Rudolf steiner



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lebendige Kraft des Geistes der schaffenden Natur näherzukom-
men. Das können die nicht erreichen, die sich mit fertigem, totem
Wissen begnügen, sondern nur jene, die schöpferisch in sich dies
tote Material lebendig werden lassen, und so in sich das hervor-
bringen, was außer ihnen die Natur werden läßt. Nicht was der
Mensch aus der Welt zusammenzulesen vermag, ist für Goethe
das Höchste, sondern wie er sich damit abfindet, um seinen Geist
mit lebenswahrem Weltinhalt zu füllen.

Wem es nicht gelingt, die Dinge in der Weise auf sich wirken


zu lassen, daß die Welt in seinem Innern so lebendig, so tätig
und durch und durch wirksam ist wie die Welt außer uns, wo
kein Teil ist, an dem nicht unzählige Kräfte angreifen, der hat
im Sinne Goethes dem Grundsatze der Erfahrung nicht genug getan.

Was an der Welt ruhend, geworden, erstarrt erscheint, ist leerer


Schein, ist nur das oberflächliche Ergebnis ewigen Werdens und
Wirkens. Aber jene scheinbare Ruhe ist der Gegenstand der Sinne,
dieses Werden und Wirken offenbart sich in der Idee.* Und so
ist die Idee Erfahrungsergebnis. Sie enthüllt sich freilich nur dem,
der sich nicht mit der oberflächlichen Erfahrung befriedigt. Goethe
hatte über die Resultate seiner wissenschaftlichen Forschung nie
eine andere Ansicht als die, daß er auf dem Wege der Beobach-
tung zu ihnen gelangt ist. Aber von dem Augenblicke an, wo er
durch Schiller gedrängt wurde, doch über den Charakter seiner
Erfahrungen nachzudenken, wurde ihm immer klarer, daß sein
ganzes Streben nur ein Suchen nach Ideen ist, als den höchsten
Formen, in denen sich die Wirklichkeit ausspricht.** Diese Über-

* Zum ersten Male wurde die hiermit gekennzeichnete und durch


Goethes Nachlaß für dessen wissenschaftliche Tätigkeit in voller Beleuch-
tung erscheinende Eigenart des größten deutschen Dichters von K. J. Schröer
zum ästhetischen Prinzipe in der Gesamt-Auffassung desselben gemacht.
(Siehe Goethes «Faust» I und II mit Einleitung und fortlaufender Erklä-
rung und Dramen, Kürschners «Deutsche National-Literatur», 6. bis
11. Band.)

* * Wir finden hier auf das theoretisch-wissenschaftliche Gebiet jene


Anschauung übertragen, die Goethe im Sittlichen zu seiner hohen Auffas-
sung der Liebe, als selbstloser Hingabe an das Objekt, führte. (Siehe Schröer,
Goethe und die Liebe, und dessen Einleitung zum 3. Bande von Goethes
Dramen, in Kürschners «Deutsche National-Literatur».)

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zeugung drängte sich uns immer mehr und mehr auf, da wir uns
an der Hand von Goethes hinterlassenen Papieren den Weg an-
schaulich zu machen suchten, den dieser Genius auf wissenschaft-
lichem Gebiete genommen hat. Da bleibt keine Beobachtung ein-
zeln stehen; stets werden weitere verwandte an sie angereiht, um
über das «Was» zum «Wie», über das Einzelne hinaus zum Gan-
zen zu kommen, um von der Kenntnisnahme zur Anschauung auf-
zusteigen. Die Erfahrungen interessieren Goethe nie unmittelbar,
wie sie an sich sind, sondern immer als Frage an die Natur. Wer
sich in diese Notizen vertieft, der sieht überall hinter der einzelnen
Aufzeichnung eine Idee walten, die sich im Geiste Goethes aus
dem Unbestimmten immer ins Bestimmtere herausarbeitet.

Wer so auf dem Papiere die Zeichen verfolgt, die deutlich


genug aussprechen, wie in Goethe durch stetigen Verkehr mit der
Welt Ideen werden, dem ist auch begreiflich, was es heißt: Idealis-
mus ist mit Erfahrungswissenschaft durchaus vereinbar. Denn der
Idealismus ist eben nichts anderes als die ganze Erfahrung, die
Summe alles dessen, was von den Dingen kennenzulernen uns
möglich ist, während das, was die Empiriker gewöhnlich zum
Gegenstande ihrer Wissenschaft machen, nur die halbe Erfahrung
ist, die Summanden ohne die Summe. Francis Bacon, der bekannte
englische Philosoph, sagte einmal, die wissenschaftliche Forschung
sei eine Additionsaufgabe; aber er hat es nicht weiter gebracht als
bis zu einer Anleitung, wie man die einzelnen Posten aufstellt;
wie man die Summe findet, blieb ihm verborgen, weil er die Sinne
für die einzigen Vermittler der Erfahrung hielt und nicht wußte,
daß die Vernunft den gleichen Anspruch auf diesen Titel hat.
Goethe hat die letztere denn auch in ihre Rechte eingesetzt und
damit eine hohe Sendung erfüllt. Die Sinne sind wunderbare Boten
der Außenwelt, wenn der Geist die Kundgebungen ihrer ideellen
Bedeutung nach versteht, die sie ihm bringen; aber ihre Schrift-
züge sind wertlos, wenn wir bloß hinstarren auf das, was wir
lesen sollten. Wer behauptet: es gäbe nichts zu lesen, dem werden
alle jene, die bei Goethe in die Schule gegangen sind, antworten:
suche den Grund nicht in den Dingen dieser Welt, sondern in dir.

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DIE PHILOSOPHIE IN DER GEGENWART
UND IHRE AUSSICHTEN FÜR DIE ZUKUNFT

In philosophischen Kreisen hört man vielfach über die Abnahme


des Interesses für die Philosophie bei den Gebildeten der Gegen-
wart klagen. Die in dieser Klage ausgesprochene Meinung kann
aber jedenfalls nicht ganz im allgemeinen aufrecht erhalten wer-
den. Eine Anzahl von Erscheinungen sprechen dagegen. Man
denke nur, welchen Einfluß Eduard von Hartmann, gegenwärtig
Deutschlands größter Denker, auf unsere Zeitgenossen ausgeübt
hat. Seine zuerst im Jahre 1868 erschienene «Philosophie des Un-
bewußten» hat bis heute zehn Auflagen erlebt. Und die Literatur,
die sich mit der Weltanschauung dieses Philosophen beschäftigt,
ist ins Unübersehbare angewachsen. Welche Wirkung ferner haben
Richard Wagners ästhetische Abhandlungen auf die Kunstanschau-
ung der Gegenwart gehabt! Begeistert wurden die hier vorgetra-
genen Lehren, namentlich von der jüngeren Generation, aufge-
nommen. Auch auf den Eifer, mit dem Friedr. Alb. Langes «Ge-
schichte des Materialismus» eine Zeitlang gelesen wurde, muß
hier hingedeutet werden. Nicht weniger die Art, wie ganz seichte,
aber immerhin die philosophischen Grundprobleme behandelnde
Schriften, wie Ludwig Büchners «Kraft und Stoff», Carl Vogts
«Köhlerglaube und Wissenschaft», verschlungen wurden, kommt
in Betracht. Darwins und Haeckels entwickelungsgeschichtliche
Schriften fanden ein großes Publikum. Ungeheures Aufsehen end-
lich macht in unserer Zeit Friedrich Nietzsche, dieser tragische
Held des Gedankens, der an höchste Probleme des Menschen-
geistes herantritt, aber ohne logisches Gewissen, ohne Disziplin
des Denkens im Reiche der Ideen gleichsam nur wühlt. Er hat auf
der einen Seite Begeisterung hervorgerufen, die sich freilich über
ihren eigentlichen Inhalt so unklar wie möglich ist, auf der ändern
Seite geärgert, empört, zum schärfsten Widerspruch herausgefor-
dert. Kalt gelassen aber hat er wohl nur wenige aus der großen
Zahl derer, die sich mit seinen kühnen Gedanken befaßt haben;
ein deutlich sprechender Beweis dafür, daß das philosophische

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Interesse in unserer Zeit einer Anregung in großem Stile doch
entgegenkommt.

