. Der heutige Darwinismus sucht die ver-

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schiedenen Gestalten des ewigen Wechsels. Goethe suchte das
Dauernde in diesem Wechsel. Der Naturforscher der Gegenwart
fragt: welcher Einfluß des Klimas, der Lebensweise hat statt-
gefunden, damit sich aus jenem Lebewesen dieses entwickelt hat?
Goethe fragte: welche inneren organischen Bildungsgesetze sind
bei jener Entwickelung wirksam. Goethe verhält sich zu dem
modernen Naturforscher wie der Astronom, der durch zusammen-
fassende kosmische Gesetze die Erscheinungen am Himmel er-
klärt, zu dem Beobachter sich verhält, der durch das Fernrohr die
verschiedenen Stellungen der Sterne erfahrungsgemäß feststellt.
Goethes naturwissenschaftliche Ausführungen sind nicht nur eine
prophetische Vorausnahme des Darwinismus, sondern sie sind
die ideelle Voraussetzung desselben. Durch sie wird sich die mo-
derne Naturwissenschaft ergänzen müssen, sonst wird sie sich
nicht von der bloßen Erfahrung zur Theorie erheben. Die Wei-
marische Ausgabe aber wird durch die Veröffentlichung des Nach-
lasses Goethes den unumstößlichen Nachweis von dieser Behaup-
tung erbringen. Sie wird uns jene vermittelnden Gedanken zeigen,
durch die Goethes Stellung zum Darwinismus im angedeuteten
Sinne klar werden wird. Die hierüber stark ins Schwanken gekom-
menen Anschauungen werden eine wesentliche Befestigung erfah-
ren. Goethes Idealismus in der Wissenschaft wird ebensowenig
angezweifelt werden können wie die Bedeutsamkeit und Tiefe
seiner wissenschaftlichen Ideen. Wenn man sich wird überzeugen
können, von welchem Ringen nach wahrer Erkenntnis, nach wis-
senschaftlicher Gründlichkeit seine Gedanken gleich bei ihrem
Entstehen zeugen, dann wird man wohl nicht mehr behaupten,
der «große Dichter» habe keinen wissenschaftlichen Sinn gehabt.
In der Einleitung zum zweiten Bande meiner Ausgabe von
Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (Kürschners «Deutsche
National-Literatur», Goethes Werke, Band XXXIV, S. XXXVIII f.)
habe ich bereits darauf hingewiesen, daß Goethe einen Aufsatz
über wissenschaftliche Methode geschrieben hat, den er am 17. Ja-
nuar 1798 an Schiller sandte, der aber in den Werken leider nicht
enthalten ist. Ich versuchte damals eine Rekonstruktion der in dem
Aufsatze enthaltenen Ansichten über naturwissenschaftliche For-

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schung. Der Aufsatz schien mir die wichtigsten wissenschaftlichen
Auseinandersetzungen Goethes zu enthalten. — Er ist uns nun
auch erhalten! — Er schließt sich an den über den «Versuch als
Vermittler von Objekt und Subjekt» an (s.o., Goethes Werke,
Band XXXIV, S. 10 f.), ist aber von beiden der ungleich wich-
tigere. Er enthält ein Programm aller naturwissenschaftlichen For-
schung; er zeigt, wie sich dieselbe entwickeln muß, wenn sie den
Anforderungen unserer Vernunft ebenso wie dem objektiven
Gange der Natur gerecht werden will. Das alles in genialen Zü-
gen, die uns mit einem Male auf jene geistige Höhe erheben, wo
der Blick unbeirrt in die Geheimnisse der Natur dringt. In die-
sem Aufsatze haben wir den unmittelbarsten Ausdruck des Goethe-
schen wissenschaftlichen Geistes. Wer in Zukunft etwas gegen
diesen Geist wird vorbringen wollen, mag sich zuerst an diesem
Aufsatze versuchen. Von da wird Licht ausgehen über alle übrigen
Goetheschen Schriften, soweit sie die Wissenschaft angehen.

Aus alledem ersieht man, daß durch die neue Ausgabe vor


allen ändern Dingen eines gewonnen wird: Wir werden imstande
sein, besser als dies bisher möglich war, jede einzelne Geistestat
Goethes in dem Zusammenhange mit seinem Wesen zu betrach-
ten. Und es wird die Aufgabe der Ausgabe in dieser Hinsicht
sein, dies durch Anordnung und Auswahl des Aufzunehmenden
so viel als möglich zu erleichtern. Gerade in wissenschaftlicher
Beziehung wird daher die Goetheforschung, welche die Frau
Großherzogin von Weimar mit nicht genug zu preisender liebe-
voller Hingabe in ihren Schutz genommen, durch die Publikatio-
nen des Goethe-Archivs gewinnen.

