Rudolf steiner



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Sache dienen>. — Nun, ist es klar, Gott bekümmert sich nur ums
Seine, beschäftigt sich nur mit sich, denkt nur an sich und hat
sich im Auge; wehe allem, was ihm nicht wohlgefällig ist. Er
dient keinem Höhern und befriedigt nur sich. Seine Sache ist

147


eine - rein egoistische Sache. Wie steht es mit der Menschheit,
deren Sache Wir zur unsrigen machen sollen? Ist ihre Sache etwa
die eines ändern und dient die Menschheit einer höhern Sache?
Nein, die Menschheit sieht nur auf sich, die Menschheit will nur
die Menschheit fördern, die Menschheit ist sich selber ihre Sache.
Damit sie sich entwickle, läßt sie Völker und Individuen in ihrem
Dienste sich abquälen, und wenn diese geleistet haben, was die
Menschheit braucht, dann werden sie von ihr aus Dankbarkeit
auf den Mist der Geschichte geworfen. Ist die Sache der Mensch-
heit nicht eine — rein egoistische Sache?» Aus einer solchen Kri-
tik alles dessen, was der Mensch zu seiner Sache machen soll, er-
gibt sich für Stirner: «Gott und die Menschheit haben ihre Sache
auf Nichts gestellt als auf sich. Stelle Ich denn meine Sache gleich-
falls auf Mich, der Ich so gut wie Gott das Nichts von allem
ändern, der Ich mein Alles, der Ich der Einzige bin.»

Dies ist Stirners Weg. Man kann auch einen ändern gehen, um


zur Natur des Ich zu gelangen. Man kann es bei seiner Erkennt-
nistätigkeit beobachten. Man richte seinen Blick auf einen Er-
kenntnisvorgang. Durch denkende Betrachtung der Vorgänge
sucht das Ich gewahr zu werden, was eigentlich diesen Vorgängen
zum Grunde liegt. Was will man durch diese denkende Betrach-
tung erreichen? Zur Beantwortung dieser Frage muß man be-
obachten: was würden wir ohne diese Betrachtung von den Vor-
gängen besitzen, und was erlangen wir durch dieselbe? — Ich
muß mich hier auf eine dürftige Skizze dieser grundlegenden
Weltanschauungsfragen beschränken und kann nur auf die weite-
ren Ausführungen in meinen Schriften «Wahrheit und Wissen-
schaft» und «Philosophie der Freiheit» verweisen.

Man betrachte einen beliebigen Vorgang. Ich werfe einen Stein


in horizontaler Richtung von mir. Er bewegt sich in einer krum-
men Linie und fällt nach einiger Zeit zu Boden. Ich sehe den
Stein in aufeinanderfolgenden Zeitpunkten an verschiedenen Or-
ten, nachdem es mich erst eine gewisse Anstrengung gekostet hat,

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ihn wegzuwerfen. Durch meine denkende Betrachtung gewinne
ich folgendes. Der Stein steht während seiner Bewegung unter
mehreren Einflüssen. Wenn er nur unter der Folge des Stoßes,
den ich ihm beim Wegwerfen erteilt habe, stände, würde er ewig
fortfliegen, und zwar in gerader Richtung, ohne die Geschwindig-
keit zu ändern. Nun aber übt die Erde einen Einfluß auf ihn aus,
den man als Anziehungskraft bezeichnet. Hätte ich ihn, ohne ihn
wegzustoßen, einfach losgelassen, wäre er senkrecht zur Erde ge-
fallen, und dabei hätte seine Geschwindigkeit fortwährend zu-
genommen. Aus der Wechselwirkung dieser beiden Einflüsse ent-
steht das, was wirklich geschieht. Das alles sind Gedankenerwä-
gungen, die ich zu dem hinzubringe, was sich mir ohne denkende
Betrachtung bieten würde.

Auf diese Weise haben wir in jedem Erkenntnisprozeß ein


Element, das sich uns auch ohne denkende Betrachtung darstellen
würde, und ein anderes, das wir nur durch diese gewinnen kön-
nen. — Wenn wir dann beide gewonnen haben, ist es uns klar,
daß sie zusammengehören. Ein Vorgang verläuft im Sinne der
Gesetze, die ich durch mein Denken über ihn gewinne. Daß für
mich beide Elemente getrennt sind und durch meinen Erkenntnis-
vorgang ineinander gefügt werden, ist meine Sache. Der Vor-
gang kümmert sich um diese Trennung und Zusammenfügung
nicht. Daraus folgt aber, daß das Erkennen überhaupt meine
Sache ist. Etwas, das ich lediglich um meiner selbst willen voll-
bringe.

Nun kommt aber noch etwas anderes hinzu. Die Dinge und


Vorgänge würden mir aus sich selbst nie das geben, was ich durch
meine denkende Betrachtung über sie gewinne. Aus sich selbst
geben sie mir eben das, was ich ohne diese Betrachtung besitze.
Es ist innerhalb dieser Ausführungen schon gesagt worden, daß
ich dasjenige aus mir selbst nehme, was ich in den Dingen als
deren tiefstes Wesen sehe. Die Gedanken, die ich mir über die
Dinge mache, produziere ich aus meinem Innern heraus. Sie ge-
hören, wie gezeigt worden ist, trotzdem zu den Dingen. Das We-
sen der Dinge kommt mir also nicht aus ihnen, sondern aus mir
zu. Mein Inhalt ist ihr Wesen. Ich käme gar nicht dazu, zu fragen,

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was das Wesen der Dinge ist, wenn ich nicht in mir etwas vor-
fände, was ich als dieses Wesen der Dinge bezeichne, als das-
jenige, was zu ihnen gehört, was sie mir aber nicht aus sich
geben, sondern was ich nur aus mir nehmen kann. — Im Erkennt-
nisprozeß entnehme ich aus mir das Wesen der Dinge. Ich habe
also das Wesen der Welt in mir. Folglich habe ich auch mein
eigenes Wesen in mir. Bei den ändern Dingen erscheint mir
zweierlei: ein Vorgang ohne das Wesen und das Wesen durch
mich. Bei mir selbst sind Vorgang und Wesen identisch. Das
Wesen der ganzen übrigen Welt schöpfte ich aus mir, und mein
eigenes Wesen schöpfe ich auch aus mir.*

Mein Handeln ist nun ein Teil des allgemeinen Weltgesche-


hens. Es hat somit ebenso sein Wesen in mir wie alles andere
Geschehen. Für das menschliche Handeln die Gesetze suchen
heißt somit, sie aus dem Inhalte des Ich schöpfen. Wie der Gott-
gläubige die Gesetze seines Handelns aus dem Willen seines
Gottes ableitet, so kann derjenige, der eingesehen hat, daß im
Ich das Wesen aller Dinge liegt, die Gesetze des Handelns auch
nur im Ich finden. Hat das Ich sein Handeln dem Wesen nach
wirklich durchdrungen, dann fühlt es sich als den Beherrscher
desselben. Solange wir an ein uns fremdes Weltwesen glauben,
stehen uns auch die Gesetze unseres Handelns fremd gegenüber.
Sie beherrschen uns; was wir vollbringen, steht unter dem Zwange,
den sie auf uns ausüben. Sind sie aus solcher fremden Wesenheit
in das ureigene Tun unseres Ich verwandelt, dann hört dieser
Zwang auf. Das Zwingende ist unser eigenes Wesen geworden.
Die Gesetzmäßigkeit herrscht nicht mehr über uns, sondern in
uns über das von unserem Ich ausgehende Geschehen. Die Ver-
wirklichung eines Vorganges vermöge einer außer dem Verwirk-
licher stehenden Gesetzmäßigkeit ist ein Akt der Unfreiheit, jene
durch den Verwirklicher selbst ein Akt der Freiheit. Die Gesetze
seines Handelns sich aus sich geben, heißt als freier Einzelner
handeln. Die Betrachtung des Erkenntnisprozesses zeigt dem
Menschen, daß er die Gesetze seines Handelns nur in sich finden
kann.

*

* Siehe Hinweis, Seite 611.



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Das Ich denkend begreifen heißt die Grundlage schaffen, um


alles, was aus dem Ich kommt, allein auch auf das Ich zu begrün-
den. Das Ich, das sich selbst versteht, kann sich von nichts als
von sich selbst abhängig machen. Und es kann niemandem ver-
antwortlich sein als sich. Es erscheint nach diesen Ausführungen
fast überflüssig, zu sagen, daß mit dem Ich nur das leibhaftige,
reale Ich des Einzelnen und nicht ein allgemeines, von diesem
abgezogenes gemeint sein kann. Denn ein solches kann ja nur
aus dem realen durch Abstraktion gewonnen sein. Es ist somit
abhängig von dem wirklich Einzelnen. (Dieselbe Ideenrichtung
und Lebensanschauung, aus der meine oben genannten Schriften
entsprungen sind, vertreten auch Benj. R. Tucker und J. H. Mackay.
Vergleiche des ersteren «Instead of a Book» und des letzteren
Kulturgemälde «Die Anarchisten».)