Auf einem weiten Gebiete scheint aber allerdings die Philoso-


phie ihre Macht und ihren Einfluß eingebüßt zu haben. Das ist
dasjenige der Einzelwissenschaften: Kultur- und namentlich Lite-
raturgeschichte, Geschichte und die Naturwissenschaften. Am
auffallendsten macht sich das in der Literaturgeschichte und in
den Naturwissenschaften geltend. Wahrhaft kläglich ist die Be-
handlungsweise, welche die Schöpfungen unserer klassischen Dich-
ter in literarhistorischen Monographien, namentlich solchen im
Sinne der Schererschen Schule, erfahren. Hier fehlt oft die aller-
geringste Kenntnis von philosophischen Begriffen und Anschau-
ungen. Und wie irrtümlich ist doch der Glaube, daß man die
letzteren bei Beurteilung der Kunstleistungen unserer klassischen
Zeit entbehren könne! Vor allen anderen Dingen ist notwendig,
daß man den Kreis von Anschauungen und Ideen desjenigen
Menschen ganz beherrscht, dessen Kunstschöpfungen man wür-
digen will. In den Werken unserer Klassiker, Lessing, Herder,
Goethe, Schiller, Jean Paul, Schlegel u. a., spiegelt sich aber durch-
aus der philosophische Gehalt jener großen Zeit, in der sie lebten.
Und wer kein Verständnis für dieses inhaltliche Element ihrer
Arbeiten hat, der ist auch zur ästhetischen Würdigung ihrer Form
nicht geeignet. Aber auch bei Behandlung anderer Epochen unse-
rer Literatur können wir bemerken, daß die Fachgelehrten ein
wahrhaftes Grauen vor philosophischer Behandlungsweise emp-
finden.

Beinahe noch übler sieht es in den Naturwissenschaften aus.


Hier findet sich eine Anhäufung unendlicher Details, denen sich
fast nirgends leitende Gesichtspunkte, große Ausblicke beigesellen.
Wer eine charakteristische Einzelerfahrung ausnutzen will, um
tiefer in den Zusammenhang der Naturdinge einzudringen, gilt
sogleich für einen Schwärmer. Die gedankenloseste Registrier-
arbeit macht sich hier breit. Und wenn Richard Falckenberg in
seiner geistvollen Antrittsrede: «Über die gegenwärtige Lage der
deutschen Philosophie» (Leipzig 1890, S. 6) sagt, «die Zeit müsse
erst noch kommen, wo der Charakter eines unphilosophischen

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Kopfes zu den Ehrentiteln gezählt würde», so möchten wir dem-
gegenüber behaupten: in manchen naturwissenschaftlichen Krei-
sen ist sie allerdings bereits gekommen, diese Zeit.

Die angeführten Erscheinungen zeigen, daß der Vorwurf wegen


Mangels an Interesse für philosophische Betrachtungsweise wohl
den Vertretern der einzelnen Fachwissenschaften gemacht werden
kann, nicht aber dem gebildeten Lesepublikum überhaupt.

Angesichts dieser Erscheinungen ist wohl die Frage berechtigt:


worin sind die Gründe jener Emanzipation der Einzelwissen-
schaften von der Philosophie zu suchen?

Nicht zum geringsten Teile liegen sie in der historischen Ent-


wickelung der Philosophie in Deutschland. Es ist ja zweifellos,
daß den großen Philosophen unseres Volkes: Kant, Fichte, Schel-
ling, Hegel, bei aller Genialität und bei dem wahrhaft bewun-
dernswerten Zug ins Große, der ihnen allen eigen war, doch eines
gefehlt hat: die Gabe, sich leicht verständlich zu machen. Es ge-
hört entweder eine ungewöhnliche Gewandtheit in der Verrichtung
von Gedankenoperationen dazu, so daß das Denken mit der Leich-
tigkeit des Spielens geschieht, oder aber eine große Selbstüber-
windung, um sich in die Sphären zu erheben, in die uns jene
Philosophen führen. Wer des einen nicht fähig ist und zum ändern
nicht guten Willen genug hat, für den ist das Eindringen in die
Lehren unseres eigentlichen philosophischen Zeitalters eine Un-
möglichkeit. Hierin müssen wir auch die Ursache für das Mißver-
stehen Hegels suchen. Dieser metaphysik-f eindliche Philosoph, der
mit einem unersättlichen Durst nach Erkenntnis des Wirklichen
strebte, dieser entschiedenste aller Vertreter des Positivismus und
der Empirie, er wird merkwürdigerweise gewöhnlich hingestellt
als ein Ausdenker von leeren Begriffsschemen, die, alles Erfah-
rungswissen verleugnend, sich in ein wesenloses philosophisches
Wölkenkuckucksheim verlieren. Man begreift nicht, daß es bei
Hegel darauf ankommt, alles, was zur Erklärung einer Erscheinung
beigezogen werden soll, restlos der Wirklichkeit zu entnehmen. Er
will nirgendsher Elemente zu Hilfe rufen, wenn er diese unsere
Welt erklären soll. Alles, was sie konstituiert, muß in ihr selbst
liegen. So ist seine Anschauung ein strenger Objektivismus. Der

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Geist soll nichts aus sich schöpfen, um es den Erscheinungen be-
hufs ihrer Entzifferung aufzupfropfen. Wissenschaftliche Richtun-
gen wie den modernen Atomismus, der eine ganze Welt noch
hinter unserer Erscheinungswelt voraussetzt, würde Hegel ener-
gisch zurückweisen.

Was objektiv im Weltprozesse liegt, das soll nach Hegel Inhalt


der Philosophie werden, nichts darüber. Und weil er als objektiven
Gehalt der Welt nicht bloß ein Materielles anerkennen konnte,
sondern die Gesetze des Daseins und Geschehens, die doch auch
in der Wirklichkeit wahrhaft vorhanden sind, zum Weltinhalt
rechnete, deshalb ist seine Lehre Idealismus. Was Hegel von den
modernen Positivisten unterscheidet, ist nicht die Art des For-
schens, ist nicht der Glaube, daß nur das Wirkliche Gegenstand
der Wissenschaft sein kann. Darin stimmt er ganz mit ihnen
überein. Er unterscheidet sich von ihnen aber durch die Ansicht,
daß für ihn auch die Idee wirklich ist, oder umgekehrt, daß das
Wirkliche real und ideell zugleich ist. Diesen Charakter der
Hegeischen Philosophie hat erst Eduard von Hartmann wieder
verstanden, und er hat die ihm entsprechende Behandlungsart in
seinen mustergültigen historischen Werken: «Phänomenologie des
sittlichen Bewußtseins» und «Das religiöse Bewußtsein der
Menschheit im Stufengang seiner Entwicklung» durchgeführt.
Hartmann hat es aber auch verstanden, die Schwierigkeiten, die
bei Hegel einem Verständnis in weiteren Kreisen entgegenstehen,
und die wir oben erwähnt haben, zu vermeiden und Hegeische
Gesinnung mit verständlicher, auch dem weniger philosophisch
Geschulten zugänglicher Darstellungsweise zu vereinigen. Hart-
mann sucht in seinen historischen Werken das Wirkliche mit
gleicher Strenge wie die sich Historiker nennenden Zeitgenossen,
aber er findet nicht wie sie nur die nackten Tatsachen, sondern
auch den ideellen Zusammenhang der geschichtlichen Erscheinun-
gen. Und es ist sehr zu bedauern, daß er nicht auf Literarhisto-
riker und Historiker von dieser Seite her einen ähnlich maß-
gebenden Einfluß gewonnen hat wie durch seine «Philosophie des
Unbewußten» auf gebildete Laien. Hartmann ist als der eigent-
liche Fortsetzer jener Philosophie großen Stiles anzusehen, die

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durch Kant, Fichte, Schelling, Hegel und Schopenhauer die ganze
Nation mächtig ergriffen hat.

