Rudolf steiner



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Weltvernunft ableitet. Wäre die menschliche Vernunft nur Abbild


einer ewigen, dann könnte sie ihre Gesetzmäßigkeit nimmermehr
durch Selbstbeobachtung gewinnen, sondern sie müßte sie aus der
ewigen Vernunft heraus erklären. Wo immer aber eine solche Er-
klärung versucht worden ist, ist stets einfach die menschliche Ver-
nunft in die Welt hinaus versetzt worden. Wenn der Mystiker
durch Versenken in sein Inneres sich zur Anschauung Gottes zu
erheben glaubt, so sieht er in Wirklichkeit nur seinen eigenen
Geist, den er zum Gott macht, und wenn Eduard von Hartmann
von Ideen spricht, die sich der Naturgesetze als Handlanger be-
dienen, um den Weltenbau zu bilden, so sind diese Ideen nur seine
eigenen, durch die er sich die Welt erklärt. Weil Beobachtung der
Geistesäußerungen Selbstbeobachtung ist, deshalb spricht sich im
Geiste das eigene Selbst und nicht eine äußere Vernunft aus.

Im vollen Einklänge mit der Tatsache der Selbstbeobachtung steht


aber die monistische Entwickelungslehre. Hat sich die menschliche
Seele langsam und stufenweise mit den Seelenorganen aus niederen
Zuständen entwickelt, so ist es selbstverständlich, daß wir ihr Ent-
stehen von unten her naturwissenschaftlich erklären, daß wir aber
die innere Wesenheit dessen, was sich zuletzt aus dem komplizier-
ten Bau des menschlichen Gehirns ergibt, nur durch die Betrach-
tung dieser Wesenheit selbst gewinnen können. Wäre Geist in
einer der menschlichen Form ähnlichen immer vorhanden gewe-
sen und hätte sich zuletzt nur im Menschen sein Gegenbild ge-
schaffen, so müßten wir den Menschengeist aus dem Allgeist ab-
leiten können; ist aber der Menschengeist im Laufe der natür-
lichen Entwickelung als Neubildung entstanden, dann begreifen
wir sein Herkommen, wenn wir seine Ahnenreihe verfolgen; wir
lernen die Stufe, zu der er zuletzt gekommen ist, kennen, wenn
wir ihn selbst betrachten.

Eine sich selbst verstehende und auf unbefangene Betrachtung


des menschlichen Geistes gerichtete Philosophie liefert also einen
weiteren Beweis für die Richtigkeit der monistischen Weltanschau-
ung. Sie ist dagegen ganz unverträglich mit einer dualistischen
Naturwissenschaft. (Die weitere Ausführung und ausführliche Be-
gründung einer monistischen Philosophie, deren Grundgedanken

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ich hier nur andeuten konnte, habe ich in meiner «Philosophie der
Freiheit» gegeben.)

Wer die monistische Weltanschauung recht versteht, für den


verlieren auch alle Einwendungen, die ihr von der Ethik gemacht
werden, alle Bedeutung. Haeckel hat wiederholt auf das Unberech-
tigte solcher Einwendungen hingewiesen und auch darauf auf-
merksam gemacht, wie die Behauptung, daß der naturwissenschaft-
liche Monismus zum sittlichen Materialismus führen müsse, ent-
weder auf einer vollkommenen Verkennung des ersteren beruht,
oder aber auf eine bloße Verdächtigung desselben hinausläuft.

Der Monismus sieht natürlich das menschliche Handeln nur als


einen Teil des allgemeinen Weltgeschehens an. Er macht es ebenso-
wenig abhängig von einer sogenannten höheren moralischen Welt-
ordnung, wie er das Naturgeschehen von einer übernatürlichen
Ordnung abhängig sein läßt. «Die mechanische oder monistische
Philosophie behauptet, daß überall in den Erscheinungen des
menschlichen Lebens, wie in denen der übrigen Natur, feste und
unabänderliche Gesetze walten, daß überall ein notwendiger ur-
sächlicher Zusammenhang, ein Kausalnexus der Erscheinungen be-
steht und daß demgemäß die ganze uns erkennbare Welt ein ein-
heitliches Ganzes, ein , bildet. Sie behauptet ferner, daß
alle Erscheinungen nur durch mechanische Ursachen, nicht durch
vorbedachte zwecktätige Ursachen hervorgebracht werden. Einen
im gewöhnlichen Sinne gibt es nicht. Vielmehr er-
scheinen im Lichte der monistischen Weltanschauung auch die-
jenigen Erscheinungen, die wir als die freiesten und unabhängig-
sten zu betrachten uns gewöhnt haben, die Äußerungen des mensch-
lichen Willens, gerade so festen Gesetzen unterworfen wie jede
andere Naturerscheinung» (Haeckel, Anthropogenie). Die moni-
stische Philosophie zeigt die Erscheinung des freien Willens erst
im rechten Lichte. Als Ausschnitt des allgemeinen Weltgeschehens
steht der menschliche Wille unter denselben Gesetzen wie alle
anderen natürlichen Dinge und Vorgänge. Er ist naturgesetzlich
bedingt. Indem aber die monistische Ansicht leugnet, daß in dem
Naturgeschehen höhere, zwecktätige Ursachen vorhanden sind, er-
klärt sie zugleich auch den Willen unabhängig von einer solchen

höheren Weltordnung. Der natürliche Entwicklungsprozeß führt


die Naturvorgänge herauf bis zum menschlichen Selbstbewußtsein.
Auf dieser Stufe überlaßt er den Menschen sich selbst, dieser kann
nunmehr die Antriebe seiner Handlungen aus seinem eigenen
Geiste holen. Waltete eine allgemeine Weltvernunft, so könnte
der Mensch auch seine Ziele nicht aus sich, sondern nur aus dieser
ewigen Vernunft holen. Im Sinne des Monismus ist hiernach das
Handeln des Menschen durch ursächliche Momente bestimmt; im
ethischen Sinne ist es nicht bestimmt, weil die ganze Natur nicht
ethisch, sondern naturgesetzlich bestimmt ist. Die Vorstufen des
sittlichen Handelns sind bereits bei niederen Organismen vorhan-
den. «Wenn auch später beim Menschen die moralischen Funda-
mente sich viel höher entwickelten, so liegt doch ihre älteste, prä-
historische Quelle, wie Darwin gezeigt hat, in den sozialen Instink-
ten der Tiere» (Haeckel, Monismus). Das sittliche Handeln des
Menschen ist ein Entwickelungsprodukt. Der sittliche Instinkt der
Tiere vervollkommnet sich wie alles andere in der Natur durch
Vererbung und Anpassung, bis der Mensch aus seinem eigenen
Geiste heraus sich sittliche Zwecke und Ziele setzt. Nicht als vor-
herbestimmt durch eine übernatürliche Weltordnung, sondern als
Neubildung innerhalb des Naturprozesses erscheinen die sittlichen
Ziele. In sittlicher Beziehung «zweckvoll ist nur dasjenige, was der
Mensch erst dazu gemacht hat, denn nur durch Verwirklichung
einer Idee entsteht Zweckmäßiges. Wirksam im realistischen Sinne
wird die Idee aber nur im Menschen... Auf die Frage: Was hat
der Mensch für eine Aufgabe im Leben, kann der Monismus nur
antworten: die, die er sich selbst setzt. Meine Sendung in der Welt
ist keine (ethisch) vorherbestimmte, sondern sie ist jeweilig die,
die ich mir erwähle. Ich trete nicht mit gebundener Marschroute
meinen Lebensweg an» (vergleiche meine «Philosophie der Frei-
heit», XI: Weltzweck und Lebenszweck). Der Dualismus fordert
Unterwerfung unter die von irgendwoher geholten sittlichen Ge-
bote. Der Monismus weist den Menschen auf sich selbst. Dieser
empfängt von keinem äußeren Weltwesen sittliche Maßstäbe, son-
dern nur aus seiner eigenen Wesenheit heraus. Die Fähigkeit, sich
selbst ethische Zwecke zu schaffen, kann man moralische Phan-

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tasie nennen. Der Mensch erhebt durch sie die ethischen Instinkte
seiner niederen Vorfahren zum moralischen Handeln, wie er durch
die künstlerische Phantasie die Gestalten und Vorgänge der Natur
in seinen Kunstwerken auf einer höheren Stufe widerspiegelt.

Die philosophischen Erwägungen, die sich aus dem Vorhanden-


sein der Selbstbeobachtung ergeben, sind somit keine Widerlegung,
sondern eine wichtige Ergänzung der aus der vergleichenden An-
atomie und Physiologie genommenen Beweismittel der monisti-
schen Weltanschauung.

III


Eine absonderliche Stellung der monistischen Weltanschauung
gegenüber nimmt der berühmte Pathologe Rudolf Virchow ein.
Nachdem Haeckel auf der fünfzigsten Versammlung deutscher
Naturforscher und Ärzte seinen Vortrag über «Die heutige Ent-
wicklungslehre im Verhältnisse zur Gesamtwissenschaft» gehal-
ten, in dem er geistvoll die Bedeutung der monistischen Welt-
anschauung für unsere geistige Kultur und auch für das Unter-
richtswesen dargelegt hatte, trat vier Tage später Virchow in der-
selben Versammlung als sein Gegner mit der Rede auf: «Die Frei-
heit der Wissenschaft im modernen Staat.» Zunächst schien es,
als ob Virchow den Monismus nur aus der Schule verbannt wissen
wollte, weil nach seiner Ansicht die neue Lehre bloß eine Hypo-
these sei und nicht eine durch sichere Beweise belegte Tatsache
darstelle. Merkwürdig erscheint es allerdings, wenn ein moderner
Naturforscher die Entwickelungslehre angeblich aus Mangel an
unumstößlichen Beweisen aus dem Unterrichte verbannen will und
zugleich dem Dogma der Kirche das Wort redet. Sagt doch Vir-
chow (auf Seite 29 der genannten Rede): «Jeder Versuch, unsere
Probleme zu Lehrsätzen umzubilden, unsere Vermutungen als die
Grundlagen des Unterrichts einzuführen, der Versuch insbeson-
dere, die Kirche einfach zu depossedieren und ihr Dogma ohne
weiteres durch eine Deszendenz-Religion zu ersetzen, ja, meine