Im vorigen und dem größten Teile unseres Jahrhunderts war


das Denken bemüht, dem Ich seine Stellung im Weltganzen zu
erobern. Geister, welche dieser Tendenz bereits fremd gegen-
überstehen, sind Arthur Schopenhauer und Eduard von Hartmann,
der noch rüstig unter uns Wirkende. Beide haben nicht mehr das
volle Wesen unseres Ich, das wir in unserem Bewußtsein vor-
finden, als Urweltwesen in die Außenwelt verlegt. Schopenhauer
hat einen Teil dieses Ich, den Willen als Weltwesen angesehen,
und Hartmann sieht das Unbewußte als solches an. Beiden ge-
meinsam ist dies Streben, das Ich dem von ihnen angenommenen
allgemeinen Weltwesen unterzuordnen. Dagegen ist als letzter
der strengen Individualisten noch Friedrich Nietzsche von Schopen-
hauer ausgehend zu Anschauungen gelangt, welche durchaus auf
dem Wege der absoluten Würdigung des einzelnen Ich führen.
Seiner Meinung nach besteht die echte Kultur darinnen, den Ein-
zelnen zu pflegen, damit er die Kraft habe, aus sich heraus alles
das zu entwickeln, was in ihm gelegen ist. Bisher war es nur ein
Zufall, wenn ein Einzelner sich voll aus sich heraus hat entwickeln
können. «Dieser höherwertigere Typus ist oft genug schon da-
gewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals als
gewollt. Vielmehr ist er gerade am besten gefürchtet worden, er
war bisher beinahe das Furchtbare; — und aus der Furcht heraus

wurde der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das


Haustier, das Herdentier, das kranke Tier Mensch, — der Christ...».
Seinen Typus Mensch als Ideal hat Nietzsche poetisch verklärt in
seinem Zarathustra. Er nennt ihn den Übermenschen. Dieser ist
der von allen Normen befreite Mensch, der nicht mehr Ebenbild
Gottes, Gott wohlgefälliges Wesen, guter Bürger und so weiter,
sondern er selber und nichts weiter sein will — der reine und
absolute Egoist.

HAECKEL UND SEINE GEGNER

Vorrede*

Von meiner vor fünf Jahren veröffentlichten «Philosophie der


Freiheit» habe ich die Überzeugung, daß sie das Bild einer Welt-
anschauung gibt, die mit den gewaltigen Ergebnissen der Natur-
wissenschaften unserer Zeit in vollem Einklang steht. Ich bin mir
bewußt, daß ich diesen Einklang nicht absichtlich herbeigeführt
habe. Mein Weg war ganz unabhängig von dem, welchen die
Naturwissenschaft einschlägt.

Aus dieser Unabhängigkeit meiner Vorstellungsart von dem


herrschenden Wissensgebiet unserer Tage und aus der gleichzei-
tigen völligen Übereinstimmung mit demselben glaube ich die
Berechtigung herleiten zu dürfen, die Stellung des monumental-
sten Vertreters der naturwissenschaftlichen Denkweise, Ernst
Haeckels, innerhalb des Geisteskampfes unserer Zeit darzustellen.

Das Bedürfnis, sich mit der Naturwissenschaft auseinanderzu-


setzen, wird zweifellos heute von vielen empfunden. Es kann am
besten dadurch befriedigt werden, daß man sich in die Ideen des-

* Außer dieser Vorrede wurde die Schrift mit Anmerkungen (S. 196-200)


versehen.

I52


jenigen Naturforschers vertieft, der am rückhaltlosesten die Kon-
sequenzen der naturwissenschaftlichen Voraussetzungen gezogen
hat. Ich möchte mich mit diesem Schriftchen an diejenigen wen-
den, die mit mir in dieser Beziehung ein gleiches Bedürfnis emp-
finden.

Berlin, im Januar 1900.

I

Der Empfindung, welche der Mensch hat, wenn er seine Stellung


innerhalb der Welt betrachtet, hat Goethe einen herrlichen Aus-
druck in seinem Buche über Winckelmann gegeben: «Wenn die
gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich
in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten
Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines,
freies Entzücken gewährt: dann würde das Weltall, wenn es sich
selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen
und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern.»
Aus dieser Empfindung heraus entspringt die bedeutungsvollste
Frage, die sich der Mensch stellen kann: Wie ist sein eigenes
Werden und Wesen mit demjenigen des ganzen Weltalls ver-
knüpft? Schiller hat den Weg, durch den Goethe zur Erkenntnis
der menschlichen Natur kommen wollte, trefflich in einem Briefe
an diesen am 23. August 1794 bezeichnet. «Von der einfachen
Organisation steigen Sie, Schritt vor Schritt, zu den mehr ver-
wickelten hinauf, um endlich die verwickeltste von allen, den
Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäu-
des zu erbauen.» Dieser Weg Goethes ist nun auch der, welchen
die Naturwissenschaft seit vier Jahrzehnten einschlägt, um die
«Frage aller Fragen für die Menschheit» zu lösen. Huxley sieht sie
darin, die Stellung zu bestimmen, welche «der Mensch in der
Natur einnimmt, und seine Beziehungen zu der Gesamtheit der
Dinge». Es ist das große Verdienst Charles Darwins, dem Nach-
denken über diese Frage einen neuen naturwissenschaftlichen

Boden geschaffen zu haben. Die Tatsachen, die er 1859 in seinem


Werke «Über die Entstehung der Arten» mitteilte, und die Grund-
sätze, die er entwickelte, boten der Naturforschung die Möglich-
keit, auf ihre Weise zu zeigen, wie begründet Goethes Überzeu-
gung war, daß die Natur «nach tausendfältigen Tieren ein Wesen
bildet, das sie alle enthält: den Menschen». Heute blicken wir auf
vierzig Jahre wissenschaftlicher Entwickelung zurück, die unter
dem Einflüsse der Ideenrichtung Darwins stehen. Mit Recht
konnte Ernst Haeckel in seiner Schrift «Über unsere gegenwär-
tige Kenntnis vom Ursprung des Menschen», die einen von ihm
auf dem vierten internationalen Zoologen-Kongreß in Cambridge
am 26. August 1898 gehaltenen Vortrag wiedergibt, sagen: «Vier-
zig Jahre Darwinismus! Welcher ungeheure Fortschritt unserer
Naturerkenntnis! Und welcher Umschwung unserer wichtigsten
Anschauungen, nicht allein in den nächstbetroffenen Gebieten der
gesamten Biologie, sondern auch in demjenigen der Anthropo-
logie und ebenso aller sogenannten Geisteswissenschaften!»
Goethe hat aus seiner tiefen Naturerkenntnis heraus diesen Um-
schwung vorausgesehen und seine Bedeutung für den Fortgang
der menschlichen Geisteskultur in vollem Umfange erkannt. Wir
sehen das besonders deutlich aus einem Gespräche, das er am
2. August 1830 mit Soret gehabt hat. Damals gelangten die Nach-
richten von der begonnenen Julirevolution nach Weimar und ver-
setzten alles in Aufregung. Soret wurde, als er Goethe besuchte,
mit den Worten empfangen: «Nun, was denken Sie von dieser
großen Begebenheit? Der Vulkan ist zum Ausbruch gekommen;
alles steht in Flammen, und es ist nicht ferner eine Verhandlung
bei geschlossenen Türen!» Soret konnte natürlich nur glauben,
Goethe spreche von der Julirevolution, und erwiderte, daß bei den
bekannten Zuständen nichts anderes zu erwarten war, als daß man
mit der Vertreibung der königlichen Familie endigen würde.
Goethe aber hatte etwas ganz anderes im Sinne. «Ich rede gar
nicht von jenen Leuten; es handelt sich bei mir um ganz andere
Dinge. Ich rede von dem in der Akademie zum öffentlichen Aus-
bruch gekommenen, für die Wissenschaft so höchst bedeutenden
Streit zwischen Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire!» Der Streit

154


betraf die Frage, ob jede der Spezies, in denen die organische
Natur sich auslebt, einen besonderen Bauplan für sich habe oder
ob ihnen allen ein solcher gemeinsam sei. Goethe hatte für sich
diese Frage bereits mehr als vierzig Jahre früher entschieden.
Sein eifriges Studium der Pflanzen- und Tierwelt hatte ihn zum
Gegner der Linneschen Ansicht gemacht, daß wir «Spezies so viele
zählen, als verschiedene Formen im Prinzip geschaffen worden
sind». Wer eine solche Meinung hat, kann sich nur bemühen zu
erforschen, welches die Organisationspläne der einzelnen Spezies
sind. Er wird diese einzelnen Formen vor allem sorgfältig zu
unterscheiden suchen. Goethe schlug einen anderen Weg ein.
«Das, was Linne mit Gewalt auseinanderzuhalten suchte, mußte,
nach dem innersten Bedürfnis meines Wesens, zur Vereinigung
anstreben.» Es bildete sich in ihm die Meinung aus, die er 1796
in den «Vorträgen über die drei ersten Kapitel des Entwurfs einer
allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie» in dem
Satze zusammengefaßt hat: «Dies also hätten wir gewonnen, un-
gescheuet behaupten zu dürfen, daß alle vollkommnern organi-
schen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien, Vögel, Säugetiere
und an der Spitze der letzten den Menschen sehen, alle nach
einem Urbilde geformt seien, das nur in seinen sehr beständigen
Teilen mehr oder weniger hin und her weicht und sich noch täg-
lich durch Fortpflanzung aus- und umbildet.» Das Urbild, auf das
sich alle mannigfaltigen Pflanzenformen zurückführen lassen, hat
Goethe schon 1790 in seinem «Versuch, die Metamorphose der
Pflanzen zu erklären» dargestellt. Diese Betrachtungsweise, durch
die Goethe die Gesetze der lebendigen Natur zu erkennen bestrebt
war, ist ganz gleich derjenigen, die er in seinem 1793 geschrie-
benen Aufsatz «Der Versuch als Vermittler von Objekt und Sub-
jekt» für die leblose Welt fordert: «In der lebendigen Natur
geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen
stehe, und wenn uns die Erfahrungen nur isoliert erscheinen,
wenn wir die Versuche nur als isolierte Fakta anzusehen haben,
so wird dadurch nicht gesagt, daß sie isoliert seien; es ist nur die
Frage: Wie finden wir die Verbindung dieser Phänomene, dieser
Begebenheiten?» Auch die Spezies erscheinen uns nur isoliert.

