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Affekt und Politik
Neue Dringlichkeiten in einem alten Problemfeld
Jan Slaby
03-2017
B
RIAN
M
ASSUMI
:
Politics of Affect, Cambridge 2015. Polity Press. 232 S.
J
UDITH
M
OHRMANN
:
Affekt und Revolution, Frankfurt/M. 2015. Campus. 215 S.
M
ARTHA
N
USSBAUM
:
Politische Emotionen, Berlin 2014. Suhrkamp. 623 S.
J
OHN
P
ROTEVI
:
Political Affect, Minneapolis 2009. University of Minnesota Press. 264 S.
Auch wenn sich die philosophische Reflexion gerne damit rühmt,
nicht jedem Trend hinterher
zu laufen, und sich stattdessen in Distanz zum Zeitgeschehen aufstellt, sind ab und an
bestimmte Themen des Tages auch für die Philosophie unumgänglich. So verhält es sich
heute mit dem Zusammenhang von Politik und Affekt. Angesichts des Aufkommens
rechtspopulistischer Bewegungen – gipfelnd im Brexit-Votum und im Wahlerfolg Donald
Trumps – sollten inzwischen selbst entrückte Denker spüren, dass im politischen Feld
Entwicklungen im Gang sind, vor denen die Philosophie nicht ungestraft die Augen
verschließen kann. Schon bei oberflächlicher Betrachtung erscheint es plausibel, dass diese
Entwicklungen eng mit Fragen einer politischen Affektivität verwoben sind.
Nun ist die wechselseitige Durchdringung der Bereiche Politik und Affektivität
vermutlich so alt, wie das organisierte menschliche Zusammenleben selbst. Wie anders lässt
sich das Bestreben um die Aushandlung gemeinsamer Belange denken denn als eine durch
und durch leidenschaftliche Angelegenheit? Was wäre Politik ohne beherzten Streit, ohne
starke Bindungen und entschiedene Gegnerschaft, oder ohne das Bewusstsein, dass es hier
bisweilen schlicht um alles geht? Wie oft gibt es im Feld des Politischen Anlass zu erbitterter
Rivalität, an der sich fulminante Aversionsaffekte wie Zorn oder Hass entzünden können?
Aber schon im Vorfeld konkreter Auseinandersetzungen erfordert das Politische einen
engagiert und nicht selten mit Begeisterung vollzogenen Übertritt aus der Enge des Privaten
auf die Bühne der Öffentlichkeit – auf der es die Protagonisten zu Stolz und Ehre bringen,
sich aber ebenso leicht Schmähung oder Beschämung einhandeln können. Versteht man die
Sphäre des Politischen überdies ontologisch grundlegend als Raum der Kontingenz, in dem
immer wieder aufs Neue die Rahmenbedingungen des menschlichen Zusammenlebens zur
Aushandlung stehen, dann sind auch die ›existenziellen Gefühle‹ des Schwindels, der Angst
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und der Unsicherheit, welche Menschen angesichts fehlender ontologischer Sicherheiten und
im Angesicht der eigenen Endlichkeit ergreifen können, als latent politische Gemütslagen zu
deuten.
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Lässt sich umgekehrt das menschliche Gefühlsleben unverkürzt betrachten, ohne dass
es in jenem »Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten« (Hannah Arendt) situiert
würde, das als eine Sphäre gemeinsamen Handelns zugleich das Aktionsfeld des Politischen
ist? Kann man die menschlichen Gefühle umfassend begreifen ohne sie auf den Abgrund aus
Kontingenz zu beziehen, über dem das menschliche Leben als endliches, freies und zur
Selbstbestimmung verurteiltes unweigerlich schwebt? Wie es scheint, treiben das Politische
und die Affektivität – sofern man sie hinreichend tief ansetzt und den Impuls zur
Grundlagenreflexion nicht vorschnell abwürgt – von sich aus aufeinander zu. Politik und
Affekt entstammen derselben existenziellen Konstellation.
Wenn es um eine philosophische Theorie politischer Affektivität gehen soll, dann
kommt man um eine solche ontologische Perspektivierung des Themas kaum herum. Freilich
ist man damit weit entfernt von einer empirisch informierten Bestimmung politischer
Gefühlslagen, wie sie vermeintlich bei »Wutbürgern«, Online-Hasskommentatoren,
Protestwählern oder demonstrierenden Aktivisten anzutreffen sind. Das Fahrwasser, in das
uns die ontologische Bestimmung von Affekt und Politik bringt, ist vielmehr jenes einer
politischen Philosophie, die in den letzten Jahren mit Stichworten wie »politische Differenz«,
»das Politische«, »Postfundamentalismus« oder »Linksheideggerianismus« in Erscheinung
getreten ist.
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Leitend dafür ist die Auszeichnung eines substanziellen Begriffs des Politischen
in Abhebung von den Routinen des politischen Systems, seinen etablierten Institutionen und
Akteuren. Dabei handelt es sich um die philosophische Antwort auf die Diagnose der »Post-
Politik«.
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Gemeint ist jene Situation, in der das offizielle politische Geschehen fast nur noch
auf das Management institutioneller Abläufe nach Maßgabe von Systemzwängen beschränkt
ist – exekutiert durch technokratische Eliten ohne substanzielle Kontrolle durch den demos.
Gegen diese Verfallsformen des demokratischen Prinzips haben sich in den letzten
Jahrzehnten eine Reihe von Philosoph_innen mit Neubestimmungen des Politischen gewandt.
Instruktiv ist in diesem Zusammenhang, was Oliver Marchart in Anlehnung an Heidegger die
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Unschwer zu erkennen, dass diese globale Charakterisierung des Politischen wesentlich von Arendt inspiriert
ist, vgl. H
ANNAH
A
RENDT
:
Was ist Politik? München, 2003; sowie H
ANNAH
A
RENDT
:
On Revolution, New York
2006 [1963], S. 110f. Arendt vertrat jedoch eine andere Auffassung, was das Verhältnis von Affektivität und
Politik angeht. Mehr dazu in Abschnitt II. des vorliegenden Artikels.
2
Einschlägig dafür sind O
LIVER
M
ARCHART
:
Die Politische Differenz, Berlin, 2010 sowie T
HOMAS
B
EDORF
und
K
URT
R
ÖTTGERS
:
Das Politische und die Politik, Berlin, 2010.
3
Vgl. J
ACQUES
R
ANCIÉRE
: »Politik und Post-Politik«, in: A
LAIN
B
ADIOU
/J
ACQUES
R
ANCIÉRE
(Hg.):
Politik der
Wahrheit, Wien 1996, S. 94-122; C
OLIN
C
ROUCH
:
Postdemokratie, Berlin, 2008.