Warum hat denn aber auch er die eigentliche Fachwissenschaft


so wenig zu beeinflussen vermocht? Diese Frage läßt sich nach
unserer Ansicht ziemlich einfach beantworten. Der Grund liegt
in dem Mißtrauen und Mangel an Verständnis, die ihm von den
amtlich berufenen Vertretern seiner Wissenschaft entgegen-
gebracht wurden und die erst in jüngster Zeit und nur sehr lang-
sam besseren Beziehungen Platz machen.

Dieses beklagenswerte Verhältnis zwischen der offiziellen Philo-


sophie einer- und Hartmann andererseits hat nun aber einen tie-
feren Grund. Hartmann ergriff sogleich, als er sich an philoso-
phische Studien heranmachte, das zentrale Problem: wie verhält
sich das Bewußtsein zu dem Unbewußten im Weltendasein, und
was spielt überhaupt das Unbewußte für eine Rolle in Natur und
Geist? Von da ausgehend erstreckt sich sein Denken auf alle wich-
tigeren Fragen der Philosophie, so daß er gleich bei seinem ersten
Auftreten mit einem in sich geschlossenen Anschauungskreise vor
dem Publikum erscheint. Die Schulphilosophie liebt das aber —
rühmliche Ausnahmen abgerechnet — nicht. Sie sieht nur die Be-
arbeitung von Einzel-Problemen gern und bevorzugt sogar jenen
zaghaften Skeptizismus, der sich den großen, von jedem Menschen
naturgemäß gestellten Fragen gegenüber so zurückhaltend als mög-
lich benimmt. Zumeist sind es recht erkünstelte und selbstgemachte
Probleme, an die sich die fachmännische Wissenschaft hält, wäh-
rend sie demgegenüber, was jedermann wissen will, nur die Miene
des Zweiflers für die dem wahren Forscher zustehende ansieht
und sofort den Vorwurf des Dilettantismus bei der Hand hat,
wenn sie ein kühnes Losgehen auf derlei Dinge erblickt. Dadurch
hat die Schulphilosophie sich allmählich von dem anderen Wis-
senschaftsbetriebe völlig isoliert, ihre Ergebnisse sind nicht mehr
wichtig und interessant genug, um über die Einzelwissenschaften
Macht zu gewinnen. Während es das Richtige wäre, wenn der
Philosoph die allgemeinen Gesichtspunkte, die leitenden Ideen für
die Einzelwissenschaften kennzeichnete und von den letzteren
wieder die Ergebnisse aufnähme, um sie im Sinne einer Gesamt-

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auffassung der Dinge weiter zu benützen, sieht sich der gegen-
wärtige philosophische Fachgelehrte als Einzelforscher neben an-
deren an. Er geht neben den Spezialisten her, anstatt mit ihnen
sich in lebendige Wechselwirkung zu setzen. Nur Hartmann hat
seinen Philosophenberuf in dem charakterisierten idealen Sinne
aufgefaßt. Er wurde dafür lange nicht für voll genommen und
wird es von vielen Schulphilosophen auch heute nicht.

Wir sehen: die Stellung, welche die Philosophie im Leben und


in der Kultur der Gegenwart einnimmt, ist durchaus keine, solche,
wie man sie wünschen möchte. Deshalb begrüßen wir mit großer
Freude ein Buch, das eben erschienen ist und das dazu bestimmt
erscheint, Klarheit zu verbreiten über die Aufgaben und Ziele der
Philosophie. Wir meinen Johannes Volkelts: «Vorträge zur Ein-
führung in die Philosophie der Gegenwart.» Gehalten zu Frank-
furt a. M. im Februar und März 1891. Das Buch ist geeignet, auf den
weitesten Leserkreis zu wirken und zu zeigen, was die Philosophie
eigentlich will und für das Leben und die Kultur zu leisten ver-
mag. Volkelt, obwohl wissenschaftlicher Philosoph im besten Sinne
des Wortes — er und Johannes Rehmke haben die besten Bücher
über Erkenntnistheorie geschrieben — hat immer einen freien,
offenen Blick gehabt sowohl für die weitausgreifenden Aufgaben
des Menschenlebens wie für die intimsten Erscheinungen des-
selben. Das erstere beweist seine Wiener Rede: «Kants katego-
rischer Imperativ und die Gegenwart» sowie seine Basler Antritts-
rede: «Über die Möglichkeit der Metaphysik», das letztere sein
Buch über «Die Traumphantasie» und seine Darstellung: «Franz
Grillparzer als Dichter des Tragischen». In den uns vorliegenden
Vorträgen stellt Volkelt erst den Gegensatz zwischen der Philoso-
phie der Gegenwart und jener vom Anfange des Jahrhunderts dar.
Er zeigt, wie alles Intuitive, Persönliche, Kühne aus dieser Wissen-
schaft gewichen ist und einem verstandesmäßigen, unpersönlichen,
skeptischen Betriebe Platz gemacht hat. Während man früher un-
erschrocken nach den Gründen der Erscheinungen fragte, ist man
jetzt ängstlich bemüht, erst unser Erkenntnisvermögen zu prüfen,
inwieweit es denn imstande sei, in die Geheimnisse der Welt ein-
zudringen. Die Philosophie hat einen vorwiegend erkenntnistheo-

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retischen Charakter angenommen. Sie ist allem metaphysischen
Treiben feind geworden. Der Verfasser aber betont demgegenüber
sowohl die Notwendigkeit wie die Möglichkeit einer Metaphysik.
Nur meint er, daß sie nicht mit jener Kühnheit und Sicherheit
wird auf ihr Ziel losgehen können, wie man das früher geglaubt
hat. Er hat die Ansicht, daß sie, statt mit wirklichen Lösungen zu
prunken, sich vielfach wird damit genügen lassen müssen, die
Richtung anzugeben, in welcher bestimmte Probleme zu verfolgen
sind, die Fragestellungen genau zu formulieren, das Material her-
beizutragen, welches zu einstigen Resultaten führen kann, ja in
manchen Fällen wird sie nichts anderes können, als die verschie-
denen Lösungsmöglichkeiten angeben. Ebenso beweist Volkelt die
Notwendigkeit jener Zweige der Philosophie, die gewöhnlich als
Natur- und Geistesphilosophie angeführt werden, und zu welch
letzterer er Psychologie, Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie
rechnet. In allen Einzelwissenschaften kommt man zuletzt auf
höchste Prinzipien, letzte Resultate, die innerhalb der Wissen-
schaft, in der sie gewonnen werden, nicht weiter zu verfolgen sind.
Sie bilden den Inhalt dieser besonderen philosophischen Wissen-
schaften, von denen sie zu einem Ganzen von Weltanschauung
zusammengefügt werden. Ferner legt Volkelt in schönster Weise
dar, wie, wenn auch nicht die wissenschaftliche Philosophie, so
doch die aus einer philosophischen Geistesanlage quellende Ge-
sinnung die ganze menschliche Persönlichkeit durchdringt und zur
ethischen, religiösen Grundlage des Lebens namentlich derjenigen
Personen wird, für welche die positiven Religionen ihre zwingende
Glaubenskraft verloren haben. Die Philosophie wird endlich nach
Volkelts Ansicht diejenige Macht sein, welche durch Umwandlung
der geoffenbarten Religion in Vernunftreligion eine Entwickelung
des Christentums herbeiführen soll, wodurch dasselbe zu einem
wirklich kulturfreundlichen Element im modernen Völkerleben
werden kann. Zuletzt widmet der Verfasser seine Betrachtung dem
Einflüsse, den die Philosophie auf den modernen Fortschritt un-
serer Kultur haben wird. Sie muß eine wichtige Rolle schon des-
wegen in Gegenwart und Zukunft spielen, weil wir jenes Stadium
überwunden haben, wo alle Kultur nur mehr aus einem gleichsam