Goethe sucht ihre Verbindung. Daraus geht klar hervor, daß


Goethes Streben darauf gerichtet ist, bei Betrachtung der Lebe-
wesen dieselbe Erklärungsart anzuwenden, die bei der leblosen
Natur zum Ziele führt. Wie weit er mit solchen Vorstellungen
seiner Zeit vorauseilte, wird ersichtlich, wenn man bedenkt, daß
zur selben Zeit, als Goethe seine Metamorphosenschrift veröffent-
lichte, Kant in seiner «Kritik der Urteilskraft» die Unmöglichkeit
einer Erklärung des Lebendigen nach denselben Prinzipien, die
für das Leblose gelten, wissenschaftlich dartun wollte. Er behaup-
tet: «Es ist nämlich ganz gewiß, daß wir die organisierten Wesen
und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien
der Natur nicht einmal zureichend kennenlernen, viel weniger uns
erklären können; und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann,
es ist für den Menschen ungereimt, auch nur einen solchen An-
schlag zu fassen oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein
Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Gras-
halms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreif-
lich machen werde; sondern man muß diese Einsicht den Men-
schen schlechthin absprechen.» Haeckel weist diesen Gedanken
mit den Worten zurück: «Nun ist aber dieser unmögliche Newton
siebzig Jahre später in Darwin wirklich erschienen und... und hat
die Aufgabe tatsächlich gelöst, die Kant für absolut unlösbar hielt!»
Daß der durch den Darwinismus bewirkte Umschwung in den
naturwissenschaftlichen Anschauungen eintreten müsse, wußte
Goethe, denn er entspricht seiner eigenen Vorstellungsart. In der
Ansicht, die Geoffroy de Saint-Hilaire gegen Cuvier verteidigte,
daß alle organischen Formen einen «allgemeinen, nur hier und da
modifizierten Plan» in sich tragen, erkannte er die eigene wieder.
Deshalb konnte er zu Soret sagen: «Jetzt ist nun auch Geoffroy
de Saint-Hilaire entschieden auf unserer Seite und mit ihm alle
seine bedeutenden Schüler und Anhänger Frankreichs. Dieses Er-
eignis ist für mich von ganz unglaublichem Wert, und ich juble
mit Recht über den endlich erlebten allgemeinen Sieg einer Sache,
der ich mein Leben gewidmet habe und die ganz vorzüglich auch
die meinige ist.» Von noch viel größerem Werte für Goethes
Naturanschauung sind nun die Entdeckungen Darwins. Die Natur-

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anschauung Goethes verhält sich zum Darwinismus in ähnlicher
Weise wie die Einsichten Kopernikus' und Keplers in den Bau
und die Bewegungen des Planetensystems zu der Auffindung des
Gesetzes der allgemeinen Anziehung aller Himmelskörper durch
Newton. Dieses Gesetz zeigt die naturwissenschaftlichen Ursachen
auf, warum sich die Planeten in der Weise bewegen, wie es
Kopernikus und Kepler beschrieben haben. Und Darwin hat die
natürlichen Ursachen gefunden, warum das von Goethe angenom-
mene gemeinsame Urbild aller organischen Wesen in den mannig-
faltigen Spezies zur Erscheinung kommt.

Der Zweifel an der Anschauung, daß jeder einzelnen organi-


schen Spezies ein besonderer Organisationsplan zugrunde liege, der
für alle Zeiten unveränderlich sei, setzte sich in Darwin fest auf
einer Reise, die er im Sommer 1831 als Naturforscher auf dem
Schiffe «Beagle» nach Südamerika und Australien antrat. Wie seine
Gedanken reiften, davon erhalten wir eine Vorstellung, wenn wir
Mitteilungen von ihm lesen wie diese: «Als ich während der Fahrt
des den Galapagos-Archipel, der im Stillen Ozean ungefähr
fünfhundert englische Meilen von der Küste von Südamerika ent-
fernt liegt, besuchte, sah ich mich von eigentümlichen Arten von
Vögeln, Reptilien und Pflanzen umgeben, welche sonst nirgends
in der Welt existieren. Doch trugen sie fast alle ein amerikanisches
Gepräge an sich. Im Gesang der Spottdrossel, in dem harschen
Geschrei des Aasgeiers, in den großen leuchterähnlichen Opuntien
nahm ich deutlich die Nachbarschaft mit Amerika wahr; und doch
waren diese Inseln durch so viele Meilen Ozean vom Festlande
getrennt und wichen in ihrer geologischen Konstitution und in
ihrem Klima weit von ihm ab. Noch überraschender war die Tat-
sache, daß die meisten Bewohner jeder einzelnen Insel dieses
kleinen Archipels spezifisch verschieden waren, wenn auch unter-
einander nahe verwandt... Ich habe mich damals oft gefragt, wie
diese vielen eigentümlichen Pflanzen und Tiere entstanden sind.
Die einfachste Antwort schien zu sein, daß die Bewohner der ver-
schiedenen Inseln voneinander abstammten und im Verlauf ihrer
Abstammung Modifikationen erlitten hätten und daß alle Bewoh-
ner des Archipels von denen des nächsten Festlandes, nämlich

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Amerika, von welchem die Kolonisation natürlich herrühren
würde, abstammten. Es blieb mir aber lange ein unerklärliches
Problem: wie der notwendige Modifikationsgrad erreicht worden
sein könnte.» Über dieses Wie klärten Darwin die zahlreichen
Züchtungsversuche auf, die er nach seiner Heimkehr mit Tauben,
Hühnern, Hunden, Kaninchen und Kulturgewächsen machte. Aus
ihnen ersah er, in welch hohem Grade in den organischen Formen
die Möglichkeit liegt, sich im Verlaufe ihrer Fortpflanzung fort-
während zu verändern. Man ist in der Lage, durch Herstellung
künstlicher Bedingungen aus einer gewissen Form nach wenigen
Generationen neue Arten zu erhalten, die viel mehr voneinander
abweichen als solche in der freien Natur, deren Verschiedenheit
man für so groß hält, daß man jeder einen besonderen Organi-
sationsplan zugrunde legen möchte. Diese Veränderlichkeit der
Arten benutzt bekanntlich der Züchter, um solche Formen von
Kulturorganismen zur Entwickelung zu bringen, die gewissen Ab-
sichten entsprechen. Er sucht die Bedingungen herzustellen, welche
die Veränderung nach einer Richtung hinlenken, die ihm ent-
spricht. Will er eine Schafsorte mit besonders feiner Wolle züch-
ten, so sucht er innerhalb seiner Schafherde diejenigen Individuen
aus, welche die feinste Wolle haben. Diese läßt er sich fortpflan-
zen. Von ihren Nachkommen wählt er zur weiteren Fortpflanzung
wieder diejenigen aus, welche die feinste Wolle haben. Wird das
durch eine Reihe von Generationen hindurch fortgesetzt, so er-
langt man eine Schafspezies, welche in der Bildung der Wolle
erheblich von ihren Vorfahren abweicht. Dasselbe kann man mit
ändern Eigenschaften der Lebewesen machen. Aus diesen Tat-
sachen geht zweierlei hervor: daß die organischen Formen die
Neigung haben, sich zu verändern, und daß sie die angenommenen
Veränderungen auf ihre Nachkommen vererben. Durch die erste
Eigenschaft der Lebewesen ist der Züchter imstande, bei seiner
Spezies gewisse Merkmale auszubilden, die seinen Zwecken ent-
sprechen; durch die zweite übertragen sich diese neuen Merkmale
von einer Generation auf die andere.

Der Gedanke liegt nun nahe, daß sich die Formen auch in der


freien Natur fortwährend ändern. Und die große Veränderungs-

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fähigkeit der Kulturorganismen zwingt nicht dazu, anzunehmen,
daß diese Eigenschaft der organischen Formen innerhalb gewisser
Grenzen eingeschlossen ist. Wir können vielmehr voraussetzen,
daß sich im Laufe großer Zeiträume eine gewisse Form in eine
ganz andere verwandelt, die in ihrer Bildung in der denkbar größ-
ten Weise von der ersten abweicht. Die natürlichste Folgerung ist
dann die, daß die organischen Spezies nicht unabhängig jede nach
einem besonderen Bauplan nebeneinander entstanden sind, son-
dern daß sich im Laufe der Zeit die einen aus den ändern ent-
wickeln. Eine Unterstützung erfährt dieser Gedanke durch die Er-
kenntnisse, zu denen Lyell in der Entwickelungsgeschichte der Erde
gelangt ist und die er zuerst 1830 in seinen «Grundsätzen der
Geologie» (Principles of geology) veröffentlicht hat. Durch sie
wurden jene alteren geologischen Ansichten, wonach sich die Bil-
dung der Erde in einer Reihe gewaltsamer Katastrophen vollzogen
haben soll, beseitigt. Durch diese Katastrophenlehre sollten die Er-
gebnisse erklärt werden, zu denen die Untersuchung der festen
Erdkruste geführt hat. Die verschiedenen Schichten der Erdrinde
und die in ihnen enthaltenen versteinerten organischen Wesen
sind ja die Überbleibsel dessen, was sich im Zeitenlaufe auf der
Erdoberfläche zugetragen hat. Die Anhänger der gewaltsamen Um-
wälzungslehre glaubten, daß sich die Entwickelung der Erde in
aufeinanderfolgenden, genau voneinander unterschiedenen Perio-
den vollzogen habe. Am Ende einer solchen Periode trat eine
Katastrophe ein. Alles Lebendige wurde zerstört und seine Reste
in einer Erdschicht aufbewahrt. Über dem Zerstörten erhob sich
eine vollständig neue Welt, die wieder geschaffen werden mußte.
An die Stelle dieser Katastrophenlehre setzte Lyell die Ansicht,
daß sich die Erdrinde im Laufe sehr langer Zeiträume allmählich
durch dieselben Vorgänge gebildet habe, die sich noch heute jeden
Tag auf der Oberfläche der Erde abspielen. Die Tätigkeit der
Flüsse, welche Schlamm von einer Stelle ab- und der anderen zu-
führen, die Wirkungen der Gletscher, die das Gestein abschleifen
und Blöcke fortschieben, und ähnliche Vorgänge sind es gewesen,
die in ihrer stetigen, langsamen Wirksamkeit der Erdoberfläche
die heutige Gestalt gegeben haben. Diese Anschauung zieht die