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Herren, dieser Versuch muß scheitern, und er wird in seinem
Scheitern zugleich die höchsten Gefahren für die Stellung der
Wissenschaft überhaupt mit sich führen!» Man muß da doch die
jedem vernünftigen Denken gegenüber bedeutungslose Frage auf-
werfen: Gibt es denn für die kirchlichen Dogmen sicherere Be-
weise als für die «Deszendenz-Religion»? Aus der ganzen Art, wie
Virchow damals gesprochen hat, ergibt sich aber, daß es sich ihm
weniger um die Abwendung der Gefahren, die der Monismus dem
Unterricht bringen könnte, handelt, als vielmehr um seine prinzi-
pielle Gegnerschaft zu dieser Weltanschauung überhaupt. Das hat
er durch sein ganzes seitheriges Verhalten bewiesen. Er hat jede
ihm passend erscheinende Gelegenheit ergriffen, um die natürliche
Entwickelungsgeschichte zu bekämpfen und seinen Lieblingssatz
zu wiederholen: «Es ist ganz gewiß, daß der Mensch nicht vom
Affen abstammt.» Beim fünfundzwanzig jährigen Stiftungsfest der
«Deutschen Anthropologischen Gesellschaft», am 24. August 1894,
kleidete er sogar diesen Satz in die wenig geschmackvollen
Worte: «Auf dem Wege der Spekulation ist man zu der Affen-
theorie gekommen; man hätte ebensogut ... zu einer Elefanten-
theorie oder einer Schaftheorie kommen können.» Dieser Aus-
spruch hat natürlich gegenüber den Ergebnissen der vergleichen-
den Zoologie nicht den geringsten Sinn. «Kein Zoologe» — be-
merkt Haeckel — «wird es für möglich halten, daß der Mensch
vom Elefanten oder vom Schafe abstammen könne. Denn gerade
diese beiden Säugetiere gehören zu den spezialisiertesten Zweigen
der Huftiere, einer Ordnung der Säugetiere, die mit derjenigen
der Affen oder Primaten in gar keinem direkten Zusammenhange
steht (ausgenommen die gemeinsame Abstammung von einer ur-
sprünglichen Stammesform der ganzen Klasse).» - So schwer es
dem verdienstvollen Naturforscher gegenüber wird: man kann
derlei Aussprüche nur als leere Redensarten bezeichnen. Virchow
befolgt bei seiner Bekämpfung der Deszendenztheorie eine ganz
eigentümliche Taktik. Er fordert unumstößliche Beweise für diese
Theorie. Sobald aber die Naturwissenschaft irgend etwas findet,
was die Kette der Beweise um ein neues Glied zu bereichern in
der Lage ist, dann sucht er dessen Beweiskraft in jeder Weise zu

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entkräften. Die Deszendenztheorie sieht in den berühmten Schä-
deln von Neanderthal, von Spy und so weiter vereinzelte paläonto-
logische Überreste von ausgestorbenen niederen Menschen-Ras-
sen, welche zwischen dem affenartigen Vorfahren des Menschen
(Pithecanthropus) und den niederen Menschen-Rassen der Gegen-
wart ein Übergangsglied bilden. Virchow erklärt diese Schädel für
abnorme, krankhafte Bildungen, für pathologische Produkte. Er
bildete sogar diese Behauptung dahin aus, daß alle Abweichungen
von den einmal feststehenden organischen Urformen solche patho-
logische Gebilde seien. Wenn wir also durch künstliche Züchtung
aus wildem Obst Tafelobst hervorbringen, so haben wir nur ein
krankes Naturobjekt erzeugt. Man kann den Virchowschen aller
Entwickelungstheorie feindlichen Satz: «Der Plan der Organisa-
tion ist innerhalb der Spezies unveränderlich, Art läßt nicht von
Art» nicht bequemer beweisen, als wenn man das, was vor unse-
ren Augen zeigt, wie Art von Art läßt, nicht als gesundes, natur-
gemäßes Entwickelungsprodukt, sondern als krankes Gebilde
erklärt. Ganz entsprechend diesem Verhalten Virchows zur Ab-
stammungslehre waren auch seine Behauptungen über die Knochen-
reste des Menschenaffen (Pithecanthropus erectus), die Eugen
Dubois 1894 in Java gefunden hat. Allerdings waren diese Über-
reste, ein Schädeldach, ein Oberschenkel und einige Zähne, un-
vollständig. Über sie entspann sich auf dem Zoologen-Kongreß in
Leiden [1895] eine Debatte, die höchst interessant war. Von zwölf
Zoologen waren drei der Ansicht, daß die Reste von einem Affen,
drei, daß sie von einem Menschen stammen, sechs vertraten die
Meinung, daß man es mit einer ausgestorbenen Übergangsform
zwischen Mensch und Affe zu tun habe. Dubois hat in einleuchten-
der Weise das Verhältnis dieses Mittelgliedes zwischen Mensch
und Affe einerseits zu den niederen Rassen des Menschen-
geschlechts, anderseits zu den bekannten Menschenaffen dar-
gelegt. Virchow erklärte, daß der Schädel und der Oberschenkel
nicht zusammengehören, sondern daß der erstere von einem Affen,
der letztere von einem Menschen herrühre. Diese Behauptung
wurde von sachkundigen Paläontologen widerlegt, die auf Grund
des gewissenhaften Fundberichtes sich dahin aussprachen, daß

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nicht der geringste Zweifel bestehen könne über die Herkunft
der Knochenreste von einem und demselben Individuum. Daß der
Oberschenkel nur von einem Menschen herrühren könne, suchte
Virchow durch eine Knochenwucherung an demselben zu bewei-
sen, die von einer nur durch sorgsame menschliche Pflege zur
Heilung gebrachten Krankheit herrühren müsse. Dagegen zeigte
der Paläontologe Marsh, daß ähnliche Knochenauswüchse auch
bei wilden Affen vorkommen. Eine dritte Behauptung Virchows,
daß die tiefe Einschnürung zwischen dem Oberrand der Augen-
höhlen und dem niederen Schädeldach des Pithecanthropus für
dessen Affennatur spreche, konnte der Paläontologe Nehring da-
mit zurückweisen, daß sich dieselbe Bildung an einem Menschen-
schädel von Santos in Brasilien findet.

Virchows Kampf gegen die Entwickelungslehre erscheint in


der Tat rätselhaft, wenn man bedenkt, daß dieser Forscher im
Beginne seiner wissenschaftlichen Laufbahn, vor der Veröffent-
lichung von Darwins «Entstehung der Arten» {1859}, die Lehre
von den mechanischen Grundlagen aller Lebenstätigkeit vertrat.
In Würzburg, wo Virchow von 1848-1856 lehrte, saß Haeckel
«andachtsvoll zu seinen Füßen und vernahm zuerst von ihm mit
Enthusiasmus jene klare und einfache Lehre». Die durch Darwin
geschaffene Umwandlungslehre, die ein umfassendes Erklärungs-
prinzip für diese Lehre liefert, bekämpft aber Virchow. Wenn er
gegenüber den Tatsachen der Versteinerungskunde, der verglei-
chenden Anatomie und Physiologie fortwährend betont, daß die
«sicheren Beweise» fehlen, so kann demgegenüber nur geltend
gemacht werden, daß zur Anerkennung der Entwickelungslehre
allerdings die Kenntnis der Tatsachen nicht ausreicht, sondern
daß dazu — wie Haeckel sagt — auch «ein philosophisches Ver-
ständnis» derselben gehört. Es «entsteht nur durch die innigste
Wechselwirkung und gegenseitige Durchdringung von Erfahrung
und Philosophie das unerschütterliche Gebäude der wahren moni-
stischen Wissenschaft» (Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte).
Gefährlicher als all die Schäden, die eine «Deszendenz-Religion»
in unreifen Köpfen anrichten kann, ist jedenfalls Virchows seit
Jahrzehnten unter dem Beifall der theologischen und anderer

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Reaktionäre geführter Kampf gegen die Abstammungslehre. Eine
sachliche Auseinandersetzung mit Virchow wird dadurch erschwert,
daß er im Grunde bei der bloßen Verneinung stehenbleibt und
sachliche Einwände gegen die Entwickelungslehre im allgemeinen
nicht vorbringt.

Andere naturwissenschaftliche Gegner Haeckels machen es uns


leichter, über sie zur Klarheit zu gelangen, weil sie die Gründe
für ihre Gegnerschaft angeben und wir daher die Fehler in ihren
Folgerungen einsehen können. Zu ihnen sind Wilhelm His und
Alexander Goette zu zählen.

His trat im Jahre 1868 mit seinen «Untersuchungen über die


erste Anlage des Wirbeltierleibes» auf. Sein Kampf richtet sich vor
allen Dingen gegen die Lehre, daß die Formentwickelung eines
höheren Organismus vom ersten Keim bis zum ausgebildeten Zu-
stande ihre Erklärung durch die Stammesentwickelung finde. Nicht
dadurch sollen wir diese Entwickelung erklären, daß wir sie als
Resultat der durch Vererbung und Anpassung vermittelten Ent-
wickelung der Generationen hinstellen, von denen der Einzel-
organismus abstammt, sondern wir sollen, ohne Rücksicht auf
vergleichende Anatomie und Stammesgeschichte, in dem Einzel-
organismus selbst die mechanischen Ursachen seines Werdens
suchen. His geht davon aus, daß der als gleichartige Fläche ge-
dachte Keim an verschiedenen Stellen ungleich wächst, und
behauptet, daß infolge dieses ungleichen Wachstums im Laufe
der Entwickelung der komplizierte Bau des Organismus hervor-
gehe. Er sagt: man nehme eine einfache Platte und stelle sich vor,
daß sie an verschiedenen Stellen einen verschiedenen Antrieb zur
Vergrößerung besitze. Dann wird man aus rein mathematischen
und mechanischen Gesetzen den Zustand entwickeln können, in
dem sich das Gebilde nach einiger Zeit befinden muß. Seine auf-
einanderfolgenden Formen werden genau den Entwickelungs-
stadien entsprechen, die der Einzelorganismus vom Keim bis zum
vollkommenen Zustande durchläuft. So brauchen wir also nicht
über die Betrachtung des Einzelorganismus hinauszugehen, um
seine Entwickelung zu begreifen, sondern wir können diese aus
dem mechanischen Wachstumsgesetz selbst ableiten. «Alle For-

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mung, bestehe sie in Blätterspaltung, in Faltenbildung oder in
vollständiger Abgliederung, geht als eine Folge aus jenem Grund-
gesetz hervor.» Die beiden Gliedmaßenpaare bringt das Wachs-
tumsgesetz auf folgende Weise zustande: «Ihre Anlage wird, den
vier Ecken eines Briefes ähnlich, durch die Kreuzung von vier
den Körper umgrenzenden Falten bestimmt.» His weist die Zu-
hilfenahme der Stammesgeschichte mit der Begründung ab: «Hat
die Entwicklungsgeschichte für eine gegebene Form die Aufgabe
physiologischer Ableitung durchgreifend erfüllt, dann darf sie mit
Recht von sich sagen, daß sie diese Form als Einzelform erklärt
habe.» In Wirklichkeit ist aber mit einer solchen Erklärung gar
nichts getan. Denn es fragt sich doch: warum wirken an verschie-
denen Stellen des Keimes verschiedene Wachstumskräfte. Sie wer-
den von His einfach als vorhanden angenommen. Die Erklärung
kann nur darin gesehen werden, daß die Wachstumsverhältnisse
der einzelnen Teile des Keimes von den Ahnentieren durch Ver-
erbung übertragen sind, daß somit der Einzelorganismus die auf-
einanderfolgenden Stufen seiner Entwickelung durchläuft, weil
die Veränderungen, die seine Vorfahren in großen Zeiträumen
erfahren haben, als Ursache seines individuellen Werdens nach-
wirken.

