Rudolf steiner



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Sittlichkeit Genüge geschehen.> Während sie sich sonst mit einem

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gewissen idealen Schwünge zu umkleiden liebte, legt sie nun eine
sittliche Stumpfheit und moralische Blöße an den Tag. Alle sittlich
Entrüsteten sind in ihren Augen Heuchler, Sykophanten, gesin-
nungsrohe Leute.»

Das waren kräftige Worte. Volkelt hatte ausgesprochen, was


Hunderten die Brust bewegte. Wer seine Worte vernahm, der
mußte in Volkelt den deutschen Mann erkennen und aus vollem
Herzen ihm zustimmen. Und als energischer, ganzer deutscher
Mann hat er sich bisher erwiesen. Er führt ein Denkerleben im
deutschen Sinne und ringt nach Lösung der höchsten Welt-
probleme. Seine Werke tragen durchaus jenen Zug, der ihnen von
seiner harmonisch wirkenden, unbeugsamen Persönlichkeit auf-
gedrückt ist.

Gemüt und Denken ist in diesem Manne in gleichem Maße


vorhanden. Wer sich davon überzeugen will, der lese sein Buch:
« Traumphantasie.»

So wie die Astronomie aus der Astrologie, die Chemie aus der


Alchemie sich entwickelt hat, so wird sich eine Wissenschaft der
Traumwelt aus der Traumdeuterei entwickeln. Der Mensch will
immer zuerst die Gebiete der Wirklichkeit für seine persönlichen
Wünsche ausbeuten und wird sie erst später mit dem selbstlosen
Forschen der Wissenschaft durchdringen. Volkelt hat in seinem
Buche uns in formgewandter Weise alles zusammengestellt, was
wir heute an Elementen zu einer künftigen Traumwissenschaft
haben. Wer das Buch durchgeht, wird alsbald bemerken, daß die-
ses intime Gebiet, diese Märchenwelt nur von einem Deutschen
so vorteilhaft behandelt werden konnte.

Volkelts Schriften: «Das Unbewußte und der Pessimismus»,


«Individualismus und Pantheismus», «Der Symbol-Begriff in der
neuesten Ästhetik», zeigen uns überall den hochbegabten, gründ-
lichen Denker, der endlich in seinen letzten Schriften: «Kants
Erkenntnistheorie» und «Erfahrung und Denken», auf seiner vollen
Höhe erscheint.

Volkelt ist ein origineller Forscher, der in seiner Weise auf


Kant weiterbaut. Kant machte gegenüber dem wissenschaftlichen
«Herumtappen im Finstern» geltend, man müsse erst unser Er-

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kenntnisvermögen selbst prüfen, um zu sehen, ob dieses Instrument
auch geeignet sei, außerordentliche Dinge wie Gott, Seele und
dergleichen zu begreifen. Und er glaubte bewiesen zu haben, daß
wir nichts verstehen können als die Erfahrung, die vor unseren
Sinnen ausgebreitet ist. Alles Überirdische bleibe ungewiß. Auch
Volkelt ist der Ansicht, daß wir eine sichere Kenntnis nur von
dem haben, was unseren Augen und Ohren und so weiter gegeben
ist. Jedoch glaubte er durch folgerichtiges Schließen auch von den
hinter dieser Sinnenwelt liegenden tätigen Ursachen ein Wissen
zu gewinnen, nur trage dieses keinen anderen als den Wahrschein-
lichkeitscharakter. Er will den «behutsamen Kritizismus», den er
von Kant übernommen, mit einem «hochstrebenden Idealismus»
vereinen. Wohl ist die neueste Phase seines Denkens nicht ganz
frei von der heute allgemein herrschenden Mut- und Energielosig-
keit des Denkens, aber seine gesunde Natur und sein deutscher
Sinn wird ihn hoffentlich nicht in den Irrtum verfallen lassen,
daß unser Forschen ein vergebliches Ringen sei. Wir hoffen es zu
erleben, daß auch aus seiner Philosophie das wieder verschwindet,
was er heute als notwendig ansieht: «Ein Vorwärtsgehen, das doch
wieder teilweise zurückweicht, ein Nachgeben, das doch wieder
bis zu einem gewissen Grade zugreift.» Wir verlangen, daß auch
der Philosoph von Huttens Geist beseelt sei und ein kräftiges und
entschlossenes «Durch!» spreche.