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andere notwendig nach sich, daß auch die heutigen Tier- und Pflan-


zenformen sich allmählich aus denjenigen entwickelt haben, deren
Reste uns in den Versteinerungen erhalten sind. Nun ergibt sich
aus den Vorgängen der künstlichen Züchtung, daß wirklich eine
Form in eine andere sich verwandeln kann. Es entsteht nur die
Frage, wodurch werden in der Natur selbst die Bedingungen zu
dieser Umwandlung geschaffen, die der Züchter auf künstlichem
Wege herbeiführt?

Bei der künstlichen Züchtung wählt die menschliche Intelligenz


die Bedingungen so, daß die neuentstehenden Formen dem Zwecke
angepaßt sind, den der Züchter verfolgt. Nun sind aber auch die
in der Natur lebenden organischen Formen im allgemeinen den
Bedingungen zweckmäßig angepaßt, unter denen sie leben. Jeder
Blick in die Natur kann über die Wahrheit dieser Tatsache beleh-
ren. Die Tier- und Pflanzenspezies sind so eingerichtet, daß sie
in den Verhältnissen, in denen sie leben, sich erhalten und fort-
pflanzen können.

Diese zweckmäßige Einrichtung ist es eben, welche das Vor-


urteil hervorgerufen hat, daß die organischen Formen sich nicht
auf dieselbe Weise erklären lassen wie die Tatsachen der leblosen
Natur. Kant führt in der «Kritik der Urteilskraft» aus: «Die Ana-
logie der Formen, sofern sie bei aller Verschiedenheit einem ge-
meinschaftlichen Urbilde gemäß erzeugt zu sein scheinen, verstärkt
die Vermutung einer wirklichen Verwandtschaft derselben in der
Erzeugung von einer gemeinschaftlichen Urmutter durch stufen-
weise Annäherung einer Tiergattung zur ändern... Hier steht nun
dem Archäologen der Natur frei, aus den übriggebliebenen Spu-
ren ihrer ältesten Revolutionen, nach allem ihm bekannten und
gemutmaßten Mechanismus derselben, jene große Familie von Ge-
schöpfen (denn so müßte man sie sich vorstellen, wenn die ge-
nannte durchgängig zusammenhängende Verwandtschaft einen
Grund haben soll) entspringen zu lassen... Allein er muß gleich-
wohl zu dem Ende dieser allgemeinen Mutter eine auf alle diese
Geschöpfe zweckmäßig gestellte Organisation beilegen, widrigen-
falls die Zweckform der Produkte des Tier- und Pflanzenreichs
ihrer Möglichkeit nach gar nicht zu denken ist.»

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Will man die organischen Formen in derselben Art erklären,
wie die Naturwissenschaft es mit den unorganischen Erscheinun-
gen macht, so muß gezeigt werden, daß die zweckmäßige Einrich-
tung der Organismen ohne einen absichtlich in sie gelegten Zweck
gerade so naturnotwendig entsteht, wie eine elastische Kugel ge-
setzmäßig dahinrollt, wenn sie von einer ändern gestoßen wird.
Diese Forderung hat Darwin durch seine Lehre von der natür-
lichen Zuchtwahl erfüllt. Gemäß ihrer durch die künstliche Züch-
tung erwiesenen Verwandlungsfähigkeit müssen sich die organi-
schen Formen auch in der Natur umbilden. Ist nichts vorhanden,
was von vorneherein die Verwandlung so einrichtet, daß nur
zweckmäßige Formen entstehen, so werden wahllos unzweck-
mäßige oder mehr oder weniger zweckmäßige entstehen. Nun ist
die Natur ungeheuer verschwenderisch in der Hervorbringung
ihrer Keime. Auf unserer Erde werden so viele Keime erzeugt, daß
sich in kurzer Zeit eine große Anzahl Welten füllen könnten,
wenn sie alle zur Entwickelung kämen. Dieser großen Zahl von
Keimen steht nur ein verhältnismäßig geringes Maß von Nahrung
und Raum gegenüber. Die Folge davon ist ein allgemeiner Kampf
ums Dasein unter den organischen Wesen. Nur die Tüchtigen
werden sich erhalten und fortpflanzen können; die Untüchtigen
müssen zugrunde gehen. Die Tüchtigsten werden aber eben die
sein, die den Lebensbedingungen am zweckmäßigsten angepaßt
sind. Der durchaus absichtslose und naturnotwendige Kampf ums
Dasein bewirkt somit dasselbe, was die Intelligenz des Züchters
mit den Kulturorganismen vollbringt: er schafft zweckmäßige
organische Formen. Dies ist in großen Umrissen der Sinn der von
Darwin aufgestellten Lehre von der natürlichen Zuchtwahl im
Kampf ums Dasein oder der Selektionstheorie. Durch sie war er-
reicht, was Kant für unmöglich gehalten hat: die Zweckform der
Produkte des Tier- und Pflanzenreichs ihrer Möglichkeit nach zu
denken, ohne der allgemeinen Mutter eine auf alle diese Geschöpfe
zweckmäßig gestellte Organisation beizulegen.

Wie Newton durch seine Lehre von der allgemeinen Anziehung


der Himmelskörper zeigte, warum diese in den von Kopernikus
und Kepler festgestellten Bahnen sich bewegen, so konnte man

161


nunmehr mit Hilfe der Selektionstheorie erklären, wie sich in der
Natur die Entwickelung des Lebendigen vollzieht, deren Gang
Goethe in «Zur Morphologie» mit den Worten bezeichnet hat:
«So viel aber können wir sagen, daß die aus einer kaum zu son-
dernden Verwandtschaft als Pflanzen und Tiere nach und nach
hervortretenden Geschöpfe nach zwei entgegengesetzten Seiten
sich vervollkommnen, so daß die Pflanze sich zuletzt im Baum
dauernd und starr, das Tier im Menschen zur höchsten Beweglich-
keit und Freiheit sich verherrlicht.» Goethe hat von seinem Ver-
fahren gesagt: «Ich raste nicht, bis ich einen prägnanten Punkt
finde, von dem sich vieles ableiten läßt, oder vielmehr der vieles
freiwillig aus sich hervorbringt und mir entgegenträgt.» Für Ernst
Haeckel wurde die Selektionstheorie der Punkt, aus dem er eine
ganze naturwissenschaftliche Weltanschauung ableitete.

Auch Jean Lamarck hat bereits im Anfange unseres Jahrhun-


derts die Ansicht vertreten, daß zu einer gewissen Zeit in der
Erdentwickelung sich aus den mechanischen, physikalischen und
chemischen Prozessen heraus durch Urzeugung ein einfachstes Or-
ganisches entwickelt habe. Diese einfachsten Organismen haben
dann vollkommenere erzeugt und diese wieder höher organisierte
bis herauf zum Menschen. «Man könnte daher diesen Teil der
Entwicklungstheorie, welcher die gemeinsame Abstammung aller
Tier- und Pflanzenalten von einfachsten gemeinsamen Stamm-
formen behauptet, seinem verdientesten Begründer zu Ehren mit
vollem Rechte Lamarckismus nennen.» Haeckel hat im großen
Stile eine Erklärung des Lamarckismus durch den Darwinismus
gegeben.

Den Schlüssel zu dieser Erklärung fand Haeckel dadurch, daß


er in der individuellen Entwickelung der höheren Organismen —
in ihrer Ontogenie - die Zeugnisse dafür suchte, daß sie wirklich
von niederen Lebewesen abstammen. Wenn man die Formentwik-
kelung eines höheren Organismus vom ersten Keime bis zum aus-
gebildeten Zustande verfolgt, so stellen die verschiedenen Stufen
Gestalten dar, welche den Formen niederer Organismen entspre-
chen. Im Beginne seiner individuellen Existenz ist der Mensch
und jedes andere Tier eine einfache Zelle. Diese teilt sich, und aus

162


ihr entsteht eine aus vielen Zellen bestehende Keimblase. Aus ihr
entwickelt sich der sogenannte Becherkeim, die zweischichtige
Gastrula, die die Gestalt eines becherförmigen oder krugförmigen
Körpers hat. Nun bleiben die niederen Pflanzentiere (Spongien,
Polypen und so weiter) während ihres ganzen Lebens auf einer
Entwickelungsstufe stehen, welche diesem Becherkeim gleicht.
Haeckel sagt darüber: «Diese Tatsache ist von außerordentlicher
Bedeutung. Denn wir sehen, daß der Mensch, und überhaupt jedes
Wirbeltier, rasch vorübergehend ein zweiblättriges Bildungssta-
dium durchläuft, welches bei jenen niedersten Pflanzentieren zeit-
lebens erhalten bleibt.» (Anthropogenie S. 175.) Ein solcher Paral-
lelismus zwischen den Entwickelungsstadien der höheren Organis-
men und den ausgebildeten niederen Formen läßt sich durch die
ganze individuelle Entwickelungsgeschichte hindurch verfolgen.
Haeckel kleidet diese Tatsache in die Worte: «Die kurze Onto-
genese oder die Entwicklung des Individuums ist eine schnelle
und zusammengezogene Wiederholung, eine gedrängte Rekapi-
tulation der langen Phylogenese oder der Entwicklung der Art.»
Dieser Satz drückt das sogenannte biogenetische Grundgesetz aus.
Wodurch kommen nun die höheren Organismen im Lauf ihrer
Entwickelung zu Formen, die den niederen gleichen? Die natur-
gemäße Erklärung ist die, daß sich jene aus diesen entwickelt
haben, daß also jeder Organismus in seiner individuellen Ent-
wickelung uns die Gestalten aufeinanderfolgend zeigt, die ihm als
Erbstück von seinen niederen Vorfahren geblieben sind.