Zu welchen Konsequenzen die Anschauung von His führt, zeigt


sich am besten an seiner «Höhlenlappen-Theorie». Durch sie sol-
len die sogenannten «rudimentären Organe» des Organismus
erklärt werden. Es sind dies Teile, die am Organismus vorhanden
sind, ohne daß sie für das Leben desselben irgendwelche Bedeu-
tung haben. So hat der Mensch am inneren Winkel seines Auges
eine Hautfalte, die für die Verrichtungen seines Sehorgans ohne
jeden Zweck ist. Er hat auch die Muskeln, welche denen entspre-
chen, durch die gewisse Tiere ihre Ohren willkürlich bewegen
können. Dennoch können die meisten Menschen ihre Ohren nicht
bewegen. Manche Tiere besitzen Augen, die von einer Haut
bedeckt sind, also nicht zum Sehen dienen können. His erklärt
diese Organe als solche, denen «bis jetzt keine physiologische
Rolle sich hat zuteilen lassen, ... den Abfällen vergleichbar,
welche beim Zuschneiden eines Kleides auch bei der sparsamsten

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Verwendung des Stoffes sich nicht völlig vermeiden lassen». Die
Enrwickelungstheorie gibt für sie die einzig mögliche Erklärung.
Sie sind von den Voreltern ererbt. Bei diesen hatten sie ihren
guten Zweck. Tiere, die heute unter der Erde leben und nicht
sehende Augen haben, stammen von solchen Ahnen ab, die im
Lichte lebten und Augen brauchten. Im Laufe vieler Generationen
haben sich die Lebensverhältnisse eines solchen organischen Stam-
mes geändert. Die Lebewesen haben sich den neuen Verhältnissen
angepaßt, in denen ihnen die Sehorgane entbehrlich sind. Aber
diese sind als Erbstücke aus einer früheren Entwickelungsstufe
geblieben, nur sind sie im Laufe der Zeit verkümmert, weil sie
nicht gebraucht wurden. Diese rudimentären Organe sind eines
der stärksten Beweismittel für die natürliche Enrwickelungs-
theorie. Wenn beim Aufbau einer organischen Form irgendwelche
zwecksetzende Absichten geherrscht hätten: woher kämen diese
unzweckmäßigen Teile? Es gibt für sie keine andere mögliche Er-
klärung, als daß sie im Laufe vieler Generationen allmählich außer
Gebrauch gekommen sind.

Auch Alexander Goette ist der Ansicht, daß man die Entwicke-


lungsstadien des Einzelorganismus nicht auf dem Umwege durch
die Stammesgeschichte zu erklären brauche. Er leitet die Gestal-
tung des Organismus von einem «Formgesetze» ab, das zu den
physischen und chemischen Prozessen des Stoffes hinzutreten
muß, um das Lebewesen zu bilden. Er suchte diesen Standpunkt
ausführlich in seiner «Entwicklungsgeschichte der Unke» zu ver-
treten. «Das Wesen der Entwicklung besteht in der vollständi-
gen, aber ganz allmählichen Einführung eines neuen, von außen
bedingten Momentes, eben des Formgesetzes, in die Existenz
gewisser Naturkörper.» Da das Formgesetz von außen zu den
mechanischen und physikalischen Eigenschaften des Stoffes hinzu-
treten und nicht sich aus diesen Eigenschaften entwickeln soll, so
kann es nichts anderes als eine stoffreie Idee sein, und wir haben
in ihm nichts gegeben, was sich im wesentlichen von den Schöp-
fungsgedanken unterscheidet, die nach der dualistischen Welt-
anschauung den organischen Formen zugrunde liegen. Es soll ein
außer der organisierten Materie existierendes und deren Entwicke-

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lung verursachendes Motiv sein. Das heißt, es bedient sich der
stofflichen Gesetze ebenso als Handlanger wie die Idee Eduard
von Hartmanns. Goette muß dieses «Formgesetz» herbeirufen,
weil er der Meinung ist, daß «die individuelle Entwicklungs-
geschichte der Organismen» allein deren gesamte Gestaltung be-
gründet und erklärt. Wer leugnet, daß die wahren Ursachen der
Entwickelung des Einzelwesens ein historisches Ergebnis der Vor-
fahrenentwickelung sind, der wird notwendig zu solchen außer
dem Stoffe liegenden ideellen Ursachen greifen müssen.

Ein gewichtiges Zeugnis gegen solche Versuche, ideelle Gestal-


tungskräfte in die individuelle Entwickelungsgeschichte einzufüh-
ren, bieten die Leistungen solcher Naturforscher, welche die Ge-
staltungen höherer Lebewesen wirklich unter der Voraussetzung
erklärt haben, daß diese Gestaltungen die erbliche Wiederholung
von zahllosen stammesgeschichtlichen Veränderungen sind, die
sich während langer Zeiträume abgespielt haben. Ein schlagendes
Beispiel in dieser Hinsicht ist die schon von Goethe und Oken
vorgeahnte, aber erst von Carl Gegenbaur auf Grund der Deszen-
denztheorie in das rechte Licht gerückte «Wirbeltheorie der Schä-
delknochen». Er führte den Nachweis, daß der Schädel der höhe-
ren Wirbeltiere und auch des Menschen durch allmähliche Umbil-
dung eines Urschädels entstanden ist, dessen Form noch heute die
Urfische oder Selachier in ihrer Kopfbildung bewahren. Gestützt
auf solche Ergebnisse bemerkt daher Gegenbaur mit Recht: «An
der vergleichenden Anatomie wird die Deszendenztheorie zugleich
einen Prüfstein finden. Bisher besteht keine vergleichend-anato-
mische Erfahrung, die ihr widerspräche; vielmehr führen uns alle
darauf hin. So wird jene Theorie das von der Wissenschaft zurück-
empfangen, was sie ihrer Methode gegeben hat: Klarheit und
Sicherkeit» (vergleiche die Einleitung zu Gegenbaurs: «Verglei-
chende Anatomie»). Die Deszendenztheorie hat die Wissenschaft
darauf hingewiesen, die wirklichen Ursachen der individuellen
Entwickelung des Einzelorganismus bei dessen Vorfahren zu
suchen, und die Naturwissenschaft ersetzt auf diesem Wege alle
ideellen Entwickelungsgesetze, die von irgendwo außerhalb an den
organischen Stoff herantreten sollen, durch die tatsächlichen Vor-

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gange der Stammesgeschichte, die im Einzelwesen als Gestaltungs-
kräfte fortwirken.

Immer mehr nähert sich unter dem Einfluß der Deszendenz-


theorie die Naturwissenschaft dem großen Ziele, das einer der
größten Naturforscher des Jahrhunderts, Karl Ernst von Baer, mit
den Worten vorgezeichnet hat: «Ein Grundgedanke ist es, der
durch alle Formen und Stufen der tierischen Entwicklung geht
und alle einzelnen Verhältnisse beherrscht. Derselbe Grund-
gedanke ist es, der im Weltraum die verteilte Masse in Sphären
sammelte und diese zu Sonnensystemen verband; derselbe, der den
verwitterten Staub an der Oberfläche des Planeten in lebendige
Formen hervorwachsen ließ. Dieser Gedanke ist aber nichts als
das Leben selbst, und die Worte und Silben, in welchen er sich
ausspricht, sind die verschiedenen Formen des Lebendigen.» Ein
anderer Ausspruch Baers gibt dieselbe Vorstellung in anderer
Form: «Noch manchem wird ein Preis zuteil werden. Die Palme
aber wird der Glückliche erringen, dem es vorbehalten ist, die
bildenden Kräfte des tierischen Körpers auf die allgemeinen
Kräfte oder Lebensverrichtungen des Weltganzen zurückzuführen.»

Es sind dieselben allgemeinen Naturkräfte, die den auf einer


schiefen Ebene befindlichen Stein hinabrollen und die auch durch
die Entwickelung aus einer organischen Form die andere ent-
stehen lassen. Die Eigenschaften, die sich eine Form durch Genera-
tionen hindurch auf dem Wege der Anpassung erwirbt, die ver-
erbt sie auf ihre Nachkommen. Was ein Lebewesen gegenwärtig
von innen heraus aus seiner Keimesanlage entfaltet, das hat sich
bei seinen Ahnen äußerlich im mechanischen Kampf mit den
übrigen Naturkräften entwickelt. Um diese Ansicht festzuhalten,
dazu ist allerdings notwendig, daß man annimmt, die in diesem
äußeren Kampfe erworbenen Gestaltungen können sich wirklich
vererben. Deshalb wird durch die namentlich von August Weis-
mann verfochtene Meinung, daß sich erworbene Eigenschaften
nicht vererben, die ganze Entwickelungslehre in Frage gestellt. Er
ist der Ansicht, daß keine äußere Veränderung, die sich mit einem
Organismus vollzogen hat, auf die Nachkommen übertragen wer-
den kann, sondern daß sich nur dasjenige vererbt, was durch eine