Wir hätten gewünscht, daß dieser deutsche Denker, der in


Österreich geboren ist, auch hier eine angemessene Stätte seines
Wirkens gefunden hätte. Sein kühner freier Sinn hat ihn in seinem
engeren Vaterlande unmöglich gemacht. Wahrlich, er wäre hier
der akademischen Bürgerschaft ein Vorbild geworden in der Hoch-
haltung unserer idealen Güter und in dem Hasse gegen alles
Schlechte und Halbe. Nicht überall aber liebt man freies, rück-
haltloses Auftreten, und so mußte Volkelt wandern. Er fand zuerst
an der Universität in Jena, dann in Basel, wo er heute lebt, eine
Wirkensstätte.

Weder der künftige Geschichteschreiber der Philosophie noch


der Kulturhistoriker wird dem Namen Volkelts einen Ehrenplatz
verweigern können.

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DIE GEISTIGE SIGNATUR DER GEGENWART

Achselzuckend gedenkt unser heutiges Geschlecht jener Zeit, in


der ein philosophischer Zug durch das ganze deutsche Geistes-
leben ging. Die gewaltige Zeitströmung, die am Ende des vorigen
und am Anfang dieses Jahrhunderts die Geister ergriff und kühn
sich die denkbar höchsten Aufgaben stellte, gilt gegenwärtig als
eine bedauerliche Verirrung. Wer es wagt, zu widersprechen, wenn
von den «Phantastereien Fichtes», von den «wesenlosen Gedanken
und Wortspielen» Hegels die Rede ist, wird einfach als Dilettant
hingestellt, «der von dem Geiste der heutigen Naturforschung
ebensowenig wie von der Gediegenheit und Strenge der philo-
sophischen Methode eine Ahnung hat». Höchstens Kant und Scho-
penhauer finden Gnade bei unseren Zeitgenossen. Bei dem ersteren
gelingt es nämlich, die etwas spärlichen philosophischen Brocken,
die sich die moderne Forschung zugrunde legt, scheinbar aus
seinen Lehren abzuleiten; der letztere hat neben seinen streng wis-
senschaftlichen Leistungen auch Arbeiten in leichtem Stil und über
Dinge geschrieben, die auch dem Menschen mit dem bescheiden-
sten geistigen Horizonte nicht zu entlegen zu sein brauchen. Für
jenes Streben nach den höchsten Spitzen der Gedankenwelt aber,
für jenen Schwung des Geistes, der auf wissenschaftlichem Gebiete
unserer klassischen Kunstepoche parallel ging, fehlt jetzt der Sinn
und das Verständnis. Das Bedenkliche dieser Erscheinung tritt erst
hervor, wenn man in Erwägung zieht, daß ein dauerndes Abwenden
von jener Geistesrichtung für die Deutschen ein Verlieren ihres
Selbsts, ein Bruch mit dem Volksgeiste wäre. Denn jenes Streben
entsprang einem tiefen Bedürfnisse des deutschen Wesens. Es fällt
uns nicht ein, die mannigfachen Irrtümer und Einseitigkeiten, die
Fichte, Hegel, Schelling, Oken und andere auf ihren kühnen Unter-
nehmungen im Reich des Idealismus begangen haben, leugnen zu
wollen, aber die Tendenz, von der sie beseelt waren, sollte in ihrer
Großartigkeit nicht verkannt werden. Sie ist so recht dem Volke
der Denker angemessen. Nicht der lebendige Sinn für die unmittel-
bare Wirklichkeit, für die Außenseite der Natur, der die Griechen
zu ihren herrlichen, unvergänglichen Schöpfungen befähigte,