unbewußten Wirken von Temperament und Gefühl entspringt.


Wir streben bewußt, aus verständiger Überlegung, unseren Kultur-
zielen zu. Hierbei Dienste zu leisten, ist die Philosophie besonders
geeignet.

Der Verfasser dieser Zeilen ist nicht in allem mit Volkelt ein-


verstanden. Namentlich steht er in der Erkenntnistheorie auf
einem anderen Standpunkte. Er darf dabei vielleicht auf seine
eigene Schrift über Erkenntnistheorie hinweisen. Dessenungeachtet
möchte er Volkelts Buch der Beachtung aller Kreise empfehlen.

Wir stehen ja zweifellos vor manchen Umwälzungen in bezug


auf Denkweise und Wertschätzung der menschlichen Handlungen.
Bei einer Neugestaltung der Verhältnisse wird die Philosophie ein
kräftig Wörtlein mitzusprechen haben. Zur Vorbereitung sind
solche Schriften wie die Volkeltsche besonders geeignet. Den
zweiten Teil meines Themas werde ich in einem nächsten Artikel
behandeln.

Ein Umschwung zum Bessern wird in dem philosophischen


Leben erst eintreten, wenn wieder der Trieb erwacht, die Kraft
des Denkens an den Zentralproblemen des Daseins zu erproben.
Dieser Trieb ist gegenwärtig gelähmt. Wir leiden an Feigheit des
Denkens. Wir können es nicht glauben, daß unser Denkvermögen
ausreicht, um die tiefsten Fragen des Lebens zu beantworten. Ich
habe es oft hören müssen: gegenwärtig sei es unsere Aufgabe,
Baustein auf Baustein zu sammeln. Die Zeit sei vorbei, wo man,
ohne erst die Materialien zur Hand zu haben, im stolzen Übermut
philosophische Lehrgebäude aufführte. Wenn wir erst dieses Mate-
rials genug gesammelt haben, dann wird schon das rechte Genie
erstehen und den Bau aufführen. Jetzt sei nicht die Zeit zum
Systembauen. Diese Ansicht entspringt einer bedauernswerten
Unklarheit über die Natur der Wissenschaft. Wenn die letztere
die Aufgabe hätte, die Tatsachen der Welt zu sammeln, sie zu
registrieren und sie zweckmäßig nach gewissen Gesichtspunkten
systematisch zu ordnen, dann könnte man etwa so sprechen. Dann
aber müßten wir überhaupt auf alles Wissen verzichten; denn mit

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dem Sammeln der Tatsachen würden wir wohl erst am Ende der
Tage fertig werden, und dann gebräche es uns an der nötigen Zeit,
die geforderte gelehrte Registrierarbeit zu vollziehen.

Wer sich nur einmal klar macht, was er eigentlich durch die


Wissenschaft erreichen will, dem wird die Irrtümlichkeit jener
eine unendliche Arbeit in Anspruch nehmenden Forderung gar
bald einleuchten. Wenn wir der Natur gegenübertreten, dann steht
sie zunächst wie ein tiefes Mysterium vor uns, sie dehnt sich wie
ein Rätsel vor unseren Sinnen aus. Ein stummes Wesen blickt uns
entgegen. Wie können wir Licht in die mystische Finsternis
bringen? Wie das Rätsel lösen?

Der Blinde, der ein Zimmer betritt, kann nur Dunkelheit in


demselben empfinden. Und wenn er noch so lange herumwandelt
und alle Gegenstände betastet: Helligkeit wird ihm dadurch
nimmer den Raum erfüllen. Wie dieser Blinde der Einrichtung
des Zimmers, so steht im höheren Sinne der Mensch der Natur
gegenüber, der von der Betrachtung einer unendlichen Zahl von
Tatsachen die Lösung des Rätsels erwartet. Es liegt etwas in der
Natur, was uns tausend Tatsachen nicht verraten, wenn uns die
Sehkraft des Geistes abgeht, es zu schauen, und was uns eine ein-
zige offenbart, wenn wir dieses Vermögen besitzen. Ein jegliches
Ding hat zwei Seiten. Die eine ist die Außenseite. Sie nehmen
wir mit unseren Sinnen wahr. Dann gibt es aber auch eine Innen-
seite. Diese stellt sich dem Geiste dar, wenn er zu betrachten ver-
steht. An seine eigene Unfähigkeit in irgendeiner Sache wird
niemand glauben. Wer bei sich die Fähigkeit vermißt, diese
Innenseite wahrzunehmen, der leugnet sie am liebsten dem Men-
schen ganz ab, oder er verschreit diejenigen als Phantasten, die
vorgeben, sie zu besitzen. Gegen ein absolutes Unvermögen läßt
sich nichts machen, und man könnte die nur bedauern, die wegen
desselben nie zur Einsicht in die Tiefen des Weltwesens kommen
können. Der Psychologe aber glaubt nicht an diese Unfähigkeit.
Jeder geistig normal-entwickelte Mensch hat das Vermögen, in
jene Tiefen bis zu einem gewissen Punkte hinunterzusteigen. Aber
die Bequemlichkeit des Denkens verhindert viele daran. Ihre gei-
stigen Waffen sind nicht stumpf, aber die Träger sind zu faul, sie

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zu handhaben. Es ist ja unendlich viel bequemer, Tatsache auf
Tatsache zu häufen, als die Gründe für dieselben durch das Den-
ken aufzusuchen. Vor allem ist bei solcher Tatsachenhäufung der
Fall ausgeschlossen, daß ein anderer kommt und das von uns Ver-
tretene umstößt. Man kommt auf diese Weise nie in die Lage,
seine geistigen Positionen verteidigen zu müssen, man braucht sich
nicht darüber aufzuregen, daß morgen von jemand das Gegenteil
unserer heutigen Aufstellungen vertreten wird. Man kann sich,
wenn man bloß mit tatsächlicher Wahrheit sich abgibt, hübsch in
dem Glauben wiegen, daß uns diese Wahrheit niemand bestreiten
kann, daß wir für die Ewigkeit schaffen. Jawohl, wir schaffen auch
für die Ewigkeit, aber wir schaffen bloß Nullen. Diesen Nullen
durch das Vorsetzen einer bedeutungsvollen Ziffer in Form einer
Idee einen Wert zu verleihen, dazu fehlt uns eben der Mut des
Denkens.