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ursprüngliche Anlage des Keimes vorausbestimmt war. In den
Keimen der Organismen sollen unzählige Entwickelungsmöglich-
keiten liegen. Demnach können sich die organischen Formen im
Laufe ihrer Fortpflanzung verändern. Eine neue Form entsteht,
wenn in der Nachkommenschaft andere Entwickelungsmöglich-
keiten zur Entfaltung kommen als bei den Vorfahren. Von den
auf diese Weise immer neu entstehenden Formen werden sich
diejenigen erhalten, die den Kampf ums Dasein am besten
bestehen können. Formen, die diesem Kampfe nicht gewachsen
sind, werden untergehen. Wenn sich aus einer Entwickelungs-
möglichkeit eine Form bildet, die im Konkurrenzstreit besonders
tüchtig ist, so wird diese Form sich fortpflanzen, wenn das nicht
der Fall ist, muß sie untergehen. Man sieht, hier werden die
äußerlich auf den Organismus wirkenden Ursachen ganz aus-
geschaltet. Die Gründe, warum sich die Formen verändern, liegen
im Keime. Und der Kampf ums Dasein wählt von den aus den
verschiedensten Keimanlagen hervorgehenden Gestalten diejeni-
gen aus, die am tauglichsten sind. Die Eigenschaft eines Organis-
mus führt uns nicht hinauf zu einer Veränderung, die mit seinem
Vorfahren vor sich gegangen ist, als zu deren Ursache, sondern
zu einer Anlage im Keime dieses Vorfahren. Da also von außen
nichts an dem Aufbau der organischen Formen bewirkt werden
kann, so müssen im Keime der Urform, von der ein Stamm seine
Entwickelung begonnen hat, schon die Anlagen für die folgenden
Generationen liegen. Wir stehen wieder vor einer Einschachte-
lungslehre. Weismann denkt sich den fortschreitenden Prozeß,
durch den die Keime die Entwickelung besorgen, als einen stoff-
lichen Vorgang. Wenn ein Organismus entsteht, so wird von der
Keimmasse, aus der er sich entwickelt, ein Teil lediglich dazu
verwendet, einen neuen Keim behufs weiterer Fortpflanzung zu
bilden. In der Keimmasse eines Nachkommen ist also ein Teil
derjenigen der Eltern vorhanden, in der Keimmasse der Eltern ein
Teil derjenigen der Großeltern und so fort bis hinauf zu der Ur-
form. Durch alle sich auseinander entwickelnden Organismen
erhält sich also eine ursprünglich vorhandene Keimsubstanz. Dies
ist Weismanns Theorie von der Kontinuität und Unsterblichkeit

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des Keimplasmas. Er glaubt sich zu dieser Anschauung gedrängt,
weil ihm zahlreiche Tatsachen der Annahme einer Vererbung
erworbener Eigenschaften zu widersprechen scheinen. Als eine
besonders bemerkenswerte führt er das Vorhandensein der zur
Fortpflanzung unfähigen Arbeiter bei den staatenbildenden Insek-
ten, den Bienen, Ameisen und Termiten, an. Diese Arbeiter ent-
wickeln sich nicht aus besonderen Eiern, sondern aus denselben,
aus denen auch die fruchtbaren Individuen ihren Ursprung neh-
men. Werden weibliche Larven dieser Tiere sehr reichlich und
nahrhaft gefüttert, so legen sie Eier, aus denen Königinnen oder
Männchen hervorgehen. Ist die Fütterung weniger ausgiebig, so
bilden sich unfruchtbare Arbeiter. Es liegt nun nahe, die Ursache
der Unfruchtbarkeit einfach in der minderwertigen Ernährung zu
suchen. Diese Ansicht vertritt unter anderen Herbert Spencer, der
englische Denker, der auf der Grundlage der natürlichen Ent-
wickelungsgeschichte eine philosophische Weltanschauung auf-
gebaut hat. Weismann hält diese Ansicht nicht für richtig. Denn
bei der Arbeitsbiene bleiben die Fortpflanzungsorgane nicht etwa
nur in ihrer Entwickelung zurück, sondern sie werden rudimentär,
sie haben einen großen Teil der für die Fortpflanzung notwendi-
gen Teile nicht. Nun könne man aber bei anderen Insekten nach-
weisen, daß schlechte Ernährung durchaus keine solche Organ-
verkümmerung nach sich zieht. Die Fliegen sind den Bienen ver-
wandte Insekten. Weismann hat die von einem Weibchen der
Schmeißfliege gelegten Eier in zwei Partien getrennt aufgezogen
und die einen reichlich, die anderen spärlich gefüttert. Die letz-
teren wuchsen langsam und blieben auffallend klein. Aber sie
pflanzten sich fort. Daraus geht hervor, daß bei den Fliegen
schlechte Ernährung nicht das Unfruchtbarwerden bewirkt. Dann
kann aber auch bei dem Ur-Insekt, der gemeinsamen Stammform,
die man im Sinne der Entwickelungslehre für die verwandten
Arten der Bienen und Fliegen annehmen muß, die Eigentümlich-
keit noch nicht bestanden haben, durch schwache Ernährung un-
fruchtbar zu werden. Sondern es muß diese Unfruchtbarkeit eine
erworbene Eigenschaft der Biene sein. Zugleich kann aber auch
von einer Vererbung dieser Eigenschaft nicht die Rede sein, denn

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die Arbeiterinnen, die sie erworben haben, pflanzen sich nicht
fort, können demnach auch nichts vererben. Es muß also im
Bienenkeim selbst die Ursache dafür gesucht werden, daß sich
einmal Königinnen, das andere Mal Arbeiter entwickeln. Der
äußere Einfluß der schwachen Fütterung kann nichts bewirken,
weil er sich nicht vererbt. Er kann nur als Reiz wirken, der die
vorgebildete Keimanlage zur Entfaltung bringt. Durch Verall-
gemeinerung dieser und ähnlicher Ergebnisse kommt Weismann
zu dem Schluß: «Die äußere Einwirkung ist niemals die wirkliche
Ursache der Verschiedenheit, sondern sie spielt nur die Rolle des
Reizes, der darüber entscheidet, welche der vorhandenen Anlagen
zur Entwicklung gelangen soll. Die wirkliche Ursache aber liegt
immer in vorgebildeten Veränderungen der Anlagen des Körpers
selbst, und diese — da sie stets zweckmäßige sind — können in
ihrer Entstehung nur auf Selektionsprozesse bezogen werden», auf
die Auswahl der Tüchtigsten im Kampf ums Dasein. Der Kampf
ums Dasein (die Selektion) «allein ist das leitende und führende
Prinzip bei der Entwicklung der Organismenwelt». Derselben An-
sicht wie Weismann von der Nichtvererbung erworbener Eigen-
schaften und der Allmacht der Selektion huldigen auch die eng-
lischen Forscher Francis Galton und Alfred Russell Wallace.

Die Tatsachen, welche diese Forscher vorbringen, bedürfen


gewiß der Aufklärung. Sie können eine solche aber nicht in der
von Weismann angegebenen Richtung erfahren, wenn man nicht
die ganze monistische Entwickelungslehre preisgeben will. Zu
einem solchen Schritte können aber am wenigsten die Einwände
gegen die Vererbung erworbener Eigenschaften zwingen. Denn
man braucht nur die Entwickelung der Instinkte bei den höheren
Tieren zu betrachten, um sich davon zu überzeugen, daß eine
solche Vererbung stattfindet. Blicken wir zum Beispiel auf die
Entwickelung unserer Haustiere. Manche von ihnen haben sich
infolge des Zusammenlebens mit den Menschen geistige Fähig-
keiten angeeignet, von denen bei ihren wilden Vorfahren nicht
die Rede sein kann. Diese Fähigkeiten können doch gewiß nicht
aus einer inneren Anlage stammen. Denn der menschliche Ein-
fluß, die Erziehung, tritt als ein völlig Äußeres an diese Tiere

192


heran. Wie sollte eine innere Anlage gerade einer bestimmten
willkürlichen Einwirkung des Menschen entgegenkommen? Und
dennoch wird die Dressur zum Instinkt, und dieser vererbt sich
auf die Nachkommen. Ein solches Beispiel ist unwiderleglich. Von
seiner Art können unzählige gefunden werden. Die Tatsache der
Vererbung von erworbenen Eigenschaften besteht also, und es ist
zu hoffen, daß weitere Forschungen die ihr scheinbar widerspre-
chenden Erfahrungen Weismanns und seiner Anhänger mit dem
Monismus in Einklang bringen werden.

Weismann ist im Grunde doch nur auf halbem Wege zum


Dualismus stehengeblieben. Seine inneren Entwickelungs-Ursachen
haben nur einen Sinn, wenn sie als ideelle gefaßt werden. Denn
wären sie stoffliche Vorgänge im Keimplasma, so wäre nicht ein-
zusehen, warum diese stofflichen Vorgänge und nicht die des
äußeren Geschehens im Prozeß der Vererbung fortwirken sollten.
Konsequenter als Weismann ist ein anderer Naturforscher der
Gegenwart, nämlich J. Reinke, der mit seinem vor kurzem erschie-
nenen Buch: «Die Welt als Tat; Umrisse einer Weltansicht auf
naturwissenschaftlicher Grundlage» den Sprung ins dualistische
Lager ohne Rückhalt gemacht hat. Er erklärt, daß aus den phy-
sischen und chemischen Kräften der organischen Substanzen nie-
mals sich ein Lebewesen aufbauen könne. «Das Leben besteht
nicht in chemischen Eigenschaften einer besonderen Verbindung
oder einer Mehrzahl von Verbindungen. Wie aus den Eigen-
schaften von Messing und Glas sich noch nicht die Möglichkeit
der Entstehung des Mikroskops ergibt, so wenig folgt aus den
Eigenschaften der Eiweißstoffe, Kohlehydrate, Fette, des Lecithins,
Cholesterins und so weiter die Möglichkeit der Entstehung einer
Zelle» (S. 178 des genannten Werkes). Es müssen neben den stoff-
lichen Kräften noch geistige oder Kräfte zweiter Hand vorhanden
sein, welche den ersteren ihre Richtung geben, ihr Zusammen-
wirken so regeln, daß sich der Organismus ergibt. Diese Kräfte
zweiter Hand nennt Reinke Dominanten. «In der Verbindung der
Dominanten mit den Energien» — den Leistungen der physika-
lischen und chemischen Kräfte — «enthüllt sich uns eine Durch-
geistigung der Natur; in dieser Auffassung gipfelt mein natur-

193


wissenschaftliches Glaubensbekenntnis» (S. 455). Es ist nun nur
folgerichtig, daß Reinke auch eine allgemeine Weltvernunft an-
nimmt, welche ursprünglich die nur chemischen und physikali-
schen Kräfte in den Zusammenhang gebracht hat, in dem sie in
den organischen Wesen tätig sind.

Dem Vorwurf, daß durch eine solche von außen auf die stoff-


lichen Kräfte wirkende Vernunft die im Reich des Unorganischen
geltende Gesetzmäßigkeit für die organische Welt außer Kraft
gesetzt wird, sucht Reinke dadurch zu entgehen, daß er sagt: Die
allgemeine Weltvernunft ebenso wie die Dominanten bedienen
sich der mechanischen Kräfte, sie verwirklichen ihre Schöpfungen
nur mit Hilfe dieser Kräfte. Das Verhalten der Weltvernunft
stimmt mit dem eines Mechanikers überein, der auch die Natur-
kräfte arbeiten läßt, nachdem er ihnen die Richtung angewiesen
hat. Mit diesem Ausspruche wird aber wieder im Sinne Eduard
von Hartmanns die Art der Gesetzmäßigkeit, die sich in den
mechanischen Tatsachen ausspricht, zum Handlanger einer höhe-
ren, geistigen erklärt.