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eignet dem Deutschen, dafür aber ein unablässiges Drängen des
Geistes nach dem Grunde der Dinge, nach den scheinbar verborge-
nen, tieferen Ursachen der uns umgebenden Natur. Lebte sich der
griechische Geist in einer wunderbaren Welt von Formen und Ge-
stalten aus, so mußte der auf sich selbst zurückgezogene Deutsche,
der weniger mit der Natur, dafür aber mehr mit seinem Herzen,
mit seinem eigenen Innern Umgang pflegt, auch seine Eroberun-
gen auf dem Gebiete der reinen Gedankenwelt suchen. Und
darum war es deutsche Art, wie sich Fichte und seine Nachfolger
der Welt und dem Leben gegenüberstellten. Darum fanden ihre
Lehren so begeisterte Aufnahme, darum wurde eine Zeitlang das
ganze Leben der Nation davon ergriffen. Darum aber auch dürfen
wir mit dieser Richtung des Geistes nicht brechen. Überwindung
der Fehler, aber naturgemäße Entwickelung auf dem Grunde, der
damals gelegt wurde, muß unsere Losung werden. Nicht was diese
Geister fanden oder zu finden glaubten, aber wie sie sich den
Aufgaben der Forschung gegenüberstellten, das ist das bleibend
Wertvolle. Man hatte das Bedürfnis, in die tiefsten Geheimnisse
des Welträtsels einzudringen, ohne Offenbarung, ohne auf den
Zufall beschränkte Erfahrung, rein durch die dem eigenen Denken
innewohnende Kraft, und man hatte die Überzeugung, daß das
menschliche Denken jenes Aufschwunges fähig sei, der dazu not-
wendig ist. Wie anders liegen die Dinge heute? Man hat alles
Vertrauen in das Denken verloren. Man betrachtet als einziges
Werkzeug der Forschung die Beobachtung, die Erfahrung. Was
nicht handgreiflich ist, das hält man für unsicher. Daß unser
Denken, ohne am Gängelbande der Sinne zu hängen, rein auf sich
selbst gestützt, tiefer in das Weltengetriebe blicken kann, als alle
äußere Beobachtung es vermag, dafür hat man kein Verständnis.
Man verzichtet überhaupt auf jegliche Lösung der großen Rätsel-
fragen der Schöpfung und verschwendet unendliche Mühe auf die
Detailforschung, die ohne große, leitende Gesichtspunkte denn
doch keinen Wert hat. Man vergißt dabei nur, daß man sich mit
dieser Ansicht einem Standpunkte nähert, den man längst über-
wunden zu haben glaubt. Die Abweisung alles Denkens und das
Pochen auf die Erfahrung ist nämlich, tiefer erfaßt, ganz dasselbe

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wie der blinde Offenbarungsglaube der Religionen. Denn worauf
beruht der letztere? Doch nur darauf, daß uns Wahrheiten fertig
überliefert werden, die wir hinnehmen müssen, ohne daß wir die
Gründe in unserem eigenen Denken abwägen sollen. Wir ver-
nehmen die Botschaft, doch ist uns die Einsicht in die Gründe
verwehrt. Nicht anders ist es beim blinden Erfahrungsglauben.
Man soll bloß die Tatsachen sammeln, ordnen und so weiter, ohne
auf die inneren Gründe einzugehen, so behaupten die Natur-
forscher, so die strengen Philologen. Auch hier sollen wir die
fertigen Wahrheiten ohne Einsicht in die hinter den Erscheinun-
gen tätigen Kräfte einfach hinnehmen. Glaube, was Gott ge-
offenbart hat, und forsche nicht nach den Gründen, so spricht die
Theologie; registriere, was vor deinen Augen sich abspielt, aber
denke nicht nach, was für Ursachen dahinter walten, denn das ist
vergebens, so spricht die neueste Philosophie. Und erst auf dem
Gebiete der Ethik, wohin sind wir da gelangt! Der rote Faden,
der sich durch das Denken aller Geister der klassischen Periode
unserer Wissenschaft hindurchzieht, ist die Anerkennung des freien
Willens als der höchsten Macht des menschlichen Geistes. Diese
Anerkennung ist das, was, recht erfaßt, uns den Menschen allein
in seiner Würde erscheinen läßt. Die Religionen, die von uns
Unterwerfung unter die Gebote verlangen, die uns eine äußere
Macht gibt, und in dieser Unterwerfung allein das Sittliche sehen,
setzen diese Würde herab. Es ist dem auf der höchsten Stufe orga-
nischer Entwickelung stehenden Wesen nicht angemessen, daß es
sich willenlos in die Bahnen fügt, die ihm von einem anderen
vorgezeichnet sind, es muß sich Richtung und Ziel seines Wir-
kens selbst vorschreiben. Nicht Geboten, sondern der eigenen Ein-
sicht gehorchen, keine Macht der Welt anerkennen, die uns vor-
zuschreiben hätte, was sittlich ist, das ist die Freiheit in ihrer
wahren Gestalt. Diese Auffassung macht uns zu Selbst-Herren
unseres Schicksales. Von dieser Auffassung getragen sind Fichtes
bedeutungsvolle Worte: «Brecht alle herab auf mich, und du Erde
und du Himmel, vermischt euch in wildem Tumulte, und ihr
Elemente alle, — schäumet und tobet und zerreibet im wilden
Kampfe das letzte Sonnenstäubchen des Körpers, den ich mein