Davon haben heute wenige Menschen eine Ahnung, daß etwas


wahr sein kann, auch wenn das Gegenteil davon mit nicht ge-
ringerem Rechte behauptet werden kann. Unbedingte Wahrheiten
gibt es nicht. Wir bohren tief in ein Ding der Natur, wir holen
aus den verborgensten Schachten die geheimnisvollsten Weis-
heiten herauf, wir drehen uns um, bohren an einer zweiten Stelle:
und das Gegenteil zeigt sich uns als ebenso berechtigt. Daß eine
jede Wahrheit nur an ihrem Platze gilt, daß sie nur so lange wahr
ist, als sie unter den Bedingungen behauptet wird, unter denen
sie ursprünglich ergründet ist, das hat Hegels Genialität der Welt
gelehrt. Es ist wenig begriffen worden.

Wer macht heute nicht einen respektvollen Knix, wenn der


Name Friedr. Theod. Vischer genannt wird. Daß dieser Mann es
als die höchste Errungenschaft seines Lebens bezeichnete, von
Hegel gründlich die oben ausgesprochene Überzeugung von dem
Wesen der Wahrheit gelernt zu haben, das wissen aber nicht viele.
Wüßten sie es, dann strömte ihnen noch eine ganz andere Luft
aus Vischers herrlichen Werken entgegen, und man würde auf
weniger zeremonielles Lob, aber auf mehr ungezwungenes Ver-
ständnis dieses Schriftstellers stoßen.

Wo sind die Zeiten, in denen Schiller tiefes Verständnis fand,

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als er den philosophischen Kopf pries gegenüber dem Brotgelehr-


ten! Jenen, der rückhaltlos nach den Wahrheitsschätzen gräbt,
wenn er auch der Gefahr ausgesetzt ist, daß gleich darauf ein
zweiter Schatzgräber ihm alles entwertet durch einen neuen Fund,
gegenüber dem, der ewig nur das banale, aber unbedingt «wahre»:
«Zweimal zwei ist vier» wiederholt.

Wir müssen den Mut haben, kühn in das Reich der Ideen ein-


zudringen, auch auf die Gefahr des Irrtums hin. Wer zu feig ist,
um zu irren, der kann kein Kämpfer für die Wahrheit sein. Ein
Irrtum, der dem Geist entspringt, ist mehr wert als eine Wahrheit,
die der Plattheit entstammt. Wer nie etwas behauptet hat, was in
gewissem Sinne unwahr ist, der taugt nicht zum wissenschaftlichen
Denker.

Aus feiger Furcht vor dem Irrtum ist unsere Wissenschaft der


baren Flachheit zum Opfer gefallen.

Es ist geradezu haarsträubend, welche Charaktereigenschaften


heute als Tugenden des wissenschaftlichen Forschers gepriesen
werden. Wollte man dieselben ins Gebiet der praktischen Lebens-
führung übersetzen, so käme das — Gegenteil eines festen, ent-
schiedenen, energischen Charakters heraus.

Diese Mängel in unserem geistigen Leben hat nun jüngst ein


Buch bloßzulegen versucht: «Rembrandt als Erzieher. Von einem
Deutschen.» Schlimm genug, daß gerade diese Schrift eine solche
Verbreitung gefunden hat. Mängel sehen und darüber herfallen ist
nicht schwer, wohl aber den Ursprung derselben aufsuchen. Man
gehe vierzehn Tage hindurch jeden Abend in einen Gasthof, wo
gebildete deutsche Bier-Philister sitzen, setze sich abseits und
lausche ihren kritischen Redensarten. Dann gehe man nach Hause,
notiere sorgfältig, was man gehört, setze zu jedem Satze ein Zitat
aus einem bekannten Schriftsteller hinzu. Nach vierzehn Tagen
schicke man dieses «Sammelwerk» in die Druckerei, und ein
zweites Buch wird den deutschen Büchermarkt zieren, das in
nichts dem «Rembrandt als Erzieher» an Wert nachstehen wird.

Der Verfasser dieses Buches bekämpft den Spezialismus in der


Wissenschaft. Dies ist sein Grundirrtum. Nicht daß die Forscher
sich speziellen Aufgaben widmen, ist der Fehler, sondern daß sie

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in die Welt der Einzelheiten den universellen Geist nicht hinein-
arbeiten können. Schlimm wäre es, wollten wir an Stelle der Er-
forschung der individuellen Wesenheiten das Ausspinnen abstrak-
ter Allgemeinheiten und grauer Theorien setzen. Studiere das
Sandkorn, aber ergründe, inwiefern es des Geistes teilhaftig ist.

Nicht Mystizismus ist es, was wir hier vertreten wollen. Wer


den Geist der Dinge dieser Welt in klaren, durchsichtigen Ideen
sucht, der ist keineswegs Mystiker. Es gibt nichts, was mystisches
Hell-Dunkel mehr ausschlösse als die kristallklare, bis in die letz-
ten Verzweigungen mit scharfen Konturen ausgestaltete Welt der
Ideen. Wer in diese Welt mit menschlicher Schärfe, mit strenger
Logik sich einlebt, der wird im Bewußtsein, daß er sein geistiges
Reich nach allen Richtungen durchschaut, nichts gemein haben
mit dem Mystiker, der nichts schaut, sondern nur ahnt, der die
Welt der Gründe nicht ausdenkt, sondern nur anschwärmt. Der
Mathematiker ist das Vorbild für den mystikfreien Denker.

Also nicht endloses Sammeln von Einzeltatsachen ist unsere


Aufgabe, sondern Schärfung des Geistesvermögens für das Schauen
der Naturtiefen tut uns zunächst not.

Unsere Vernunft muß wieder dahin gelangen, sich ihrer Ab-


solutheit bewußt zu sein; und dem feigen, sklavischen Unter-
ordnen derselben unter die drückende Macht der Tatsachen muß
ein Ende gemacht werden. Es ist unwürdig, daß ein Höheres,
welches die Vernunft doch ist, sich zum bloßen Sammler von
Dingen niedrigeren Wertes hergibt. Bestünde die Welt nur aus
sinnenfällig wahrnehmbaren Dingen, dann müßte die Vernunft
abdanken. Eine Aufgabe hat sie nur, wenn sich in der Welt das
findet, was sie zu fassen vermag. Und das ist der Geist.

Ihn leugnen, heißt die Vernunft in den Ruhestand versetzen.

Ist nun Aussicht vorhanden, daß dieser legitime Herrscher auf
dem Throne im Reiche der Wissenschaft bald wieder in seine
angeborenen Rechte eingesetzt wird? Die Beantwortung dieser
Frage wird Gegenstand der nächsten Fortsetzung dieses Artikels
sein.

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ZU DEM «FRAGMENT» ÜBER DIE NATUR