Goettes Formgesetz, Weismanns innere Entwickelungsursachen,


Reinkes Dominanten sind eben im Grunde doch nichts anderes
als Abkömmlinge der Gedanken des planmäßig bauenden Welt-
schöpfers. Sobald man die klare und einfache Erklärungsweise der
monistischen Weltansicht verläßt, verfällt man unbedingt mehr
oder weniger in mystisch-religiöse Vorstellungen, und von solchen
gilt Haeckels Satz, daß «es dann besser ist, die mysteriöse Schöp-
fung der einzelnen Arten anzunehmen».

Neben denjenigen Gegnern des Monismus, welche der Ansicht


sind, daß die Betrachtung der Welterscheinungen zu geistigen
Wesenheiten hinführe, die unabhängig von den stofflichen Er-
scheinungen sind, gibt es noch andere, die das Gebiet einer über
der natürlichen schwebenden übernatürlichen Weltordnung da-
durch retten wollen, daß sie dem menschlichen Erkenntnisvermö-
gen überhaupt die Fähigkeit absprechen, die letzten Gründe des
Weltgeschehens zu begreifen. Die Vorstellungen dieser Gegner
haben ihren beredtesten Anwalt in Du Bois-Reymond gefunden.
Seine auf der fünfundvierzigsten Versammlung deutscher Natur-

194


forscher und Ärzte (1872) gehaltene berühmte «Ignorabimus-
Rede» ist der Ausdruck ihres Glaubensbekenntnisses. Du Bois-
Reymond bezeichnet in dieser Rede als das höchste Ziel des Natur-
forschers die Erklärung aller Weltvorgänge, also auch des mensch-
lichen Denkens und Empfindens, durch mechanische Prozesse.
Gelingt es uns dereinst zu sagen, wie die Teile unseres Gehirnes
liegen und sich bewegen, wenn wir einen bestimmten Gedanken
oder eine Empfindung haben, so ist das Ziel der Naturerklärung
erreicht. Weiter können wir nicht kommen. Damit haben wir aber
nach Du Bois-Reymonds Ansicht nicht begriffen, worin das We-
sen unseres Geistes besteht. «Es scheint zwar bei oberflächlicher
Betrachtung, als könnten durch die Kenntnis der materiellen Vor-
gänge im Gehirn gewisse geistige Vorgänge und Anlagen uns ver-
ständlich werden. Ich rechne dahin das Gedächtnis, den Fluß und
die Assoziation der Vorstellungen, die Folgen der Übung, die spe-
zifischen Talente und dergleichen mehr. Das geringste Nachden-
ken lehrt, daß dies Täuschung ist. Nur über gewisse innere Be-
dingungen des Geisteslebens, welche mit den äußeren durch die
Sinneseindrücke gesetzten etwa gleichbedeutend sind, würden wir
unterrichtet sein, nicht über das Zustandekommen des Geistes-
lebens durch diese Bedingungen. - Welche denkbare Verbindung
besteht zwischen bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in
meinem Gehirn einerseits, andererseits den für mich ursprüng-
lichen, nicht weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tat-
sachen: Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot>, und der ebenso unmittelbar
daraus fließenden Gewißheit: ? Es ist eben durch-
aus und für immer unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Koh-
lenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht
sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie
lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen wer-
den.» (S. 35 f.) Wer aber heißt Du Bois-Reymond erst aus der
Materie den Geist auszutreiben, um nachher konstatieren zu kön-
nen, daß er nicht in ihr ist! Die einfache Anziehung und Ab-
stoßung des kleinsten Stoffteilchens ist Kraft, also eine von dem
Stoff ausgehende geistige Ursache. Aus den einfachsten Kräften

sehen wir in einer Stufenfolge von Entwickelungen sich den


komplizierten Menschengeist aufbauen. Wir begreifen ihn aus die-
sem seinem Werden. «Das Problem von der Entstehung und dem
Wesen des Bewußtseins ist nur ein spezieller Fall von dem gene-
rellen Hauptproblem: vom Zusammenhang von Materie und
Kraft.» (Haeckel, Freie Wissenschaft und freie Lehre. S. 80.) Die
Frage ist eben gar nicht: wie entsteht der Geist aus der geistlosen
Materie, sondern: wie entwickelt sich der kompliziertere Geist aus
den einfachsten geistigen Leistungen des Stoffes: aus der An-
ziehung und Abstoßung? In der Vorrede, die Du Bois-Reymond
zu dem Abdruck seiner «Ignorabimus-Rede» geschrieben hat, emp-
fiehlt er denjenigen, die nicht zufrieden sind mit seiner Erklärung
von der Unerkennbarkeit der tiefsten Gründe des Seins, daß sie es
doch mit den Glaubensvorstellungen der übernatürlichen Welt-
anschauung versuchen mögen. «Mögen sie es doch mit dem einzi-
gen anderen Ausweg versuchen, dem des Supranaturalismus. Nur
daß, wo Supranaturalismus anfängt, Wissenschaft aufhört.» Aber
ein solches Bekenntnis, wie das Du Bois-Reymonds, wird immer
dem Supranaturalismus Tür und Tor öffnen. Denn, wo man dem
menschlichen Geiste sein Wissen begrenzt, wird er seinen Glau-
ben an Nicht-mehr-Wißbares beginnen lassen.

Es gibt nur eine Rettung aus dem Glauben an eine übernatür-


liche Weltordnung, und das ist die monistische Erkenntnis, daß
alle Erklärungsgriinde für die Welterscheinungen auch innerhalb
des Gebietes dieser Erscheinungen liegen. Diese Erkenntnis kann
nur eine Philosophie liefern, die im innigsten Einklänge mit der
modernen Entwickelungslehre steht.

ANMERKUNGEN

1. Goethe und Kant (S. 156, Z. 4 ff. v. o.). Den Gegensatz, der zwischen
Goethes und Kants Weltanschauung besteht, habe ich in den Einleitungen
zu meiner Ausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (in
Kürschner «Deutsche National-Literatur») und in meinem Buche «Goethes
Weltanschauung» () charak-

196


terisiert. Er zeigt sich auch in der Stellung der beiden Persönlichkeiten zur
Erklärung der organischen Natur. Goethe sucht diese Erklärung auf dem
Wege, den auch die moderne Naturwissenschaft betreten hat. Kant hält eine
solche Erklärung für unmöglich. Nur wer sich in das Wesen von Goethes
Weltansicht vertieft, kann ein richtiges Urteil über ihre Stellung zur Kant-
schen Philosophie gewinnen. Die Selbstzeugnisse Goethes sind nicht maß-
gebend, da dieser sich nie in ein genaueres Studium Kants eingelassen hat.
«Der Eingang (der ) war es, der mir gefiel, ins
Labyrinth selbst könnt ich mich nicht wagen: bald hinderte mich die Dich-
tungsgabe, bald der Menschenverstand, und ich fühlte mich nirgend gebes-
sert.» Ihm gefielen einzelne Stellen in Kants «Kritik der Urteilskraft», weil
er ihren Sinn so umdeutete, daß er seiner eigenen Weltanschauung entsprach.
Es ist daher nur zu begreiflich, daß seine Gespräche mit Kantianern sich
wunderlich ausnahmen. «Sie hörten mich wohl, konnten mir aber nichts
erwidern, noch irgend förderlich sein. Mehr als einmal begegnete es mir, daß
einer oder der andere mit lächelnder Verwunderung zugestand: es sei frei-
lich ein Analogon Kantischer Vorstellungsart, aber ein seltsames.» Karl
Vorländer hat in seinem Aufsatz «Goethes Verhältnis zu Kant in seiner
historischen Entwicklung» (Kantstudien I, II) dieses Verhältnis nach dem
Wortlaut von Goethes Selbstzeugnissen beurteilt und mir vorgeworfen, daß
meine Auffassung «mit klaren Selbstzeugnissen Goethes in Widerspruch»
stehe und mindestens «stark einseitig» sei. Ich hätte diesen Einwand un-
erwidert gelassen, weil ich aus den Ausführungen des Herrn Karl Vorländer
sah, daß sie von einem Manne herrühren, dem es ganz unmöglich ist, eine
ihm fremde Denkweise zu verstehen; allein, es schien mir doch nötig, eine
daran geknüpfte Bemerkung nicht ohne Antwort zu lassen. Herr Vorländer
gehört nämlich zu denjenigen Menschen, die ihre Meinung für absolut rich-
tig, also aus der höchstmöglichen Einsicht herrührend, ansehen und jede
andere zu einem Produkte der Unwissenheit stempeln. Weil ich anders über
Kant denke als er, gibt er mir den weisen Rat, gewisse Partien in Kants
Werken zu studieren. Eine solche Art der Kritik fremder Meinungen kann
nicht stark genug zurückgewiesen werden. Wer gibt jemandem das Recht,
mich wegen einer von der seinigen abweichenden Anschauung nicht zu kri-
tisieren, sondern zu schulmeistern? Ich habe daher Herrn Karl Vorländer
im 4. Bande meiner Ausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften
meine Meinung über diese Schulmeistere! gesagt. Darauf hat er im III. Band
der «Kantstudien» mein Buch «Goethes Weltanschauung» in einer Weise
besprochen, die nicht nur das vorher wider mich Geleistete der Form nach
überbietet, sondern die auch voller objektiver Unwahrheiten ist. So spricht
er von einer «isolierten und verbitterten Opposition», in der ich mich gegen
die gesamte moderne Philosophie (exklusive natürlich Nietzsche) und Na-
turwissenschaft befinde. Das sind gleich drei objektive Unwahrheiten. Wer
meine Schriften liest - und wer über mich urteilt wie Herr Vorländer, sollte
sie doch lesen -, wird ersehen, daß ich zwar an einzelnen Anschauungen der

'97


modernen Naturwissenschaft sachliche Kritik übe und andere philosophisch
zu vertiefen suche, daß aber von einer verbitterten Opposition zu reden
geradezu absurd ist. In meiner «Philosophie der Freiheit» habe ich meine
Überzeugung dahin ausgesprochen, daß in meinen Anschauungen der philo-
sophische Abschluß des Gebäudes gegeben sei, das «Darwin und Haeckel
für die Naturwissenschaft errichtet haben» (XU. sie>). Daß ich es bin, der den Grundmangel in Nietzsches Ideenwelt scharf
betont hat, weiß zwar der Franzose Henri Lichtenberger, der in seinem
Buche «La philosophie de Nietzsche» sagt: «R. Steiner est l'auteur de Wahr-
heit und Wissenschaft et Die Philosophie der Freiheit; dans ce dernier
ouvrage il complete la theorie de Nietzsche sur un point important.» Er
betont, daß ich gezeigt habe, daß gerade Nietzsches «Übermensch» das nicht
ist, was er sein sollte. Der deutsche Philosoph Karl Vorländer hat entweder
meine Schriften nicht gelesen und urteilt dennoch über mich, oder er hat
das getan und schreibt die obigen und ähnliche objektive Unwahrheiten hin.
Ich überlasse es dem urteilsfähigen Publikum, zu entscheiden, ob sein Bei-
trag, der würdig befunden wurde, in eine ernste philosophische Zeitschrift
aufgenommen zu werden, ein Beweis für seine gänzliche Urteilslosigkeit
oder ein bedenklicher Beitrag zur deutschen Gelehrten-Moral ist.