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nenne: - mein Wille allein mit seinem festen Plane soll kühn
und kalt über den Trümmern des Weltalls schweben; denn ich
habe meine Bestimmung ergriffen, und die ist dauernder als ihr;
sie ist ewig, und ich bin ewig wie sie.» Was der deutschen ideali-
stischen Philosophie zugrunde lag: Bruch mit dem Dogma auf
dem Gebiete des Denkens, Bruch mit dem Gebote auf jenem des
Handelns, das muß das unverrückbare Ziel der weiteren Entwicke-
lung sein. Der Mensch muß sich Glück und Befriedigung aus sich
selbst schaffen und nicht von außen an sich herankommen lassen.
Rein dem Unvermögen, sich auf ein energisches Selbst zu stützen
und von da aus kräftig zu wirken, entspringt der Pessimismus und
was sonst noch an ähnlichen Zeitkrankheiten auftritt. Man weiß
sich keine bestimmten Lebensaufgaben zu stellen, denen man
gewachsen wäre, man träumt sich in unbestimmte, unklare Ideale
hinein und klagt dann, wenn man nicht erreicht, wovon man
eigentlich keine Vorstellung hat. Man frage einen der Pessimisten
unserer Tage, was er denn eigentlich wolle und woran er ver-
zweifelt? Er weiß es nicht. Man glaube nicht, daß ich hiermit
etwa Eduard von Hartmanns Pessimismus treffen will, der mit
dem gewöhnlichen Gejammer über das Elend des Lebens nichts
gemein hat. (Wie hoch ich Hartmanns Weltanschauung stelle,
ersehe man aus der Einleitung zum zweiten Bande meiner
Ausgabe von Goethes wissenschaftlichen Schriften. Kürschners
Deutsche National-Literatur.)

Bei allen Fortschritten, die wir auf den verschiedensten Gebie-


ten der Kultur zu verzeichnen haben, können wir uns doch nicht
entschlagen, daß die Signatur unseres Zeitalters viel, sehr viel zu
wünschen übrig läßt. Unsere Fortschritte sind zumeist nur solche in
die Breite und nicht in die Tiefe. Für den Gehalt eines Zeitalters
sind aber nur die Fortschritte in die Tiefe maßgebend. Es mag sein,
daß die Fülle der Tatsachen, die von allen Seiten auf uns eingedrun-
gen sind, es begreiflich erscheinen läßt, daß wir über dem Blick ins
Weite den in die Tiefe augenblicklich verloren haben, wir möch-
ten nur wünschen, daß der abgerissene Faden fortschreitender Ent-
wickelung bald wieder angeknüpft und die neuen Tatsachen von
der einmal gewonnenen geistigen Höhe aus erfaßt werden.

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GOETHE ALS ÄSTHETIKER

Die Zahl der gegenwärtig erscheinenden Schriften und Abhand-


lungen, die sich zur Aufgabe machen, das Verhältnis Goethes zu
den einzelnen Zweigen der modernen Wissenschaften und zu den
verschiedenen Äußerungen unseres Geisteslebens überhaupt zu
untersuchen, ist eine erdrückende. Hierinnen spricht sich die
erfreuliche Tatsache aus, daß immer weitere Kreise von dem Be-
wußtsein ergriffen werden: wir stehen in Goethe einem Kultur-
faktor gegenüber, mit dem sich alles auseinandersetzen muß, was
an dem geistigen Leben der Gegenwart teilnehmen will. Wer den
Punkt nicht findet, wo er sein eigenes Streben an diesen größten
Geist der neueren Zeit anzuknüpfen vermag, der kann sich nur
führen lassen von der übrigen Menschheit wie ein Blinder; bewußt,
mit voller Klarheit den Zielen zusteuern, welche die Kulturent-
wickelung der Zeit einschlägt, kann er nicht. Aber gerade die
Wissenschaft wird Goethe nicht überall gerecht. Es fehlt an der
hier mehr als irgendwo notwendigen Unbefangenheit, um sich
erst in die volle Tiefe des Goetheschen Genius zu versenken,
bevor man sich auf den kritischen Stuhl setzt. Man glaubt, weit
über Goethe hinaus zu sein, weil die einzelnen Ergebnisse seiner
Forschung von denen der heutigen Wissenschaft, die eben mit
vollkommeneren Hilfsmitteln und einer reicheren Erfahrung
arbeitet, überholt sind. Aber wir sollten über diese Einzelheiten
hinaus den Blick auf seine umfassenden Prinzipien, auf seine
großartige Weise, die Dinge anzuschauen, richten. Wir sollten
uns seine Art zu denken, seine Art, die Probleme zu stellen, an-
eignen, um dann mit unseren reicheren Mitteln und unserer aus-
gebreiteteren Erfahrung in seinem Geiste weiterbauen zu können.
Goethe selbst hat das Verhältnis seiner wissenschaftlichen Resul-
tate zum Fortschritte der Forschung in einem trefflichen Bilde
veranschaulicht. Er bezeichnet sie als Steine, mit denen er sich auf
dem Schachbrette vielleicht zu weit vorgewagt habe, aus denen
man aber den Plan des Spielers erkennen sollte. Dieser Plan, mit
dem er den Wissenschaften, denen er sich gewidmet hat, neue,
großartige Impulse gegeben hat, ist eine bleibende Errungenschaft,