Als Knebel anfangs 1783 im 32. Stück des Tiefurter Journales das


Fragment «Die Natur» gelesen hatte, schrieb er in sein Tagebuch:
«Goethes Fragment über die Natur hatte tiefen Eindruck auf mich.
Es ist meisterhaft und groß. Es bestärkt mich in Liebe.» Der Auf-
satz erschien wie die ändern Beiträge des Journales ohne Namen
des Verfassers. Die Ideen, die darin niedergelegt sind, vermochte
Knebel nur Goethe zuzuschreiben. In gleicher Weise werden wohl
auch andere Leser des Journals gedacht haben. Goethe selbst trat
dieser Meinung entgegen. Er schrieb an Knebel: «Der Aufsatz im
Tiefurter Journal, dessen Du erwähnst, ist nicht von mir, und ich
habe bisher ein Geheimnis daraus gemacht, von wem er sei. Ich
kann nicht leugnen, daß der Verfasser mit mir umgegangen und
mit mir über diese Gegenstände oft gesprochen hat... Er hat mir
selbst viel Vergnügen gemacht und hat eine gewisse Leichtigkeit
und Weichheit, die ich ihm vielleicht nicht hätte geben können.»
Und Frau von Stein schreibt am 28. März 1783 an Knebel:
«Goethe ist nicht der Verfasser, wie Sie es glauben, von dem tau-
sendfältigen Ansichtenbilde der Natur; es ist von Tobler; mit-
unter ist mir's nicht wohltätig, aber es ist reich!» Wären diese
Briefstellen nicht vorhanden, so erschiene heute ein Aufwerfen
der Fragen: «Ist Goethe der Verfasser dieses Aufsatzes?» oder «In-
wieferne gehören die in demselben ausgesprochenen Gedanken
ihm an?» geradezu unmöglich. Wenn wir in wenigen Worten
sagen sollen, was bisher wohl jedem Kenner von Goethes wissen-
schaftlicher Entwickelung die Überzeugung von Goethes Autor-
schaft aufgedrängt hat, so ist es der Umstand, daß der letztere im
Fortschreiten zu seinen späteren Naturanschauungen einmal not-
wendig durch die Stufe durchgegangen sein muß, die in dem Auf-
satze festgehalten ist. Als Ernst Haeckel zum Beleg dafür, daß
Goethe einer der ersten Propheten einer einheitlichen (monisti-
schen) Naturauffassung war, eine besonders charakteristische Ar-
beit desselben an die Spitze seiner «natürlichen Schöpfungs-
geschichte» stellen wollte, da wählte er den Aufsatz «Die Natur».
Hiermit ist aber gar nichts anderes ausgesprochen, als was Goethe

320


selbst in hohem Alter, als ihm der aus seinem Gedächtnisse längst
entschwundene Aufsatz vorgelegt wurde, für das Richtige gehalten
hat. Im Jahre 1828 erhielt er denselben aus dem Nachlaß der Her-
zogin Anna Amalia. Er nahm keinen Anstand, die darin ausge-
sprochenen Ideen als die seinigen zu bezeichnen, obwohl er sich
tatsächlich an die Abfassung nicht erinnern konnte. In einer er-
läuternden Bemerkung zu dem Fragment, die er 1828 nieder-
schreibt, lesen wir: «Daß ich diese Betrachtungen verfaßt, kann
ich mich faktisch zwar nicht erinnern, allein sie stimmen mit den
Vorstellungen wohl überein, zu denen sich mein Geist damals aus-
gebildet.» Und weiter oben: «Er ist von einer wohlbekannten
Hand geschrieben, deren ich mich in den achtziger Jahren in mei-
nen Geschäften zu bedienen pflegte.» Diese Hand ist die Seidels,
von der auch die ändern Goetheschen Beiträge zum Tiefurter
Journal geschrieben sind. Zu diesen historischen Zeugnissen ge-
hört auch ein Blatt, das im Goethe-Archiv unter den naturwissen-
schaftlichen Manuskripten Goethes liegt und das wohl eine Auf-
zeichnung des Kanzlers von Müller ist. (Oben am Rande steht von
Eckermanns Hand mit Bleistift: Betrifft wahrscheinlich den Auf-
satz: Die Natur, in G.Werken 1890, Bd. 40, S. 385.) Wir heben
aus derselben folgende Stellen heraus: d. 25. Mai 1828. «Vorstehen-
der Aufsatz, ohne Zweifel von Goethe, wahrscheinlich für das
Tiefurter Journal bestimmt, von Einsiedeln dazu mit Nr. 3 be-
zeichnet und also etwa aus den ersten achtziger Jahren, jedoch vor
der Metamorphose der Pflanzen geschrieben, wie Goethe selbst
mir die Vermutung äußerte, war mir am 24. Mai 1828 von ihm
kommuniziert. Da er ihn drucken lassen wird, so habe ich kein
Bedenken gefunden, ihn vorläufig abzuschreiben.» ... d. 30. Mai
1828. «Nach einem Gespräch bekennt sich Goethe nicht mit voller
Überzeugung ganz dazu; und auch mir hat geschienen, daß es
zwar seine Gedanken, aber nicht von ihm selbst, sondern per tra-
ducem niedergeschrieben. Die Handschrift ist Seidels, des nach-
herigen Rentbeamten, und da dieser in Goethes Vorstellungen
eingeweiht war und eine Tendenz zu solchen Gedanken hatte, so
ist es wahrscheinlich, daß jene Gedanken als aus Goethes Munde
kollektiv von ihm niedergeschrieben.» Die Ansicht, daß Seidel

321


wirklichen Anteil an der Autorschaft habe, wird wohl niemand
festhalten können; dagegen spricht die ganz einzigartige Harmo-
nie zwischen den Gedanken des Aufsatzes und der Form, in der
sie ausgesprochen sind. Das sind keine umgeformten Gedanken, es
sind solche, die ganz wie sie sind konzipiert sein müssen. Man
kann sich bei fast keinem Satze denken, daß der Inhalt genauer
oder schöner formuliert werden könne. Wenn der Aufsatz nicht
ein Diktat Goethes, sondern nach einer mündlichen Mitteilung
von einem ändern abgefaßt ist, dann könnte das nur von jeman-
dem geschehen sein, der auf solcher Bildungshöhe stand, daß er
Goethe nach allen Seiten erfassen und seine Gedanken in ihrer
künstlerisch vollendeten Gestalt fast wörtlich aus dem Gedächt-
nisse niederschreiben konnte. Nun scheint der von Frau von Stein
genannte G. Chr. Tobler in der Tat ein solcher Mann gewesen zu
sein. Frau Herder schrieb über ihn an Müller: «Er wurde in diesem
Zirkel (Goethes und der fürstlichen Personen) sehr geehrt, geliebt
und als der philosophischste, gelehrteste, geliebteste Mensch er-
hoben; kurz, sie sprachen von ihm als von einem Menschen höhe-
rer Art.» Und J. G. Müller schrieb in sein Tagebuch, als er im
April 1781 Tobler mit Passavant in Münden kennengelernt hatte:
«Tobler ist ganz und gar griechischen Geblütes, sein einziges Be-
streben ist, immer menschlicher zu werden, voll Gesundheit und
Manneskraft wie ein junger Baum; wen er liebt, den liebt er ganz.
An den simplen Lichtsätzen des Christentums hat er nicht genug.
Er ist bald Christ, bald Grieche...» Tobler brachte nur den Som-
mer 1781 in Weimar zu. Er wohnte bei Knebel, und Goethe
verkehrte viel mit ihm. In einem Briefe Goethes an Lavater
vom 22. Juni 1781 sagt der erstere, daß er Tobler sehr «lieb
gewonnen», und das Tagebuch enthält unter dem 2. August die
Bemerkung: «Mit Toblern über Historie bei Gelegenheit Borro-
mäus.» Das sind Beweise dafür, daß intime Gespräche über
allgemeine Anschauungen zwischen Goethe und Tobler statt-
gefunden haben können, und daß der letztere eine Ausführung
Goethes, das sich mit dem Fragment «Natur» deckt, zu Papier
gebracht haben kann.

Daß aber Tobler keine andere Rolle dabei spielen konnte als

322

die eines Berichterstatters, der sich möglichst genau an den Wort-


laut des Gehörten hielt, dafür sprechen gewichtige innere Gründe,
die aus der Betrachtung des Verhältnisses des fraglichen Aufsatzes
zu Goethes späteren Arbeiten über Naturwissenschaft hervor-
gehen. Er selbst sagt in der bereits oben zitierten erläuternden Be-
merkung: «Ich möchte die Stufe damaliger Einsicht einen Kom-
parativ nennen, der seine Richtung gegen einen noch nicht er-
reichten Superlativ zu äußern gedrängt ist. Man sieht die Neigung
zu einer Art von Pantheismus, indem den Welterscheinungen ein
unerforschliches, unbedingtes, humoristisches, sich selbst wider-
sprechendes Wesen zum Grunde gedacht ist, und mag als Spiel,
dem es bitterer Ernst ist, gar wohl gelten.