Der einfachste Organismus, der sich dereinst auf der Erde gebil-


det hat, verwandelt sich im Laufe der Fortpflanzung in neue For-
men. Von diesen bleiben die bestangepaßten im Kampf ums Da-
sein übrig und vererben ihre Eigenschaften auf ihre Nachkom-
men. Alle Gestaltungen und Eigenschaften, die ein Organismus
gegenwärtig zeigt, sind in großen Zeiträumen durch Anpassung
und Vererbung entstanden. Die Vererbung und die Anpassung
sind also die Ursachen der organischen Formenwelt.

Haeckel hat also dadurch, daß er das Verhältnis der individuel-


len Entwickelungsgeschichte (Ontogenie) zur Stammesgeschichte
(Phylogenie) suchte, die naturwissenschaftliche Erklärung der man-

163


nigfaltigen organischen Formen gegeben. Er hat als Naturphilo-
soph die menschliche Erkenntnisforderung erfüllt, die Schiller aus
der Beobachtung des Goetheschen Geistes gewonnen hat: er ist
aufgestiegen von der einfachen Organisation, Schritt vor Schritt,
zu der mehr verwickelten, um endlich die verwickeltste von allen,
den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Natur-
gebäudes zu erbauen. Seine Ansicht hat er in mehreren groß-
angelegten Werken niedergelegt, in seiner «Generellen Morpho-
logie der Organismen» (1866), in der «Natürlichen Schöpfungs-
geschichte» (1868), in der «Anthropogenie» (1874), in der er
«den ersten und bis jetzt einzigen Versuch unternommen hat, den
zoologischen Stammbaum des Menschen im einzelnen kritisch zu
begründen und die ganze tierische Ahnenreihe unseres Ge-
schlechts ... eingehend zu erörtern». Zu diesen Werken ist in den
letzten Jahren (1894—1896) noch seine dreibändige «Systematische
Phylogenie» getreten.

Es ist bezeichnend für die tiefe philosophische Natur Haeckels,


daß er nach dem Erscheinen von Darwins «Entstehung der Arten»
(1859) sogleich die volle Tragweite der darin aufgestellten Grund-
sätze für die gesamte Weltanschauung des Menschen erkannte;
und es spricht für seinen philosophischen Enthusiasmus, daß er
mit Kühnheit unermüdlich alle die Vorurteile bekämpfte, die sich
gegen die Aufnahme der neuen Wahrheit in das Glaubensbekennt-
nis des modernen Geistes erhoben. Die Notwendigkeit, daß alles
moderne wissenschaftliche Denken mit dem Darwinismus zu rech-
nen hat, setzte Haeckel in der fünfzigsten Versammlung deut-
scher Naturforscher und Ärzte am 18. September 1877 in dem
Vortrage über «Die heutige Entwicklungslehre im Verhältnisse zur
Gesamtwissenschaft» auseinander. Ein umfassendes «Glaubens-
bekenntnis eines Naturforschers» trug er am 9. Oktober 1892 in
Altenburg beim 75jährigen Jubiläum der naturforschenden Ge-
sellschaft des Osterlandes vor. (Gedruckt ist diese Rede unter dem
Titel «Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissen-
schaft», Bonn 1892.) Was sich aus der reformierten Entwicke-
lungslehre und aus unserem gegenwärtigen naturwissenschaftlichen
Wissen für die Beantwortung der «Frage aller Fragen» ergibt, hat

164


er in großen Linien kürzlich in dem oben erwähnten Vortrage
«Über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Men-
schen» entwickelt. Hier behandelt Haeckel neuerdings die Kon-
sequenz, die sich für jeden logisch Denkenden ohne weiteres aus
dem Darwinismus ergibt, daß der Mensch sich aus niederen Wir-
beltieren, und zwar zunächst aus echten Affen, entwickelt hat.
Dieser notwendige Folgeschluß ist es aber auch gewesen, welcher
alle alten Vorurteile der Theologen, Philosophen und aller, die in
deren Bann stehen, zum Kampf gegen die Entwickelungstheorie
aufgerufen hat. Zweifelsohne hätte man sich ein Hervorgehen der
einzelnen Tier- und Pflanzenformen auseinander gefallen lassen,
wenn dessen Annahme nur nicht zugleich auch die Anerkennung
der tierischen Abstammung des Menschen nach sich gezogen
hätte. «Es bleibt», wie Haeckel in seiner «Natürlichen Schöpfungs-
geschichte» betonte, «eine lehrreiche Tatsache, daß diese Anerken-
nung keineswegs» — nach dem Erscheinen des ersten Darwinschen
Werkes — «allgemein war, daß vielmehr zahlreiche Kritiker des
ersten Darwinschen Buches (und darunter sehr berühmte Namen)
sich vollkommen mit dem Darwinismus einverstanden erklärten,
aber jede Anwendung desselben auf den Menschen gänzlich von
der Hand wiesen.» Mit einem gewissen Schein von Recht berief
man sich dabei auf Darwins Buch selbst, in dem von dieser An-
wendung kein Wort steht. Haeckel wurde deswegen, weil er rück-
sichtslos diese unabweisliche Konsequenz zog, der Vorwurf ge-
macht, daß er «darwinistischer als Darwin selbst sei». Das ging
freilich nur bis zum Jahre 1871, in dem Darwins Werk erschien
«Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zucht-
wahl». Hier vertritt dieser selbst mit großer Kühnheit und Klar-
heit diese Folgerung.

Man erkannte richtig, daß mit dieser Folgerung eine Vorstel-


lung fallen muß, die zu den geschätztesten in der Sammlung älterer
menschlicher Vorurteile gehört: diejenige, daß die «Seele des Men-
schen» ein besonderes Wesen für sich sein soll, das einen ganz
anderen «höheren Ursprung» habe als alle anderen Naturdinge.
Die Abstammungslehre muß natürlich zu der Ansicht führen, daß
die seelischen Tätigkeiten des Menschen nur eine besondere Form

165


derjenigen physiologischen Funktionen sind, die sich bei dessen
Wirbeltier-Ahnen finden, und daß diese Tätigkeiten sich mit eben
derselben Notwendigkeit aus den Geistestätigkeiten der Tiere ent-
wickelt haben, wie sich das Gehirn des Menschen, welches die
materielle Bedingung des Geistes ist, aus dem Wirbeltiergehirn
entwickelt hat.

Nicht nur die Menschen mit alten, durch die verschiedenen


Kirchenreligionen großgezogenen Glaubensvorstellungen sträub-
ten sich gegen das neue Bekenntnis, sondern auch alle diejenigen,
die sich zwar scheinbar von diesen Glaubensvorstellungen frei-
gemacht haben, deren Geist aber doch noch immer im Sinne die-
ser Vorstellungen denkt. In dem Folgenden soll der Nachweis
geführt werden, daß zu der letzteren Art von Geistern eine Reihe
von Philosophen und naturwissenschaftlich hochstehenden Gelehr-
ten gehört, die Haeckel bekämpft haben und noch immer Gegner
der von ihm vertretenen Ansichten sind. Zu ihnen gesellen sich
dann die, welchen überhaupt die Fähigkeit abgeht, aus einer Reihe
vorliegender Tatsachen die notwendigen logischen Folgerungen zu
ziehen. Welches die Einwände sind, gegen die Haeckel seinen
Kampf zu führen hatte, möchte ich hier zur Darstellung bringen.

II

Auf die Verwandtschaft des Menschen mit den höheren Wirbel-


tieren wirft die Wahrheit ein helles Licht, die Huxley 1863 in
seinen «Zeugnissen für die Stellung des Menschen in der Natur»
ausgesprochen hat: «Die kritische Vergleichung aller Organe und
ihrer Modifikationen innerhalb der Affen-Reihe führt uns zu
einem und demselben Resultate: Die anatomischen Verschieden-
heiten, welche den Menschen vom Gorilla und Schimpansen schei-
den, sind nicht so groß als die Unterschiede, welche diese Men-
schenaffen von den niedrigeren Affen trennen.» Mit Hilfe dieser
Tatsache ist es möglich, die tierische Ahnenreihe des Menschen im
Sinne der Darwinschen Abstammungslehre festzustellen. Der
Mensch hat mit den Ostaffen zusammen gemeinsame Stammeltern

166


in einer ausgestorbenen Affenart. Durch entsprechende Benutzung
der Erkenntnisse, welche vergleichende Anatomie und Physio-
logie, individuelle Entwickelungsgeschichte und Paläontologie lie-
fern, hat Haeckel die in der Zeit weiter vorausliegenden tierischen
Vorfahren des Menschen, über die Halbaffen, Beuteltiere, Ur-
fische bis hinauf zu den Urdarmtieren und den nur aus einer Zelle
bestehenden Urtieren verfolgt. Er hat ein volles Recht zu dem
Ausspruche: Sind die Erscheinungen der individuellen Entwicke-
lung des Menschen etwa weniger wunderbar als die paläonto-
logische Entwickelung aus niederen Organismen? Warum soll der
Mensch sich nicht im Laufe großer Zeiträume aus einzelligen Ur-
formen entwickelt haben, da jedes Individuum dieselbe Entwicke-
lung von der Zelle zum ausgebildeten Organismus durchläuft?