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der man das größte Unrecht antut, wenn man sie von oben herab
behandelt. Aber unsere Zeit hat das Eigentümliche, daß ihr die
produktive Kraft des Genies fast bedeutungslos erscheint. Wie
sollte es auch anders sein in einer Zeit, in der jedes Hinausgehen
über die tatsächliche Erfahrung in der Wissenschaft von so vielen
verpönt ist! Zum bloßen Beobachten braucht man nichts als ge-
sunde Sinne, und Genie ist dazu ein recht entbehrliches Ding.

Aber der wahre Fortschritt in den Wissenschaften wie in der


Kunst ist niemals durch bloßes Beobachten oder sklavisches Nach-
ahmen der Natur bewirkt worden. Gehen doch Tausende und
aber Tausende an einer Tatsache vorüber, dann kommt einer und
macht an derselben die Entdeckung eines großartigen wissen-
schaftlichen Gesetzes. Eine schwankende Kirchenlampe hat wohl
mancher vor Galilei beobachtet, doch diesem genialen Kopfe war
es vorbehalten, daran die für die Physik so bedeutungsvollen Pen-
delgesetze zu entdecken. «Wär' nicht das Auge sonnenhaft, wie
könnten wir das Licht erblicken!» ruft Goethe aus, und er will
damit sagen, daß nur der in die Tiefen der Natur zu blicken ver-
mag, der die hiezu nötigen Anlagen hat und die produktive Kraft,
im Tatsächlichen mehr zu sehen als die bloßen Tatsachen.

Von diesen Grundsätzen ausgehend, muß die bloß philologische


und kritische Goethe-Forschung, der ihre Berechtigung abzuspre-
chen ja eine Torheit wäre, ihre Ergänzung finden. Wir müssen
auf die Tendenzen, die Goethe hatte, zurückgehen, und von den
Gesichtspunkten aus, die er gezeigt hat, wissenschaftlich weiter-
arbeiten. Wir sollen nicht bloß über seinen Geist, sondern in sei-
nem Geiste forschen.

Hier soll gezeigt werden, wie eine der jüngsten und am mei-


sten umstrittenen Wissenschaften, die Ästhetik, im Sinne der
Goetheschen Weltanschauung aufgebaut werden muß. Diese Wis-
senschaft ist kaum über ein Jahrhundert alt. Mit dem bestimm-
ten Bewußtsein, damit ein neues wissenschaftliches Gebiet zu
eröffnen, trat 1750 Alexander Gottlieb Baumgarten mit seiner
«Aesthetica» hervor. Was vorher über diesen Zweig des Denkens
geschrieben worden ist, kann nicht einmal als elementarer Ansatz
zu einer Kunstwissenschaft bezeichnet werden. Weder die grie-