Die Erfüllung aber, die ihm fehlt, ist die Anschauung der zwei


großen Triebräder der Natur: der Begriff von Polarität und von
Steigerung, jene der Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr
hingegen, insofern wir sie geistig denken, angehörig.»

Goethes wissenschaftliche Entwickelung stellt sich der genaue-


ren Betrachtung als ein fortschreitendes Ausgestalten der im Auf-
satz «Die Natur» ausgesprochenen Maximen dar. In diesen Sätzen
sind die allgemeinen Forderungen aufgestellt, nach denen das
Denken bei der Erforschung besonderer Naturgebiete zu verfahren
hat. Diesen Prinzipien entspricht alles Naturgeschehen. Wie das
im einzelnen vor sich geht, sucht Goethe dann später auf ver-
schiedenen Gebieten zu ergründen. Der in Rede stehende Aufsatz
ist eine Art Lebensprogramm, das allem Goetheschen Denken
über die Natur zugrunde liegt.

Wo immer wir mit der Betrachtung von Goethes Forschungen


einsetzen, bestätigt sich uns dieses. In der Geologie stellt Goethe
unabhängig von anderen Forschern den Grundsatz fest, daß die-
selben Gesetze, die gegenwärtig die auf der Erdoberfläche vor sich
gehenden Bildungen bedingen, auch in den verflossenen Epochen
gültig waren und daß dieselben niemals eine gewaltsame Unter-
brechung durch ausnahmsweise Umwälzungen und so weiter er-
litten haben. Dieses Prinzip weist zurück auf die Stelle in dem
Fragment: «Sie (die Natur) schafft ewig neue Gestalten; was da
ist, war noch nie, was war, kommt nicht wieder — alles ist neu und

323


doch immer das Alte.» «Auch das Unnatürlichste ist Natur. Wer
sie nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgendwo recht.»

Fast wie die Pflanze aus dem Samen hat sich die Metamorpho-


senlehre aus folgenden Sätzen des Fragmentes entwickelt: «Es ist
ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt
sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment
Stillstehen in ihr.» «Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu
haben und macht sich nichts aus den Individuen.» «Sie hat wenige
Triebfedern, aber nie abgenutzte, immer wirksam, immer mannig-
faltig.» In dem ersten Satze ist schon ganz deutlich der Ansatz zu
dem Gedanken von der Umwandlung der einzelnen Organe eines
Lebewesens und der fortschreitenden Entwickelung derselben ge-
macht. Man braucht, um einen Beweis zu haben, nur folgende
Stelle der «Metamorphose» (1790) damit zu vergleichen: «Be-
trachten wir alle Gestalten, besonders die organischen, so finden
wir, daß nirgends ein Bestehendes, nirgends ein Ruhendes, ein
Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr alles in steter
Bewegung schwanke.» Der angeführte Satz über die «Individua-
lität» ist der Keim zur Idee des Typus, die uns in Goethes osteo-
logischen Arbeiten entgegentritt. In den «Vorträgen über den
Typus» (1796) sagt Goethe: «Dies also hätten wir gewonnen, un-
gescheut behaupten zu dürfen, daß alle vollkommenem organi-
schen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien, Vögel, Säuge-
tiere und an der Spitze der letztern den Menschen sehen, alle nach
Einem Urbilde geformt seien, das nur in seinen sehr beständigen
Teilen mehr oder weniger hin und her weicht und sich noch täg-
lich durch Fortpflanzung aus- und umbildet.» Das heißt aber
nichts anderes als: die Natur schafft zwar Individuen, aber aller
Individualität liegt der Typus zugrunde; auf diesen kommt es zu-
letzt doch an und nicht auf die Individuen. Ja, auch die Art, wie
die Natur verfährt, um aus der allgemeinen Form des Typus her-
aus eine besondere Gestalt zu schaffen, finden wir in dem Frag-
ment angedeutet. Diese Art besteht darinnen, daß ein Organ oder
eine Organgruppe besonders stark entwickelt ist, und dagegen die
anderen Teile des Typus zurückstehen müssen, weil die Natur nur
einen gewissen Etat für jedes Lebewesen hat, den sie nicht über-

324


schreiten darf. Je nachdem dann die eine oder andere Partie des
Typus entwickelt ist, entsteht die eine oder die andere Form der
Lebewesen. In dem Aufsatz über den Streit zwischen Geoffroy de
Saint Hilaire und Cuvier in der französischen Akademie faßt
Goethe diese Regel in die Worte zusammen: «... daß die haus-
hälterische Natur sich einen Etat, ein Budget vorgeschrieben, in
dessen einzelnen Kapiteln sie sich die vollkommenste Willkür
vorbehält, in der Hauptsumme jedoch sich völlig treu bleibt, in-
dem, wenn an der einen Seite zu viel ausgegeben worden, sie es
der ändern abzieht und auf die entschiedenste Weise sich ins
Gleiche stellt.» Ganz der gleiche Begriff ist im Fragment enthalten:
«Gibt sie (die Natur) eins (ein Bedürfnis) mehr, so ist's ein neuer
Quell der Lust; aber sie kommt bald ins Gleichgewicht.» Zwei
parallele Gedankenreihen sind auch die folgenden. Fragment: «Sie
(die Natur) ist die einzige Künstlerin; aus dem simpelsten Stoff
zu den größten Kontrasten»; und in den osteologischen Vorträgen:
«Betrachten wir nach jenem erst im allgemeinsten aufgestellten
Typus die verschiedenen Teile der vollkommensten Tiere, die wir
Säugetiere nennen, so finden wir, daß der Bildungskreis der Natur
zwar eingeschränkt ist, dabei jedoch wegen der Menge der Teile
und wegen der vielfachen Modifikabilität die Veränderungen der
Gestalt ins Unendliche möglich werden.» Selbst der Kernpunkt
der Metamorphosenlehre, daß der unendlichen Mannigfaltigkeit
der organischen Wesen ein einziger Urorganismus zugrunde liegt,
findet sich in der im «Fragment» angedeuteten Idee: «Jedes ihrer
(der Natur) Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinun-
gen den isoliertesten Begriff, und doch macht alles Eins aus.»

Nicht minder bemerkenswert ist der Umstand, daß der Ge-


sichtspunkt, von dem aus Goethe später die Mißbildungen an Or-
ganismen ansah, bereits in unserem Aufsatze eingenommen ist.
Die Abweichung von der gewöhnlichen Gestalt eines Naturwesens
ist nach dieser Annahme nicht eine Abweichung von den allge-
meinen Naturgesetzen, sondern nur eine Wirkungsweise derselben
unter besonderen Bedingungen. «Die Natur bildet normal, wenn
sie unzähligen Einzelheiten die Regel gibt, sie bestimmt und be-
dingt; abnorm aber sind die Erscheinungen, wenn die Einzelheiten

325


obsiegen und auf eine willkürliche, ja zufällig erscheinende Weise
sich hervortun. Weil aber beides nah zusammen verwandt und so-
wohl das Geregelte als Regellose von Einem Geiste belebt ist, so
entsteht ein Schwanken zwischen Normalem und Abnormem, weil
immer Bildung und Umbildung wechselt, so daß das Abnorme
normal und das Normale abnorm zu werden scheint.» Das ist in
reiferer Form (der Aufsatz, dem der Satz angehört, ist im Hinblick
auf Jägers Werk «Über die Mißbildung der Gewächse», das 1814
erschien, niedergeschrieben) der Gedanke aus dem Fragment:
«Auch das Unnatürlichste ist Natur.»