2. Biogenetisches Grundgesetz (S. 162, Z. 2 ff. v. u.). Haeckel hat die all-
gemeine Geltung und weittragende Bedeutung des biogenetischen Grund-
gesetzes in einer Reihe von Arbeiten nachgewiesen. Die wichtigsten Auf-
schlüsse und Beweise findet man in seiner «Biologie der Kalkschwämme»
(1872) und in seinen «Studien zur Gasträa-Theorie» (1873-84). Seitdem
haben diese Lehre andere Zoologen ausgebaut und bestätigt. In seiner neue-
sten Schrift «Die Welträtsel» (1899) kann Haeckel von ihr sagen (S. 72):
«Obgleich dieselbe anfangs fast allgemein abgelehnt und während eines
Dezenniums von zahlreichen Autoritäten heftig bekämpft wurde, ist sie
doch gegenwärtig (seit etwa fünfzehn Jahren) von allen sachkundigen Fach-
genossen angenommen.»

3. Haeckels neueste Schrift (S. 163, Z. 3 ff. v. u.). In seinem kürzlich er-


schienenen Buche «Die Welträtsel, Gemeinverständliche Studien über mo-
nistische Philosophie» (Bonn, Emil Strauß, 1899) hat Haeckel rückhaltlos
die «weitere Ausführung, Begründung und Ergänzung der Überzeugungen»
gegeben, die er in den oben angeführten Schriften bereits ein Menschen-
alter hindurch vertreten hat. Demjenigen, der die naturwissenschaftlichen
Erkenntnisse unserer Zeit in sich aufgenommen hat, muß dieses Werk als
eines der bedeutendsten Manifeste vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts
erscheinen. Es enthält in reifer Form eine vollständige Auseinandersetzung
der modernen Naturwissenschaft mit dem philosophischen Denken aus dem
Geiste des genialsten, weitblickendsten Naturforschers unserer Zeit heraus.

198


4. Zweckmäßigkeit und Zweck (S. 170, Z. 18 ff. v.u.). Es wird von den-
jenigen, die gerne gläubig an dem Vorhandensein von Zwecken in der Na-
tur festhalten möchten, immer wieder betont, daß Darwins Anschauungen
den Zweckgedanken doch nicht beseitigten, sondern ihn erst recht benutzen,
indem sie zeigen, wie die Verkettung von Ursachen und Wirkungen durch
sich selbst notwendig zur Entstehung des Zweckmäßigen führen müsse. Es
kommt aber nicht darauf an, ob man das Vorhandensein von zweckmäßigen
Bildungen in der Natur zugibt oder nicht, sondern ob man annimmt oder
ablehnt, daß der Zweck, das Ziel als Ursache bei Entstehung dieser Bildun-
gen mitwirkt. Wer diese Annahme macht, der vertritt die Teieologie oder
Zweckmäßigkeitslehre. Wer dagegen sagt: der Zweck ist in keiner Weise
bei der Entstehung der organischen Welt tätig; die Lebewesen entstehen
nach notwendigen Gesetzen wie die unorganischen Erscheinungen, und die
Zweckmäßigkeit ist nur da, weil das Unzweckmäßige sich nicht erhalten
kann; sie ist nicht der Grund der Vorgänge, sondern deren Folge: der be-
kennt sich zum Darwinismus. Das beachtet nicht, wer wie Otto Liebmann
behauptet: «Einer der größten Teleologen der Gegenwart ist Charles Dar-
win» (Gedanken und Tatsachen, 1. Heft, S. 113). Nein, er ist der größte
Antiteleologe, weil er solchen Geistern wie Liebmann, wenn sie ihn ver-
stünden, zeigen würde, daß das Zweckgemäße erklärt werden kann, ohne daß
man die Tätigkeit von wirkenden Zwecken voraussetzt.

5. Denkorgane (S. 172, Z. 9 ff. v. o.). In neuester Zeit ist es Paul Flechsig


gelungen, nachzuweisen, daß in einem Teile der Denkorgane des Menschen
sich verwickelte Strukturen finden, die bei den übrigen Säugetieren nicht
vorhanden sind. Sie vermitteln offenbar diejenigen geistigen Tätigkeiten,
durch die der Mensch sich vom Tiere unterscheidet.

6. Menschliche und tierische Seelenkunde (S. 179, Z. 11 ff. v. o.). Das


Verdienst, gezeigt zu haben, daß kein wirklicher Gegensatz zwischen Tier-
und Menschenseele besteht, sondern daß in einer naturgemäßen Entwicke-
lungsreihe sich die Geistestätigkeiten des Menschen an die der Tiere als eine
höhere Form derselben anschließen, gebührt George John Romanes, der
in einem umfassenden Werke: «Die geistige Entwicklung im Tierreich»
(1. Band, Leipzig 1885) und «Die geistige Entwicklung beim Menschen.
Ursprung der menschlichen Fähigkeiten» (2. Band, Leipzig 1893) gezeigt
hat, «daß die psychologische Schranke zwischen Tier und Mensch überwun-
den ist».

7. Virchow und Darwin (S. 181 ff.). Am 3. Oktober 1898 hielt Virchow


die zweite der «Huxley Lectures» in der Charing Cross Hospital Medical
School zu London, in der er sagte: «Ich darf annehmen, daß mir ein solcher
Auftrag nicht erteilt worden wäre, wenn die Auftraggeber nicht gewußt

199


hätten, wie tief das Gefühl der Verehrung für Huxley in meiner Seele ist,
wenn sie nicht gesehen hätten, wie ich von den ersten bahnbrechenden
Publikationen des verstorbenen Meisters an seine Leistungen anerkannt und
wie sehr ich die Freundschaft geschätzt habe, die er mir persönlich zuteil
werden ließ.> Nun bedeuten gerade diese bahnbrechenden Publikationen
Huxleys den ersten großen Schritt zur Ausbildung der Theorie von der
Affenabstammung des Menschen, die Virchow bekämpft und über die er
auch in dem Huxley-Vortrag «Die neueren Fortschritte in der Wissenschaft»
nichts zu sagen weiß als einige gegenüber dem heutigen Stande der Frage
ganz bedeutungslose Worte, wie: «Man mag über die Entstehung des Men-
schen denken, wie man will, die Überzeugung von der prinzipiellen Über-
einstimmung der menschlichen und der tierischen Organisation ist gegen-
wärtig allgemein angenommen ... und so weiter. >

8. Unzweckmäßige Organe (S. 187, Z. 12 ff. v. o.). Über diese Organe


sagt Haeckel in seinem Buche «Die Welträtsel», S. 306: «Alle höheren
Tiere und Pflanzen, überhaupt alle diejenigen Organismen, deren Körper
nicht ganz einfach gebaut, sondern aus mehreren, zweckmäßig zusammen-
wirkenden Organen zusammengesetzt ist, lassen bei aufmerksamer Unter-
suchung eine Anzahl von nutzlosen oder unwirksamen, ja zum Teil sogar
gefährlichen und schädlichen Einrichtungen erkennen ... Die Erklärung
dieser zwecklosen Einrichtungen finden wir sehr einfach durch die Deszen-
denztheorie. Sie zeigt, daß diese rudimentären Organe verkümmert sind,
und zwar durch Nichtgebrauch... Der blinde Kampf ums Dasein zwischen
den Organen bedingt ebenso ihren historischen Untergang, wie er ursprüng-
lich ihre Entstehung und Ausbildung verursachte.»

9. Andere Gegner Haeckels (S. 194 ff.). Hier konnte nur von solchen


Einwänden gegen Haeckels Lehre gesprochen werden, die gewissermaßen
typisch sind und die ihren Grund in veralteten, aber noch immer einfluß-
reichen Gedankenkreisen haben. Die zahlreichen «Widerlegungen» Haek-
kels, die sich nur als Abarten der verzeichneten Haupteinwände darstellen,
mußten ebenso unberücksichtigt bleiben wie diejenigen, die Haeckel selbst
am besten in seinem Buche über «Die Welträtsel» abgetan hat, indem er
den wackern Kämpfern sagt: «Erwerbet Euch durch fünfjähriges fleißiges
Studium der Naturwissenschaft und besonders der Anthropologie (speziell
der Anatomie und Physiologie des Gehirns!) diejenigen unentbehrlichen
empirischen Vorkenntnisse der fundamentalen Tatsachen, die Euch noch
gänzlich fehlen.» (1. Aufl., S. 444.)

10. Erkenntnis grenzen (S. 194, Z. 10 ff. v. u.). Auf welchem Mißver-


ständnis die Annahme von Erkenntnisgrenzen beruht, habe ich nachgewie-
sen in meiner «Philosophie der Freiheit».

200


GOETHE-STUDIEN

Grund-Ideen

Zum vollen Verständnis des Goetheschen Innenlebens, seiner
Welt- und Lebensbetrachtung gelangt man nicht durch bloßes
äußerliches Kommentieren seiner Werke. Man muß vielmehr auf
den philosophischen Kern seines ganzen Wesens zurückgehen.
Goethe war kein Philosoph im wissenschaftlichen Fachsinne, aber
er war eine philosophische Natur.

Ich möchte diese Natur hier mit einigen Gedanken festhalten,


um dann einmal Goethes Stellung zum Christentum zu kennzeich-
nen. In unserer reaktionären Gegenwart scheint es mir nicht un-
berechtigt zu sein, über das Verhältnis dieses führenden Geistes
zu religiösen Fragen nachzudenken.