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chischen noch die mittelalterlichen Philosophen wußten wissen-
schaftlich mit der Kunst etwas anzufangen. Der griechische Geist
fand alles, was er suchte, innerhalb der Natur, es gab für ihn
keine Sehnsucht, die von dieser guten Mutter nicht befriedigt
worden wäre. Er verlangte nichts über die Natur hinaus, daher
brauchte ihm auch die Kunst nichts darüber zu bieten; sie mußte
dieselben Bedürfnisse wie die Natur, nur in höherem Maße,
befriedigen. Man fand alles, was man suchte, m der Natur, des-
halb brauchte man in der Kunst nichts als die Natur zu erreichen.
Aristoteles kennt deswegen kein anderes Kunstprinzip als die
Naturnachahmung. Plato, der große Idealist der Griechen, erklärte
die bildende Kunst und die Dramatik einfach für schädlich. Von
einer selbständigen Aufgabe der Kunst hat er so wenig einen Be-
griff, daß er der Musik gegenüber nur deshalb Gnade für Recht
ergehen läßt, weil sie die Tapferkeit im Kriege befördert. — Da-
bei konnte es nur so lange bleiben, als der Mensch nicht wußte,
daß in seinem Innern eine der äußeren Natur mindestens eben-
bürtige Welt lebt. In dem Augenblicke aber, in dem er diese selb-
ständige Welt gewahr wurde, mußte er sich losmachen von den
Fesseln der Natur, er mußte ihr gegenüberstehen als ein freies
Wesen, dem nicht mehr sie seine Wünsche und Bedürfnisse an-
erschafft. Ob jetzt diese neue Sehnsucht, die nicht innerhalb der
bloßen Natur erzeugt, auch noch durch die letztere befriedigt wer-
den kann, bleibt fraglich. Damit sind die Konflikte des Ideals mit
der Wirklichkeit, des Gewollten mit dem Erreichten, kurz alles
dessen gegeben, was eine Menschenseele in ein wahres geistiges
Labyrinth führt. Die Natur steht uns gegenüber da seelenlos, bar
alles dessen, was uns unser Inneres als ein Göttliches ankündigt.
Die nächste Folge wird ein Abwenden von aller Wirklichkeit
sein, die Flucht vor dem unmittelbar Natürlichen. Diese Flucht
zeigt uns die Weltanschauung des christlichen Mittelalters, sie ist
das gerade Gegenteil des Griechentums. So wie letzteres alles in
der Natur gefunden hat, so findet diese Auffassung gar nichts
mehr in ihr. Auch jetzt war eine Kunstwissenschaft nicht mög-
lich. Die Kunst kann ja doch nur mit den Mitteln der Natur
arbeiten, und die christliche Gelehrsamkeit konnte es nicht fassen,

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wie man innerhalb der gottlosen Wirklichkeit Werke schaffen
kann, die den nach Göttlichem strebenden Geist befriedigen kön-
nen. Aber die Hilflosigkeit der Wissenschaft tat nie der Kunst-
entwickelung Abbruch. Während die erstere nicht wußte, was sie
darüber denken solle, entstanden die herrlichsten Werke christ-
licher Kunst.

Zur Entstehung der Ästhetik war eine Zeit notwendig, in der


der Geist, zwar frei und unabhängig von den Banden der Natur,
sein Inneres, die Idealwelt, in voller Klarheit erblickt, und die
Idee ihm Bedürfnis geworden ist, in der aber auch schon wieder
ein Zusammengehen mit der Natur möglich ist. Dieses Zusam-
mengehen kann sich nun freilich nicht auf die Summe von Zu-
fälligkeiten beziehen, aus denen die Welt zusammengesetzt ist,
die uns als Sinnenwelt gegeben ist, und von der der Grieche noch
vollkommen befriedigt war. Hier finden wir ja nichts als Tat-
sachen, die ebensogut auch anders sein könnten, und wir suchen
das Notwendige, von dem wir begreifen, warum es so sein muß;
wir sehen nichts als Individuen, und unser Geist strebt nach dem
Gattungsmäßigen, Urbildlichen; wir sehen nichts als Endliches,
Vergängliches, und unser Geist strebt nach dem Unendlichen, Un-
vergänglichen, Ewigen. Wenn der der Natur entfremdete Men-
schengeist wieder zur Natur zurückkehren sollte, so mußte es zu
etwas anderem sein als zu jener Summe von Zufälligkeiten. Und
diese Rückkehr bedeutet Goethe: Rückkehr zur Natur, aber Rück-
kehr mit dem vollen Reichtum des entwickelten Geistes, mit der
Bildungshöhe der neuen Zeit. Goethes Anschauung entspricht die
grundsätzliche Trennung von Natur und Geist nicht; er will in
der Welt ein großes Ganzes erblicken, eine einheitliche Entwicke-
lungskette von Wesen, innerhalb welcher der Mensch ein Glied,
wenn auch das höchste, bildet. Es handelt sich um ein Hinaus-
gehen über die unmittelbare, sinnenfällige Natur, ohne sich im
geringsten von dem zu entfernen, was das Wesen der Natur aus-
macht. Er tritt pietätvoll auf die Wirklichkeit zu, weil er an
ihren idealen Gehalt glaubt. Die Natur von einem einheitlichen
Entwickelungszentrum aus als ein schaffendes Ganzes zu über-

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