Es wird dem menschlichen Geist aber auch nicht leicht, sich


über die Entwickelung des Einzelorganismus vom Keim bis zum
ausgebildeten Zustand naturgemäße Vorstellungen zu bilden. Wir
sehen das an den Gedanken, die sich ein Naturforscher wie
Albrecht von Haller und ein Philosoph wie Leibniz über diese
Entwickelung gebildet haben. Haller vertrat die Ansicht, daß der
Keim eines Organismus bereits alle Teile, die während der Ent-
wickelung auftreten, im kleinen, aber vollkommen fertig vor-
gebildet enthalte. Entwickelung soll also nicht Bildung eines
Neuen an dem Vorhandenen sein, sondern Auswickelung eines
schon Dagewesenen und wegen seiner Kleinheit nur dem Auge
Verborgenen. Wäre diese Ansicht richtig, dann müßten aber auch
in dem ersten Keim einer tierischen oder pflanzlichen Form alle
folgenden Generationen bereits ineinander eingeschachtelt gelegen
haben. Haller hat diese Folgerung auch gezogen. Er nahm an, daß
in dem ersten Menschenkeim der Urmutter Eva das ganze Men-
schengeschlecht im kleinen bereits vorhanden gewesen ist. Und
auch Leibniz kann sich die Entstehung der Menschen nur als Aus-
wickelung von bereits Existierendem denken: «So sollte ich mei-
nen, daß die Seelen, welche eines Tages menschliche Seelen sein
werden, im Samen wie jene von anderen Spezies dagewesen sind,
daß sie in den Voreltern bis auf Adam, also seit dem Anfang der
Dinge, immer in der Form organisierter Körper existiert haben.»

167


Der menschliche Verstand hat einen Hang sich vorzustellen,
daß etwas Entstehendes schon in irgendeiner Form vor der Ent-
stehung vorhanden gewesen ist. Der ganze Organismus soll schon
im Keim verborgen sein; die einzelnen organischen Klassen, Ord-
nungen, Familien, Gattungen und Arten sollen als Gedanken eines
Schöpfers vor ihrer tatsächlichen Entstehung vorhanden sein. Nun
fordert aber die Idee der Entwickelung, daß wir uns die Ent-
stehung eines Neuen, Späteren aus einem bereits Vorhandenen,
Früheren vorstellen. Wir sollen das Gewordene aus dem Werden
begreifen. Das können wir nicht, wenn wir alles Gewordene als
ein immer Dagewesenes ansehen.

Wie groß die Vorurteile sind, die der Entwickelungsidee ent-


gegengebracht werden, das zeigte sich deutlich an der Aufnahme,
die Caspar Friedrich Wolffs 1759 erschienene «Theoria genera-
tionis» bei den zu Hallers Ansichten sich bekennenden Naturfor-
schern fand. In dieser Schrift wurde gezeigt, daß im menschlichen
Ei noch nicht eine Spur von der Form des ausgebildeten Organis-
mus vorhanden ist, sondern daß dessen Entwickelung in einer
Kette von Neubildungen besteht. Wolff verteidigte die Idee einer
wirklichen Entwickelung, der Epigenesis, eines Werdens von noch
nicht Vorhandenem, gegenüber der Ansicht von der scheinbaren
Entwickelung, der Einschachtelung und Auswickelung. Haeckel
sagt von Wolffs Schrift, sie «gehört trotz ihres geringen Um-
fanges und ihrer schwerfälligen Sprache zu den wertvollsten Schrif-
ten im ganzen Gebiete der biologischen Literatur...» Trotzdem
hatte diese merkwürdige Schrift zunächst gar keinen Erfolg. Ob-
gleich die naturwissenschaftlichen Studien infolge der von Linne
gegebenen Anregung zu jener Zeit mächtig emporblühten, ob-
gleich Botaniker und Zoologen bald nicht mehr nach Dutzenden,
sondern nach Hunderten zählten, bekümmerte sich doch niemand
um Wolffs Theorie der Generation. Die wenigen aber, die sie
gelesen hatten, hielten sie für grundfalsch, so besonders Haller.
Obgleich Wolff durch die exaktesten Beobachtungen die Wahr-
heit der Epigenesis bewies und die in der Luft schwebenden
Hypothesen der Präformationstheorie widerlegte, blieb dennoch
der «exakte» Physiologe Haller der eifrigste Anhänger der letz-

168


teren und verwarf die richtige Lehre von Wolff mit seinem dik-
tatorischen Machtsprache: «Es gibt kein Werden» (Nulla est
epigenesis!). Mit solcher Macht widersetzte sich das Denken einer
Ansicht, von der Haeckel (in seiner «Anthropogenie») findet:
«Wir können heutzutage diese Theorie der Epigenesis kaum mehr
Theorie nennen, weil wir uns von der Richtigkeit der Tatsache
völlig überzeugt haben und dieselbe jeden Augenblick mit Hilfe
des Mikroskopes demonstrieren können.»

Wie tief eingewurzelt das Vorurteil gegen die Idee der Ent-


wickelung ist, darüber können uns die Einwände, die unsere philo-
sophischen Zeitgenossen gegen sie machen, jeden Augenblick
belehren. Otto Liebmann, der wiederholt, in seiner «Analysis der
Wirklichkeit» und in «Gedanken und Tatsachen», die naturwis-
senschaftlichen Grundansichten einer Kritik unterworfen hat,
äußert sich über den Entwickelungsgedanken in einer merkwür-
digen Weise. Er kann die Berechtigung der Vorstellung, daß
höhere Organismen aus niederen hervorgehen, angesichts der Tat-
sachen nicht leugnen. Deshalb versucht er die Tragweite dieser
Vorstellung als eine für das höhere Erklärungsbedürfnis möglichst
geringe hinzustellen. «Angenommen, Deszendenztheorie ... wäre
fertig, der große Stammbaum der organischen Naturwesen läge
offen vor uns aufgerollt; und zwar nicht als Hypothese, sondern
als historisch-konstatiertes Faktum, was hätten wir dann? Eine
Ahnengallerie, wie man sie auf fürstlichen Schlössern auch findet;
nur nicht als Fragment, sondern als abgeschlossene Totalität.»
Es soll also für die wirkliche Erklärung nichts Erhebliches getan
sein, wenn man zeigt, wie das Spätere als Neubildung aus dem
Früheren hervorgeht. Es ist nun interessant, zu sehen, wie Lieb-
manns Voraussetzungen ihn doch wieder zu der Annahme hin-
führen, das auf dem Wege der Entwickelung Entstehende sei schon
vor seiner Entstehung vorhanden. In dem vor kurzem erschienenen
zweiten Heft seiner «Gedanken und Tatsachen» behauptet er:
«Für uns freilich, denen die Welt in der Anschauungsform der
Zeit erscheint, ist der Same früher da als die Pflanze, Erzeugung
und Empfängnis früher da als das daraus entspringende Tier, und
die Entwickelung des Embryo zum erwachsenen Geschöpf ein in

169


der Zeit ablaufender, zeitlich in die Länge gezogener Prozeß. In
dem zeitlosen Weltwesen hingegen, welches nicht entsteht und
nicht vergeht, sondern ein für alle Male ist, sich im Strome des
Geschehens unabänderlich erhält, und für welches keine Zukunft,
keine Vergangenheit, sondern nur eine ewige Gegenwart existiert,
fällt dieses Vorher und Nachher, dieses Früher und Später gänz-
lich hinweg... Das, was sich für uns in der Linie der Zeit als
langsamer oder schneller ablaufende Sukzession einer Reihe von
Entwicklungsphasen entrollt, ist im allgegenwärtigen, permanen-
ten Weltwesen ein feststehendes, unentstandenes und unvergäng-
liches Gesetz.» Der Zusammenhang solcher philosophischen Vor-
stellungen mit den Auffassungen der verschiedenen Religions-
lehren über die Schöpfung ist leicht einzusehen. Daß in der Natur
zweckmäßig eingerichtete Wesen entstehen, ohne eine zugrunde
liegende Tätigkeit oder Kraft, welche die Zweckmäßigkeit in die
Wesen hineinlegt, wollen weder die Religionslehren noch solche
philosophische Denker wie Liebmann zugeben. Die naturgemäße
Anschauung verfolgt den Gang des Geschehens und sieht Wesen
entstehen, welche die Eigenschaft der Zweckmäßigkeit haben,
ohne daß der Zweck selbst mitbestimmend bei ihrer Entstehung
gewesen ist. Die Zweckmäßigkeit ist mit ihnen geworden, aber
der Zweck hat bei diesem Werden nicht mitgewirkt. Die religiöse
Vorstellungsart greift zu dem Schöpfer, der nach dem vorgefaßten
Plane die Geschöpfe zweckmäßig geschaffen hat; Liebmann wen-
det sich an ein zeitloses Weltwesen, aber er läßt das Zweckmäßige
doch durch den Zweck hervorgebracht sein. «Das Ziel oder der
Zweck ist hier nicht später und auch nicht früher als das Mittel,
sondern er fordert es vermöge einer zeitlosen Notwendigkeit.»
Liebmann ist ein gutes Beispiel für die Philosophen, die sich
scheinbar von Glaubensvorstellungen freigemacht haben, die aber
doch ganz im Sinne solcher Vorstellungen denken. Sie wollen ihre
Gedanken rein aus vernünftigen Erwägungen heraus bestimmen
lassen; die Richtung gibt ihnen aber doch ein eingeimpftes theo-
logisches Vorurteil.