Es ist kein Zweifel, daß auch manches Fragmentarische mit zur


Veröffentlichung gelangen muß, daß mancher angefangene und
dann liegengebliebene Aufsatz vor die Augen der Leser treten
wird. Auf diese stilistische Vollständigkeit kommt es aber nicht
an. Die Hauptsache ist, daß wir alles, was an Geistesprodukten
Goethes uns erhalten geblieben ist, in einer solchen Gestalt vor
Augen haben, daß wir in der Lage sind, uns ein geistiges Bild
seiner Weltanschauung zu machen. Und in dieser Hinsicht sind
Riemer und Eckermann von manchem Fehler, den sie bei der

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Redaktion der nachgelassenen Werke gemacht haben, wohl nicht
freizusprechen. Sie haben manches weggelassen, was zum Ver-
ständnisse notwendig ist, und haben in der Anordnung nicht jenes
allein richtige Prinzip verfolgt, welches die einzelnen Schriften in
jener Folge bringt, daß sie sich gegenseitig selbst als Kommentar
dienen.

Aber das Bekanntwerden auch des Skizzenhaften, Fragmentari-


schen hat noch einen weiteren Vorteil. Wir werden, indem wir
oft den Gedanken in Goethes Geist aufschießen sehen, gerade aus
dieser seiner ersten Gestalt die eigentliche Tragweite desselben
und die Bedeutung erkennen, und wir werden hieraus die ganze
Tendenz des Goetheschen Strebens miterleben. Wir werden mit
ihm ringen, indem wir hineinblicken, wie sein stets in die Tiefen
gehender Geist sich zur Klarheit allmählich emporringt. Es wird
uns möglich sein, ihm auf seinen Wegen nachzugehen und da-
durch uns immer in seine Denkweise einzuleben.

Wir werden sehen, wie sich Goethe klar bewußt war, daß wir,


wo immer wir in der Erfahrungswelt einsetzen, bei stetigem un-
ablässigen Wollen endlich doch der Idee begegnen müssen. Er
geht nie auf eine Idee aus. Naiv sucht er nur die Erscheinungen
zu erfassen, aber er findet zuletzt immer die Idee. Dafür ist jede
Zeile seiner Arbeiten ein vollsprechender Beweis.

Zusammenfassend möchten wir sagen: Goethes wissenschaft-


liche Individualität wird in ihrer vollen Bedeutung in kurzer Zeit
so klar vor unseren Blicken auftauchen, daß eine Schrift wie die
eingangs erwähnte von Jordan von der gebildeten Welt Deutsch-
lands als eine immerhin beklagenswerte, aber doch im Wesen un-
schädliche Schulverirrung angesehen werden wird.

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EDUARD GRIMM • ZUR GESCHICHTE
DES ERKENNTNISPROBLEMS

Leipzig 1890

Vor wenigen Wochen wurde die deutsche Philosophie um ein
wertvolles Buch bereichert, das in Weimar entstanden ist. Der
Umstand, daß der Verfasser des Werkes der Archidiakonus Dr.Eduard
Grimm ist, und die wissenschaftliche Bedeutung, die demselben
zukommt, rechtfertigen es wohl hinlänglich, wenn wir an dieser
Stelle der innigen Befriedigung Ausdruck geben, die uns die Lek-
türe desselben gewährt hat. Wir fanden eine der interessantesten
Epochen in der Entwickelung der Wissenschaft in wahrhaft
mustergültiger Weise erörtert. Das Buch stellt sich zur Aufgabe,
die Lehren der fünf englischen Philosophen: Francis Bacon (1561
bis 1626), Thomas Hobbes (1588-1679), John Locke (1632-1709),
George Berkeley (1685-1753), David Hume (1711-1776) für die
Erkenntnistheorie darzustellen, das ist für jene Wissenschaft,
welche sich damit befaßt, die Frage zu beantworten: inwieweit ist
der Mensch imstande, durch sein Denken die Welträtsel zu lösen
und die Gesetze der Natur und des Lebens zu erforschen?