Der Mensch ist nicht zufrieden mit dem, was die Natur freiwil-


lig seinem beobachtenden Geiste darbietet. Er fühlt, daß sie, um
die Mannigfaltigkeit ihrer Schöpfungen hervorzubringen, Trieb-
kräfte braucht, die er selbst durch Beobachtung und Denken
gewinnen muß. In dem menschlichen Geiste selbst liegt das Mit-
tel, die Triebkräfte der Natur zu enthüllen. Aus dem Menschen-
geiste steigen die Ideen auf, die Aufklärung darüber bringen, wie
die Natur ihre Schöpfungen zustande bringt. Wie die Erscheinun-
gen der Außenwelt zusammenhängen, im Innern des Menschen
wird es offenbar. Was der menschliche Geist an Naturgesetzen
erdenkt: es ist nicht zur Natur hinzuerfunden, es ist die eigene
Wesenheit der Natur; und der Geist ist nur der Schauplatz, auf
dem die Natur die Geheimnisse ihres Wirkens sichtbar werden
läßt. Was wir an den Dingen beobachten, das ist nur ein Teil der
Dinge. Was in unserem Geiste emporquillt, wenn er sich den
Dingen gegenüberstellt, das ist der andere Teil. Dieselben Dinge
sind es, die von außen zu uns sprechen und die in uns sprechen.
Erst wenn wir die Sprache der Außenwelt mit der unseres Innern
zusammenhalten, haben wir die volle Wirklichkeit.

Der Geist sieht das, was die Erfahrung enthält, in zusammen-

201

hängender Gestalt. Er sucht Gesetze, wo die Natur ihm Tat-


sachen bietet.

Philosoph und Künstler haben das gleiche Ziel. Sie suchen das


Vollkommene zu gestalten, das ihr Geist erschaut, wenn sie die
Natur auf sich wirken lassen. Aber es stehen ihnen verschiedene
Mittel zu Gebote, um dies Ziel zu erreichen. In dem Philosophen
leuchtet ein Gedanke, eine Idee auf, wenn er einem Naturprozeß
gegenübersteht. Diese spricht er aus. In dem Künstler entsteht ein
Bild dieses Prozesses, das diesen vollkommener zeigt, als er sich
in der Außenwelt beobachten läßt. Philosoph und Künstler bilden
die Beobachtung auf verschiedenen Wegen weiter. Der Künstler
braucht die Triebkräfte der Natur in der Form nicht zu kennen,
in der sie sich dem Philosophen enthüllen. Wenn er ein Ding
oder einen Vorgang wahrnimmt, so entsteht unmittelbar ein Bild
in seinem Geiste, in dem die Gesetze der Natur in vollkom-
menerer Form ausgeprägt sind als in dem entsprechenden Dinge
oder Vorgange der Außenwelt. Diese Gesetze in Form des Gedan-
kens brauchen nicht in seinen Geist einzutreten. Erkenntnis und
Kunst sind aber doch innerlich verwandt. Sie zeigen die Gesetze
der Natur, die in dieser als Tatsachen herrschen.

Wenn nun in dem Geiste eines echten Künstlers außer voll-


kommenen Bildern der Dinge auch noch die Triebkräfte der
Natur in Form von Gedanken sich aussprechen, so tritt der
gemeinsame Quell von Philosophie und Kunst uns besonders deut-
lich vor Augen. Goethe ist ein solcher Künstler. Er offenbart uns
die gleichen Geheimnisse in der Form seiner Kunstwerke und in
der Form des Gedankens. Was er in seinen Dichtungen gestaltet,
das spricht er in seinen natur- und kunstwissenschaftlichen Auf-
sätzen und in seinen «Sprüchen in Prosa» in Form des Gedankens
aus. Die tiefe Befriedigung, die von diesen Aufsätzen und Sprü-
chen ausgeht, hat darin ihren Grund, daß man den Einklang von
Kunst und Erkenntnis in einer Persönlichkeit verwirklicht sieht.
Das Gefühl hat etwas Erhebendes, das bei jedem Goetheschen
Gedanken auftritt: hier spricht jemand, der zugleich das Vollkom-
mene, das er in Ideen ausdrückt, im Bilde schauen kann. Die
Kraft eines solchen Gedankens wird verstärkt durch dieses Ge-

202


fühl. Was aus den höchsten Bedürfnissen einer Persönlichkeit
stammt, muß innerlich zusammengehören. Goethes Weisheitsleh-
ren antworten auf die Frage: was für eine Philosophie ist der
echten Kunst gemäß?

Was aus dem menschlichen Geiste entspringt, wenn dieser sich


beobachtend und denkend der Außenwelt gegenüberstellt, ist die
Wahrheit. Der Mensch kann keine andere Erkenntnis verlangen
als eine solche, die er selbst hervorbringt. Wer hinter den Din-
gen noch etwas sucht, das deren eigentliches Wesen bedeuten soll,
der hat sich nicht zum Bewußtsein gebracht, daß alle Fragen
nach dem Wesen der Dinge nur aus einem menschlichen Bedürf-
nisse entspringen: das, was man wahrnimmt, auch mit dem Ge-
danken zu durchdringen. Die Dinge sprechen zu uns, und unser
Inneres spricht, wenn wir die Dinge beobachten. Diese zwei Spra-
chen stammen aus demselben Urwesen, und der Mensch ist beru-
fen, deren gegenseitiges Verständnis zu bewirken. Darin besteht
das, was man Erkenntnis nennt. Und dies und nichts anderes
sucht der, der die Bedürfnisse der menschlichen Natur versteht.
Wer zu diesem Verständnisse nicht gelangt, dem bleiben die
Dinge der Außenwelt fremdartig. Er hört aus seinem Innern das
Wesen der Dinge nicht zu sich sprechen. Deshalb vermutet er,
daß dieses Wesen hinter den Dingen verborgen sei. Er glaubt an
eine Außenwelt noch hinter der Wahrnehmungswelt. Aber die
Dinge sind uns nur so lange fremd, solange wir sie bloß beobach-
ten. Für den Menschen besteht nur so lange der Gegensatz von
objektiver äußerer Wahrnehmung und subjektiver innerer Ge-
dankenwelt, als er die Zusammengehörigkeit dieser Welten nicht
erkennt. Die menschliche Innenwelt gehört als ein Glied zum
Weltprozeß wie jeder andere Vorgang.

Diese Gedanken werden nicht widerlegt durch die Tatsache,


daß verschiedene Menschen sich verschiedene Vorstellungen von
den Dingen machen. Auch nicht dadurch, daß die Organisationen
der Menschen verschieden sind, so daß man nicht weiß, ob eine
und dieselbe Farbe von verschiedenen Menschen in der ganz

203


gleichen Weise gesehen wird. Denn nicht darauf kommt es an,
ob sich die Menschen über eine und dieselbe Sache genau das
gleiche Urteil bilden, sondern darauf, ob die Sprache, die das
Innere des Menschen spricht, eben die Sprache ist, die das Wesen
der Dinge ausdrückt. Die einzelnen Urteile sind nach der Organi-
sation des Menschen und nach dem Standpunkte, von dem aus er
die Dinge betrachtet, verschieden; aber alle Urteile entspringen
dem gleichen Elemente und führen in das Wesen der Dinge.
Dieses kann in verschiedenen Gedankennuancen zum Ausdruck
kommen; aber es bleibt deshalb doch das Wesen der Dinge.

Der Mensch ist das Organ, durch das die Natur ihre Geheim-


nisse enthüllt. In der subjektiven Persönlichkeit erscheint der
tiefste Gehalt der Welt. «Wenn die gesunde Natur des Menschen
als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem
großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das
harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt:
dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte,
als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eige-
nen Werdens und Wesens bewundern» (Goethe, Winckelmann:
Antikes). Die moderne Naturwissenschaft spricht denselben Ge-
danken durch ihre Mittel und mit ihren Methoden aus. «Dafür
steht ja aber der Mensch so hoch, daß sich das sonst Undarstell-
bare in ihm darstellt. Was ist denn eine Saite und alle mecha-
nische Teilung derselben gegen das Ohr des Musikers? Ja man
kann sagen, was sind die elementarischen Erscheinungen der Na-
tur selbst gegen den Menschen, der sie alle erst bändigen und
modifizieren muß, um sie sich einigermaßen assimilieren zu
können?» (Goethe, Sprüche in Prosa.)

Wenn ein Ding durch das Organ des menschlichen Geistes


seine Wesenheit ausspricht, so kommt die volle Wirklichkeit nur
durch den Zusammenfluß von Beobachtung und Denken zu-
stande. Weder durch einseitiges Beobachten noch durch einsei-
tiges Denken erkennt der Mensch die Wirklichkeit. Diese ist

204


nicht als etwas Fertiges in der objektiven Welt vorhanden, son-
dern wird erst durch den menschlichen Geist in Verbindung mit
den Dingen hervorgebracht. Wer ausschließlich die Erfahrung an-
preist, dem muß man mit Goethe erwidern, «daß die Erfahrung
nur die Hälfte der Erfahrung ist». «Alles Faktische ist schon
Theorie» (Sprüche in Prosa), das heißt, es offenbart sich im
menschlichen Geiste ein Gesetzliches, wenn er ein Faktisches
betrachtet. Diese Weltauffassung, die in den Ideen die Wesenheit
der Dinge erkennt und die Erkenntnis auffaßt als ein Einleben
in das Wesen der Dinge, ist nicht Mystik. Sie hat aber mit der
Mystik das gemein, daß sie die objektive Wahrheit nicht als
etwas in der Außenwelt Vorhandenes betrachtet, sondern als etwas,
das sich im Innern des Menschen wirklich ergreifen läßt. Die ent-
gegengesetzte Weltanschauung versetzt die Gründe der Dinge
hinter die Erscheinungen, in ein der menschlichen Erfahrung jen-
seitiges Gebiet. Sie kann nun entweder sich einem blinden Glau-
ben an diese Gründe hingeben, der von einer positiven Offen-
barungsreligion seinen Inhalt enthält, oder Verstandes-Hypothe-
sen und Theorien darüber aufstellen, wie dieses jenseitige Gebiet
der Wirklichkeit beschaffen ist. Der Mystiker wie auch der Be-
kenner der Goetheschen Weltanschauung lehnen sowohl den
Glauben an ein Jenseitiges wie auch die Hypothesen über ein sol-
ches ab und halten sich an das wirkliche Geistige, das sich in dem
Menschen selbst ausspricht. Goethe schreibt an Jacobi: «Gott hat
dich mit der Metaphysik gestraft und dir einen Pfahl ins Fleisch
gesetzt, mich dagegen mit der Physik gesegnet... Ich halte mich
fest und fester an die Gottesverehrung des Atheisten (Spinoza)
und überlasse euch alles, was ihr Religion heißt und heißen müßt.
Du hältst aufs Glauben an Gott, ich aufs Schauen.» Was Goethe
schauen will, ist die in seiner Ideenwelt sich ausdrückende We-
senheit der Dinge. Auch der Mystiker will durch Versenkung in
das eigene Innere die Wesenheit der Dinge erkennen; aber er
lehnt gerade die in sich klare und durchsichtige Ideenwelt ab als
untauglich zur Erlangung einer höheren Erkenntnis. Er glaubt,
nicht sein Ideenvermögen, sondern andere Kräfte seines Inneren
entwickeln zu müssen, um die Urgründe der Dinge zu schauen.