Ein vernunftgemäßes Nachdenken muß daher Haeckel bei-


pflichten, wenn er sagt: «Entweder haben sich die Organismen

170


natürlich entwickelt, und dann müssen sie alle von einfachsten,
gemeinsamen Stammformen abstammen — oder das ist nicht der
Fall, die einzelnen Arten der Organismen sind unabhängig von-
einander entstanden, und dann können sie nur auf übernatürlichem
Wege durch ein Wunder erschaffen sein. Natürliche Entwicklung
oder übernatürliche Schöpfung der Arten —, zwischen diesen bei-
den Möglichkeiten ist zu wählen, ein Drittes gibt es nicht!» Was
von Philosophen oder Naturforschern gegenüber der natürlichen
Entwickelungslehre als solches Drittes vorgebracht wird, erweist
sich bei genauerer Betrachtung nur als ein seinen Ursprung mehr
oder weniger verschleiernder oder verleugnender Schöpfungsglaube.
Wenn wir die Frage nach der Entstehung der Arten in ihrer
wichtigsten Form aufwerfen, in der nach dem Ursprung des Men-
schen, so gibt es nur zwei Antworten. Entweder ist ein vernunft-
begabtes Bewußtsein vor seinem tatsächlichen Auftreten in der
Welt in keiner Weise vorhanden, sondern es entsteht als Ergebnis
des im Gehirn konzentrierten Nervensystems, oder eine alles be-
herrschende Weltvernunft existiert vor allen übrigen Wesen und
gestaltet den Stoff so, daß im Menschen ihr Abbild zur Erschei-
nung kommt. Haeckel stellt (in «Der Monismus als Band zwischen
Religion und Wissenschaft») das Werden des Menschengeistes in
folgender Weise dar: «Wie unser menschlicher Körper sich lang-
sam und stufenweise aus einer langen Reihe von Wirbeltierahnen
herangebildet hat, so gilt dasselbe auch von unserer Seele; als
Funktion unseres Gehirns hat sie sich stufenweise in Wechselwir-
kung mit diesem ihrem Organ entwickelt. Was wir kurzweg
nennen, ist ja nur die Summe unseres Empfin-
dens, Wollens und Denkens, die Summe von physiologischen Funk-
tionen, deren Elementarorgane die mikroskopischen Ganglienzellen
unseres Gehirns bilden. Wie der bewunderungswürdige Bau dieses
letzteren, unseres menschlichen Seelenorgans, sich im Laufe von
Jahrmillionen allmählich aus den Gehirnformen höherer und nie-
derer Wirbeltiere emporgebildet hat, zeigt uns die vergleichende
Anatomie und Ontogenie; wie Hand in Hand damit auch die Seele
selbst — als Funktion des Gehirns — sich entwickelt hat, das lehrt
uns die vergleichende Psychologie. Die letztere zeigt uns auch, wie

eine niedere Form der Seelentätigkeit schon bei den niedersten


Tieren vorhanden ist, bei den einzelligen Urtieren, Infusorien und
Rhizopoden. Jeder Naturforscher, der gleich mir lange Jahre hin-
durch die Lebenstätigkeit dieser einzelligen Protisten beobachtet
hat, ist positiv überzeugt, daß auch sie eine Seele besitzen; auch
diese besteht aus einer Summe von Empfindungen, Vor-
stellungen und Willenstätigkeiten; das Empfinden, Denken und
Wollen unserer menschlichen Seele ist nur stufenweise davon ver-
schieden.» Die Gesamtheit menschlicher Seelentätigkeiten, die in
dem einheitlichen Selbstbewußtsein ihren höchsten Ausdruck fin-
det, entspricht dem komplizierten Bau des menschlichen Gehirnes
ebenso wie das einfache Empfinden und Wollen der Organisation
des Urtieres. Die Fortschritte der Physiologie, die wir Forschern
wie Goltz, Munk, Wernicke, Edinger, Paul Flechsig und anderen
verdanken, geben uns heute die Möglichkeit, einzelne Seelenäuße-
rungen bestimmten Teilen des Gehirnes als deren besondere Funk-
tionen zuzuweisen. Wir sehen in vier Gebieten der grauen Rinden-
zone des Hirnmantels die Vermittler von vier Arten des Empfin-
dens: die Körperfühlsphäre im Scheitellappen, die Riechsphäre im
Stirnlappen, die Sehsphäre im Hinterhauptlappen, die Hörsphäre
im Schläfenlappen. Das die Empfindungen verbindende und ord-
nende Denken hat seine Werkzeuge zwischen diesen vier «Sinnes-
herden». Haeckel knüpft an die Erörterung dieser neueren physio-
logischen Ergebnisse die Bemerkung: «Die vier Denkherde, durch
eigentümliche und höchst verwickelte Nervenstruktur vor den zwi-
schenliegenden Sinnesherden ausgezeichnet, sind die wahren organe>, die einzigen realen Werkzeuge unseres Geisteslebens»
(Über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Menschen).
Haeckel fordert von den Psychologen, daß sie solche Ergebnisse
bei ihren Ausführungen über das Wesen der Seele berücksichtigen
und nicht eine Scheinwissenschaft aufbauen, die sich zusammen-
setzt aus phantastischer Metaphysik, einseitiger, sogenannter innerer
Beobachtung der Seelenvorgänge, unkritischer Vergleichung, miß-
verstandenen Wahrnehmungen und unvollständigen Erfahrungen
aus spekulativen Verirrungen und religiösen Dogmen. Man findet
dem Vorwurf gegenüber, der durch diese Ansicht der veralteten

172


Seelenkunde gemacht wird, bei Philosophen und auch bei ein-
zelnen Naturforschern die Behauptung, daß in den materiellen
Vorgängen des Gehirnes doch nicht das eingeschlossen sein könne,
was wir als Geist zusammenfassen; die stofflichen Vorgänge in
den Sinnes- und Denksphären seien doch keine Vorstellungen,
Empfindungen und Gedanken, sondern nur materielle Erscheinun-
gen. Das Wesen der Gedanken und Empfindungen könnten wir
nicht durch äußere Beobachtung, sondern nur durch innere Erfah-
rung, durch rein geistige Selbstbeobachtung kennenlernen. Gustav
Bunge zum Beispiel führt in einem Vortrage «Vitalismus und Me-
chanismus» (Seite 12) aus: «In der Aktivität — da steckt das Rätsel
des Lebens darin. Den Begriff der Aktivität aber haben wir nicht
aus der Sinneswahrnehmung geschöpft, sondern aus der Selbst-
beobachtung, aus der Beobachtung des Willens, wie er in unser
Bewußtsein tritt, wie er dem inneren Sinn sich offenbart.» Manche
Denker sehen das Kennzeichen eines philosophischen Kopfes in
der Fähigkeit, sich zu der Einsicht zu erheben, daß es eine Um-
kehrung des richtigen Verhältnisses der Dinge ist, die geistigen
Vorgänge aus materiellen begreifen zu wollen.

Solche Einwände deuten auf ein Mißverständnis der von Haeckel


vertretenen Weltanschauung hin. Wer wirklich von dem Sinn
dieser Weltanschauung durchdrungen ist, wird die Gesetze des gei-
stigen Lebens niemals auf einem anderen Wege als durch innere
Erfahrung, durch Selbstbeobachtung zu erforschen suchen. Die
Gegner der naturwissenschaftlichen Denkungsart reden gerade so,
als wenn deren Anhänger die Wahrheiten der Logik, Ethik, Ästhe-
tik und so weiter nicht durch Beobachtung der Geisteserscheinun-
gen als solcher, sondern aus den Ergebnissen der Gehirnanatomie
gewinnen wollten. Das von solchen Gegnern selbstgeschaffene
Zerrbild naturwissenschaftlicher Weltanschauung nennen sie dann
Materialismus und werden nicht müde, immer von neuem zu wie-
derholen, daß diese Ansicht unfruchtbar sein muß, weil sie die
geistige Seite des Daseins ignoriere oder wenigstens auf Kosten
der materiellen herabsetze. Otto Liebmann, der hier noch einmal
angeführt werden mag, weil seine antinaturwissenschaftlichen Vor-
stellungen typisch für die Denkweise gewisser Philosophen und

173


Laien sind, bemerkt: «Gesetzt nun aber, die Naturerkenntnis wäre
ans Ziel gelangt, so würde sie in der Lage sein, mir genau die
körperlich-organischen Gründe anzugeben, weshalb ich den Satz
für wahr halte und behaupte, den anderen
Satz für falsch halte und bestreite, oder
weshalb ich diese Zeilen hier gerade jetzt aufs Papier schreiben
muß, während ich in dem subjektiven Glauben befangen bin, es
geschehe dies deshalb, weil ich sie wegen ihrer von mir angenom-
menen Wahrheit niederschreiben will» (Gedanken und Tatsachen).
Kein naturwissenschaftlicher Denker wird je der Meinung sein,
daß darüber, was im logischen Sinne wahr oder falsch ist, die kör-
perlich-organischen Gründe Aufschluß geben können. Die geisti-
gen Zusammenhänge können nur aus dem geistigen Leben heraus
erkannt werden. Was logisch berechtigt ist, darüber wird immer
die Logik, was künstlerisch vollkommen ist, darüber wird das
ästhetische Urteil entscheiden. Ein anderes aber ist die Frage: Wie
entsteht das logische Denken, wie das ästhetische Urteil als Funk-
tion des Gehirnes? Über diese Frage allein spricht sich die ver-
gleichende Physiologie und Gehirnanatomie aus. Und diese zeigen,
daß das vernünftige Bewußtsein nicht für sich abgesondert exi-
stiert und das menschliche Gehirn nur benutzt, um sich durch das-
selbe zu äußern, wie der Klavierspieler auf dem Klavier spielt,
sondern daß unsere Geisteskräfte ebenso Funktionen der Form-
Elemente unseres Gehirns sind, wie «jede Kraft die Funktion eines
materiellen Körpers ist» (Haeckel, Anthropogenie).