Die wissenschaftliche Periode, der jene fünf Denker angehören,


ist darum so außerordentlich bedeutsam, weil gerade sie einen der
wichtigsten Wendepunkte in dem wissenschaftlichen Leben be-
zeichnet. Die Weisheit des Mittelalters hatte sich damit begnügt,
jene Wege weiterzuwandeln, die der gewaltige Lehrer Alexanders
des Großen, Aristoteles, betreten hat. Die Art, wie er die Auf-
gaben der Wissenschaften angefaßt, die Ziele, die er gesteckt, gal-
ten als unanfechtbar auch dann noch, als längst neue Beobachtun-
gen und Erfahrungen mit denselben nicht mehr recht in Einklang
zu bringen waren. Dadurch aber ward jeder Fortschritt gehemmt,
die freie Entfaltung eines von den Entdeckungen im Felde der
Wissenschaft geforderten freien und unabhängigen Denkens un-
möglich gemacht. Da trat Francis Bacon auf den Plan. Reinigung
der Wissenschaft von allen hergebrachten Vorurteilen und voll-
ständig neuer Aufbau derselben auf Grund der damals neuen Er-

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rungenschaften war sein Ziel. Grimm versteht es nun meisterhaft,
Bacon gerade da zu erfassen, wo seine große Bedeutung für die
Entwickelung des europäischen Denkens am deutlichsten hervor-
tritt. Durch das Festhalten an Grundsätzen, die einer längst ver-
gangenen Zeit angehörten und nur für das Leben dieser Zeit Gül-
tigkeit und Wert haben konnten, hatte sich die Wissenschaft dem
Leben der unmittelbaren Gegenwart entfremdet, ja war vollstän-
dig unbrauchbar für dasselbe geworden. Aber «alle Wissenschaft
ist aus dem Leben hervorgegangen und entnimmt aus demselben
das Recht und die Grundlage ihres Bestehens. Entfernt sie sich all-
zuweit von diesem ihrem Ursprung, so kann es nicht fehlen, daß
das Leben selbst mit der ihm eigenen unmittelbaren Gewalt sich
ihr entgegensetzt und zu einer Neubildung der Wissenschaft hin-
drängt. In solcher Art tritt Franz Bacon von Verulam der Wissen-
schaft seiner Zeit entgegen. Er macht ihr den Vorwurf, sie gleiche
einer Pflanze, die, von ihrem Stocke abgerissen, in keinem Zu-
sammenhange mehr steht mit dem Leibe der Natur und deshalb
auch keine Nahrung mehr aus demselben empfängt.» (Vgl. Grimm,
Zur Geschichte des Erkenntnisproblems, S. 5-6.) Wie nun Bacon
durch die Aufstellung einer untrüglichen Beobachtungs- und Ver-
suchsmethode die Wissenschaft in das rechte Geleise bringen will,
wie er dadurch, daß er allen Vorurteilen und Irrtümern sowohl bei
den Gelehrten wie bei allen übrigen Gebildeten schonungslos zu
Leibe geht, nur dem unbedingt sicheren Wissen Eingang ver-
schaffen will, das setzt Grimm mit ebensoviel Gründlichkeit wie
wahrhaft philosophischer Überlegenheit auseinander. Dem, wie
überhaupt dem ganzen Buche gegenüber, müssen wir die einzig
geschichtlich richtige Methode rühmen, die den in Betracht kom-
menden Denkern dadurch vollste Gerechtigkeit widerfahren läßt,
daß sie sie überall, wo es nötig erscheint, selbst zu Worte kommen
läßt. Die wohltuende Wirkung, die von dem Buche ausgeht, ist
zum nicht geringen Teile in dem Umstände zu suchen, daß der
Verfasser nicht, wie so viele neuere Geschichtsschreiber der Wis-
senschaft es machen, seine eigenen wissenschaftlichen Ansichten
bei Beurteilung fremden Denkens hervorkehrt, sondern das für
den Einsichtigen doch überall sichtbare persönliche Können in

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den Dienst einer allseitigen objektiven Entwickelung der behan-
delten Gedankensysteme stellt.

Die Baconsche Denkrichtung hatte bei all ihrer hohen Bedeu-


tung sich einer einseitigen Überschätzung der bloßen Beobachtung
der Dinge auf Kosten des selbständigen, aus der eigenen Brust des
Menschen schöpfenden Denkens schuldig gemacht. Dieser Man-
gel wurde noch größer bei Thomas Hobbes, der in dem Denken
nichts sah als eine durch die Sprache vermittelte Fähigkeit. «Ver-
stand ist das Verstehen der Worte.» (Grimm, S. 87.) Daß das
Denken von sich aus und durch sich selbst zu Erkenntnissen kom-

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