205


Gewöhnlich sind es unklare Empfindungen und Gefühle, in denen
der Mystiker das Wesen der Dinge zu ergreifen glaubt. Aber Ge-
fühle und Empfindungen gehören nur zum subjektiven Wesen
des Menschen. In ihnen spricht sich nichts über die Dinge aus.
Allein in den Ideen der Naturgesetzmäßigkeit sprechen die Dinge
selbst. Die Mystik ist eine oberflächliche Weltanschauung, trotz-
dem die Mystiker den Vernunftmenschen gegenüber sich viel auf
ihre «Tiefe» zugute tun. Sie wissen nichts über die Natur der Ge-
fühle, sonst würden sie sie nicht für Aussprüche des Wesens der
Welt halten; und sie wissen nichts von der Natur der Ideen,
sonst würden sie diese nicht für flach und rationalistisch halten.
Sie ahnen nicht, was Menschen, die wirklich Ideen haben, in die-
sen erleben. Aber für viele sind Ideen eben bloße Worte. Sie kön-
nen die unendliche Fülle ihres Inhaltes sich nicht aneignen. Kein
Wunder, daß sie ihre eigenen ideenlosen Worthülsen als leer
empfinden.

Wer den wesentlichen Inhalt der objektiven Welt in dem eige-


nen Innern sucht, der kann auch das Wesentliche der sittlichen
Weltordnung nur in die menschliche Natur selbst verlegen. Wer
eine jenseitige Wirklichkeit hinter der menschlichen vorhanden
glaubt, der muß in ihr auch den Quell des Sittlichen suchen. Denn
das Sittliche im höheren Sinne kann nur aus dem Wesen der
Dinge kommen. Der Jenseitsgläubige nimmt deshalb sittliche Ge-
bote an, denen sich der Mensch zu unterwerfen hat. Diese Gebote
gelangen zu ihm entweder auf dem Wege einer Offenbarung,
oder sie treten als solche in sein Bewußtsein ein, wie es beim
kategorischen Imperativ Kants der Fall ist. Wie dieser aus dem
jenseitigen «An sich» der Dinge in unser Bewußtsein kömmt,
darüber wird nichts gesagt. Er ist einfach da, und man hat sich
ihm zu unterwerfen.

Goethe läßt das Sittliche aus der Naturwelt des Menschen ent-


stehen. Nicht objektive Normen und auch nicht die bloße Trieb-
welt lenken das sittliche Handeln, sondern die zu sittlichen Ideen
gewordenen natürlichen Triebe des tierischen Lebens, durch die

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sich der Mensch selbst die Richtung gibt. Ihnen folgt er, weil er
sie liebt, wie man ein Kind liebt. Er will ihre Verwirklichung
und setzt sich für sie ein, weil sie ein Teil seines eigenen Wesens
sind. Die Idee ist die Richtschnur; und die Liebe ist die treibende
Kraft in der Goetheschen Ethik. Ihm ist «Pflicht, wo man liebt,
was man sich selbst befiehlt» (Sprüche in Prosa).

Ein Handeln im Sinne der Goetheschen Ethik ist zwar natur-


gemäß bedingt, aber ethisch frei. Denn der Mensch ist von nichts
abhängig als von seinen eigenen Ideen. Und er ist niemandem
verantwortlich als sich selbst. Ich habe bereits in meiner «Philo-
sophie der Freiheit» den billigen Einwand entkräftet, daß die
Folge einer sittlichen Weltordnung, in der jeder nur sich selbst
gehorcht, die allgemeine Unordnung und Disharmonie des mensch-
lichen Handelns sein müßte. Wer diesen Einwand macht, der
übersieht, daß die Menschen gleichartige Wesen sind und daß
sie deshalb niemals sittliche Ideen produzieren werden, die durch
ihre wesentliche Verschiedenheit einen unharmonischen Zusam-
menklang bewirken werden.

Moral und Christentum

Die Stellung unserer erkennenden Persönlichkeit zum objek-
tiven Weltwesen gibt uns auch unsere ethische Physiognomie.
Was bedeutet für uns der Besitz von Erkenntnis und Wissen-
schaft?

In unserem Wissen lebt sich der innerste Kern der Welt aus.


Die gesetzmäßige Harmonie, von der das Weltall beherrscht wird,
kommt in der menschlichen Erkenntnis zur Erscheinung.

Es gehört somit zum Berufe des Menschen, die Grundgesetze


der Welt, die sonst zwar alles Dasein beherrschen, aber nie selbst
zum Dasein kommen würden, in das Gebiet der erscheinenden
Wirklichkeit zu versetzen. Das ist das Wesen des Wissens, daß
es aus der objektiven Realität die ihr zugrunde liegende wesen-
hafte Gesetzmäßigkeit herauslöst. Unser Erkennen ist — bildlich
gesprochen — ein stetiges Hineinleben in den Weltengrund.

207


Eine solche Überzeugung muß auch Licht auf unsere praktische
Lebensauffassung werfen.

Unsere Lebensführung ist ihrem ganzen Charakter nach be-


stimmt durch unsere sittlichen Ideale. Diese sind die Ideen, die
wir von unseren Aufgaben im Leben haben, oder mit anderen
Worten, die wir uns von dem machen, was wir durch unser Han-
deln vollbringen sollen.

Unser Handeln ist ein Teil des allgemeinen Weltgeschehens. Es


steht somit auch unter der allgemeinen Gesetzmäßigkeit dieses
Geschehens.

Wenn nun irgendwo im Universum ein Geschehen auftritt, so


ist an demselben ein zweifaches zu unterscheiden: der äußere
Verlauf desselben in Raum und Zeit und die innere Gesetzmäßig-
keit davon.

Die Erkenntnis dieser Gesetzmäßigkeit für das menschliche


Handeln ist nur ein besonderer Fall des Erkennens. Die von uns
über die Natur der Erkenntnis abgeleiteten Anschauungen müssen
also auch hier anwendbar sein. Sich als handelnde Persönlichkeit
erkennen, heißt somit: für sein Handeln die entsprechenden Ge-
setze, das heißt die sittlichen Begriffe und Ideale als Wissen zu
besitzen. Wenn wir diese Gesetzmäßigkeit erkannt haben, dann
ist unser Handeln auch unser Werk. Die Gesetzmäßigkeit ist dann
nicht als etwas gegeben, was außerhalb des Objektes liegt, an dem
das Geschehen erscheint, sondern als der Inhalt des in lebendigem
Tun begriffenen Objektes selbst. Das Objekt ist in diesem Falle
unser eigenes Ich. Hat dies letztere sein Handeln dem Wesen
nach wirklich erkennend durchdrungen, dann fühlt es sich zu-
gleich als den Beherrscher desselben. Solange ein solches nicht
stattfindet, stehen die Gesetze des Handelns uns als etwas Fremdes
gegenüber; sie beherrschen uns; was wir vollbringen, steht unter
dem Zwange, den sie auf uns ausüben. Sind sie aus solcher frem-
den Wesenheit in das ureigene Tun unseres Ich verwandelt, dann
hört dieser Zwang auf. Was die Zweckmäßigkeits-ideen der
Teleologie für die Wissenschaft der Lebewesen, ist der katego-
rische Imperativ für das menschliche Handeln. Die Zweckmäßig-
keits-ideen hindern das Forschen nach rein natürlichen Gesetzen

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der organischen Wesen; der kategorische Imperativ hindert das
Ausleben der rein natürlichen moralischen Antriebe. Das Zwin-
gende ist unser eigenes Wesen geworden. Die Gesetzmäßigkeit
herrscht nicht mehr über uns, sondern in uns über das von
unserem Ich ausgehende Geschehen. Die Verwirklichung eines
Geschehens vermöge einer außer dem Verwirklicher stehenden
Gesetzmäßigkeit ist ein Akt der Unfreiheit, jene durch den Ver-
wirklicher selbst ein solcher der Freiheit. Die Gesetze seines Han-
delns erkennen, heißt, sich seiner Freiheit bewußt sein. Der Er-
kenntnisprozeß ist, nach unseren Ausführungen, der Entwicke-
lungsprozeß zur Freiheit.

Wie wenig Verständnis für die ethischen Anschauungen Goethes


sowohl wie für eine Ethik der Freiheit und des Individualismus
im allgemeinen in der Gegenwart vorhanden ist, zeigt folgender
Umstand. Ich habe im Jahre 1892 in einem Aufsatz der «Zukunft»
(Nr. 5) mich für eine antiteleologische monistische Auffassung
der Moral ausgesprochen. Auf diesen Aufsatz hat Herr Ferdinand
Tönnies in Kiel in einer Broschüre «Ethische Kultur und ihr Ge-
leite. Nietzsche-Narren in Zukunft und Gegenwart» (Berlin 1893)
geantwortet. Er hat nichts vorgebracht als die Hauptsätze der in
philosophische Formeln gebrachten Philistermoral. Von mir aber
sagt er, daß ich «auf dem Wege zum Hades keinen schlimmeren
Hermes» hätte finden können als Friedrich Nietzsche. Wahrhaft
komisch wirkt es auf mich, daß Herr Tönnies, um mich zu ver-
urteilen, einige von Goethes «Sprüchen in Prosa» vorbringt. Er
ahnt nicht, daß, wenn es für mich einen Hermes gegeben hat, es
nicht Nietzsche, sondern Goethe war. Ich habe die Beziehungen
der Ethik der Freiheit zur Ethik Goethes bereits in der Einleitung
zum 34. Bande meiner Ausgabe von Goethes naturwissenschaft-
lichen Werken dargelegt. Ich hätte die wertlose Broschüre Tön-
nies' nicht erwähnt, wenn sie nicht symptomatisch wäre für das
in manchen Kreisen herrschende Mißverständnis der Weltanschau-
ung Goethes.

Nicht alles menschliche Handeln trägt diesen freien Charakter.


In vielen Fällen besitzen wir die Gesetze für unser Handeln nicht
als Wissen. Dieser Teil unseres Handelns ist der unfreie Teil


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