Das Wesen des Monismus besteht in der Annahme, daß alle


Weltvorgänge, von den einfachsten mechanischen an bis herauf
zu den höchsten menschlichen Geistesschöpfungen, in gleichem
Sinne sich naturgemäß entwickeln und daß alles, was zur Erklä-
rung der Erscheinungen herangezogen wird, innerhalb der Welt
selbst zu suchen ist. Dieser Anschauung steht der Dualismus ge-
genüber, der die reine Naturgesetzlichkeit nicht für ausreichend
hält, um die Erscheinungen zu erklären, sondern zu einer über den
Erscheinungen waltenden, vernünftigen Wesenheit seine Zuflucht
nimmt. Diesen Dualismus muß die Naturwissenschaft, wie gezeigt
worden ist, verwerfen.

174


Es wird nun von Seiten der Philosophie geltend gemacht, daß
die Mittel der Naturwissenschaft nicht ausreichen, um eine Welt-
anschauung zu begründen. Von ihrem Standpunkte aus hätte die
Naturwissenschaft ganz recht, wenn sie den ganzen Weltprozeß
als eine Kette von Ursachen und Wirkungen im Sinne einer rein
mechanischen Gesetzmäßigkeit erklärt; aber hinter dieser Gesetz-
mäßigkeit stecke doch die eigentliche Ursache, die allgemeine
Weltvernunft, die sich der mechanischen Mittel nur bedient, um
höhere, zweckmäßige Zusammenhänge zu verwirklichen. So sagt
zum Beispiel der in den Bahnen Eduard von Hartmanns wan-
delnde Arthur Drews: «Auch das menschliche Kunstwerk kommt
auf mechanische Weise zustande, wenn man nämlich nur die äußer-
liche Aufeinanderfolge der einzelnen Momente dabei im Auge hat,
ohne darauf zu reflektieren, daß hinter diesem allem doch nur der
Gedanke des Künstlers steckt; dennoch würde man denjenigen mit
Recht für einen Narren halten, der etwa behaupten wollte, das
Kunstwerk sei rein mechanisch entstanden..., was sich auf jenem
niedrigeren, mit der bloßen Anschauung der Wirkung sich begnü-
genden Standpunkte, der also den ganzen Prozeß gleichsam nur
von hinten betrachtet, als gesetzmäßige Wirkung einer Ursache
darstellt, dasselbe erweist sich, von vorne gesehen, allemal als beab-
sichtigter Zweck des angewandten Mittels» (Die deutsche Speku-
lation seit Kant). Und Eduard von Hartmann selbst sagt von dem
Kampf ums Dasein, der es ermöglicht, die Lebewesen naturgemäß
zu erklären: «Der Kampf ums Dasein und mit ihm die ganze
natürliche Zuchtwahl ist nur ein Handlanger der Idee, der die
niederen Dienste bei der Verwirklichung jener, nämlich das Be-
bauen und Anpassen der vom Baumeister nach ihrem Platz im
großen Bauwerk bemessenen und typisch vorherbestimmten Steine,
verrichten muß. Diese Auslese im Kampf ums Dasein für das im
wesentlichen zureichende Erklärungsprinzip der Entwickelung des
organischen Reiches ausgeben, wäre nicht anders, als wenn ein
Tagelöhner, der beim Zurichten der Steine beim Kölner Dombau
mitgewirkt, sich für den Baumeister dieses Kunstwerkes erklären
wollte» (Philosophie des Unbewußten).

Wären diese Vorstellungen berechtigt, so käme es der Philo-

175

sophie zu, den Künstler hinter dem Kunstwerke zu suchen. Philo-


sophen haben in der Tat die verschiedensten dualistischen Erklä-
rungsweisen der Welterscheinungen versucht. Sie haben in Ge-
danken gewisse Wesenheiten konstruiert, die hinter den Erschei-
nungen schweben sollen, wie der Künstlergeist hinter dem Kunst-
werke waltet.

Alle naturwissenschaftlichen Betrachtungen könnten dem Men-


schen die Überzeugung nicht nehmen, daß die wahrnehmbaren Er-
scheinungen von außerweltlichen Wesen gelenkt werden, wenn er
innerhalb seines Geistes selbst etwas fände, was auf solche Wesen
hindeutet. Was vermöchten Anatomie und Physiologie mit ihrer
Erklärung, daß die Seelentatigkeiten Funktionen des Gehirnes sind,
wenn die Beobachtung dieser Tätigkeiten etwas lieferte, was als
höherer Erklärungsgrund anzusehen ist? Wenn der Philosoph uns
zu zeigen vermöchte, daß sich in der menschlichen Vernunft eine
allgemeine Weltvernunft offenbart, dann könnten eine solche Er-
kenntnis alle naturwissenschaftlichen Ergebnisse nicht widerlegen.

Nun wird aber die dualistische Weltanschauung durch nichts


besser widerlegt als durch die Betrachtung des menschlichen Gei-
stes. Wenn ich einen äußeren Vorgang, zum Beispiel die Bewe-
gung einer elastischen Kugel, die durch eine andere gestoßen wor-
den ist, erklären will, so kann ich nicht bei der bloßen Beobach-
tung stehen bleiben, sondern ich muß das Gesetz suchen, das Be-
wegungsrichtung und Schnelligkeit der einen Kugel durch Rich-
tung und Schnelligkeit der anderen bestimmt. Ein solches Gesetz
kann mir nicht die bloße Beobachtung, sondern nur die gedank-
liche Verknüpfung der Vorgänge liefern. Der Mensch entnimmt
also aus seinem Geiste die Mittel, um das zu erklären, was sich
ihm durch die Beobachtung darbietet. Er muß über die Beobach-
tung hinausgehen, wenn er sie begreifen will. Beobachtung und
Denken sind die beiden Quellen unserer Erkenntnisse über die
Dinge. Das gilt für alle Dinge und Vorgänge, nur nicht für das
denkende Bewußtsein selbst. Ihm können wir durch keine Erklä-
rung etwas hinzufügen, was nicht schon in der Beobachtung liegt.
Es liefert uns die Gesetze für alles andere, es liefert uns zugleich
auch seine eigenen. Wenn wir die Richtigkeit eines Naturgesetzes

176


dartun wollen, so vollbringen wir dies dadurch, daß wir Beobach-
tungen, Wahrnehmungen unterscheiden, ordnen, Schlüsse ziehen,
also uns Begriffe und Ideen über die Erfahrungen mit Hilfe des
Denkens bilden. Über die Richtigkeit des Denkens entscheidet nur
das Denken selbst. So ist es das Denken, das uns bei allem Welt-
geschehen über die bloße Beobachtung, nicht aber über sich selbst
hinausführt.

Diese Tatsache ist unvereinbar mit der dualistischen Welt-


anschauung. Was die Anhänger dieser Weltanschauung so oft be-
tonen, daß die Äußerungen des denkenden Bewußtseins uns durch
den inneren Sinn der Selbstbeobachtung zugänglich sind, während
wir das physische, das chemische Geschehen nur begreifen, wenn
wir die Tatsachen der Beobachtung durch logische, mathematische
Kombination und so weiter, also durch die Ergebnisse der geistes-
wissenschaftlichen Gebiete, in die entsprechenden Zusammenhänge
bringen: das dürften sie vielmehr niemals zugeben. Denn man
ziehe nur einmal die richtige Folgerung aus der Erkenntnis, daß
Beobachtung in Selbstbeobachtung umschlägt, wenn wir aus natur-
wissenschaftlichem in geisteswissenschaftliches Gebiet heraufgehen.
Läge den Naturerscheinungen eine allgemeine Weltvernunft oder
ein anderes geistiges Urwesen zugrunde (zum Beispiel Schopen-
hauers Wille oder Hartmanns unbewußter Geist), so müßte auch
der denkende Menschengeist von diesem Weltwesen geschaffen
sein. Eine Übereinstimmung der Begriffe und Ideen, die sich dieser
Geist von den Erscheinungen bildet, mit der eigenen Gesetzmäßig-
keit dieser Erscheinungen wäre nur möglich, wenn der ideelle
Weltkünstler in der menschlichen Seele die Gesetze erzeugte, nach
denen er vorher die ganze Welt geschaffen hat. Dann aber könnte
der Mensch seine eigene geistige Tätigkeit nicht durch Selbst-
beobachtung, sondern durch Beobachtung des Urwesens erkennen,
von dem er gebildet ist. Es gäbe eben keine Selbstbeobachtung, son-
dern nur Beobachtung der Absichten und Zwecke des Urwesens.
Mathematik und Logik zum Beispiel dürften nicht dadurch aus-
gebildet werden, daß der Mensch die innere, eigene Natur geistiger
Zusammenhänge sucht, sondern daß er diese geisteswissenschaft-
lichen Wahrheiten aus den Absichten und Zwecken der ewigen

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