Wenn wir absehen von den speziell auf das Reich der un-


organischen Natur bezüglichen Prinzipien Goethes, so finden wir
dessen ganzes Gedankengebäude in dem Fragment «Natur» bereits
vorgebildet. In der allgemeinen, abstrakten Weise, wie diese Ideen
hier stehen, erscheinen sie wie die Verkündigung einer neuen
Weltanschauung. Man vermag sie nur einem Geiste zuzuschreiben,
der eigene, neue Wege zur Erklärung der Erscheinungen ein-
schlagen wollte. Die Erfüllung dieser Verkündigung sind Goethes
spezielle Arbeiten über naturwissenschaftliche Gegenstände. Hier
erst erhalten jene allgemeinen Sätze ihren vollen Wert, ihre eigent-
liche Bedeutung. Wir verstehen sie sogar erst ganz, wenn wir sie
in Goethes Metamorphosenlehre, in seinen osteologischen Studien
und in seinen geologischen Betrachtungen verwirklicht sehen.
Hätten wir diese letzteren ohne die allgemeinen theoretischen
Grundsätze, so müßten wir sie selbst durch sie ergänzen. Wir
müßten uns fragen: wie stellte Goethe die Natur im ganzen vor,
um sich über die Pflanzen- und Tierwelt die ihm eigenen Vorstel-
lungen bilden zu können? Die Beantwortung dieser Frage kann
aber mit nichts besser und befriedigender gegeben werden als mit
dem Inhalte des Fragmentes «Die Natur». Goethe sagt in der
«Geschichte der Farbenlehre»: «Wie irgend jemand über einen
gewissen Fall denke, wird man nur erst recht einsehen, wenn man
weiß, wie er überhaupt gesinnt ist.» Wir wissen erst vollständig,
wie Goethe über einen einzelnen Fall in der Natur gedacht, wenn
wir aus dem besprochenen Fragment erfahren haben, was für An-
schauungen er über die Natur überhaupt gehabt hat.

326


Diese Beziehung erscheint doch wichtiger als die Frage, ob der-
jenige, welcher die Niederschrift des Aufsatzes besorgt hat, ein
unmittelbares Diktat oder einen mehr oder weniger wörtlichen
Bericht aus dem Gedächtnisse geliefert hat.

ZUR GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE

Menschen von umfassendem, weltmännischem Geiste finden oft
das erlösende Wort für eine Sache, um die sich stubensitzende
Gelehrte lange Zeiträume hindurch vergeblich die Köpfe zer-
brochen haben.

Was soll die Philosophie neben und über den einzelnen Spezial-


wissenschaften? Die Vertreter der letzteren sind wohl gegenwär-
tig nicht abgeneigt, diese Frage einfach dahin zu beantworten: sie
soll überhaupt nichts. Das ganze Gebiet der Wirklichkeit wird,
nach ihrer Ansicht, von den Spezialwissenschaften umspannt.
Wozu noch etwas, das über diese hinausgeht. Derjenige, der den
prägnantesten Ausdruck dafür gebraucht hat, ist der — Arbeiter-
apostel Ferdinand Lassalle. «Die Philosophie kann nichts sein als
das Bewußtsein, welches die empirischen Wissenschaften über
sich selbst erlangen.» Das sind seine Worte. Eine bessere Formel
für die Sache kann man wohl kaum finden.

Alle Wissenschaften betrachten es als ihre Aufgabe, die Wahr-


heit zu erforschen. Unter Wahrheit kann nichts anderes verstan-
den werden als ein System von Begriffen, welches in einer mit
den Tatsachen übereinstimmenden Weise die Erscheinungen der
Wirklichkeit in ihrem gesetzmäßigen Zusammenhange abspiegelt.
Bleibt jemand nun dabei stehen und sagt, für ihn habe das Netz
von Begriffen, das ihm ein gewisses Gebiet der Wirklichkeit ab-
bildet, einen absoluten Wert, und er braucht nichts darüber, so
kann man ihm ein höheres Interesse nicht andemonstrieren. Nur
wird uns ein solcher nicht erklären können, warum seine Begriffs-

327


Sammlung einen höheren Wert hat als zum Beispiel eine Brief-
markensammlung, die doch auch, entsprechend systematisch ge-
ordnet, gewisse Zusammenhänge der Wirklichkeit abbildet. Hier-
innen liegt der Grund, warum der Streit über den Wert der Philo-
sophie mit vielen Naturforschern zu keinem Resultate führt. Sie
sind Begriffsliebhaber in dem Sinne, wie es Marken- oder Münzen-
liebhaber gibt. Es gibt aber ein Interesse, das darüber hinausgeht.
Dieses sucht mit Hilfe und auf Grund der Wissenschaften den
Menschen über seine Stellung zum Universum aufzuklären, oder
mit anderen Worten: dieses Interesse bringt den Menschen dahin,
daß er sich in eine solche Beziehung zur Welt setzt, wie es nach
Maßgabe der in den Wissenschaften gewonnenen Resultate mög-
lich und notwendig ist.

In den einzelnen Wissenschaften stellt sich der Mensch der


Natur gegenüber, er sondert sich von ihr ab und betrachtet sie,
er entfremdet sich ihr. In der Philosophie sucht er sich wieder mit
ihr zu vereinigen. Er sucht das abstrakte Verhältnis, in das er in
der wissenschaftlichen Betrachtung geraten ist, zu einem realen,
konkreten, zu einem lebendigen zu machen. Der wissenschaftliche
Forscher will sich durch die Erkenntnis ein Bewußtsein von der
Welt und ihren Wirkungen erwerben, der Philosoph will sich mit
Hilfe dieses Bewußtseins zu einem lebensvollen Gliede des Welt-
ganzen machen. Die Einzelwissenschaft ist in diesem Sinne eine
Vorstufe der Philosophie. Wir haben ein ähnliches Verhältnis in
den Künsten. Der Komponist arbeitet auf Grund der Kompo-
sitionslehre. Die letztere ist eine Summe von Erkenntnissen, die
eine notwendige Vorbedingung des Komponierens sind. Das Kom-
ponieren verwandelt die Gesetze der Musikwissenschaft in Leben,
in reale Wirklichkeit. Wer nicht begreift, daß ein ähnliches Ver-
hältnis auch zwischen Philosophie und Wissenschaft besteht, der
taugt nicht zum Philosophen. Alle wirklichen Philosophen waren
freie Begriffskünstler. Bei ihnen wurden die menschlichen Ideen
zum Kunstmateriale und die wissenschaftliche Methode zur künst-
lerischen Technik. Dadurch wird das abstrakte wissenschaftliche
Bewußtsein zum konkreten Leben erhoben. Unsere Ideen werden
Lebensmächte. Wir haben nicht bloß ein Wissen von den Dingen,

328


sondern wir haben das Wissen zum realen, sich selbst beherrschen-
den Organismus gemacht; unser wirkliches, tätiges Bewußtsein
hat sich über ein bloßes passives Aufnehmen von Wahrheiten
gestellt. Hierinnen suche ich den Sinn der Lassalleschen Worte.

Mit dieser Auffassung der Philosophie sollten sich insbesondere


jene durchdringen, die die historische Entwickelung derselben
schriftstellerisch darstellen oder im akademischen Lehrvortrage vor-
bringen wollen. Gegenüber mancher unerfreulichen Erscheinung
auf diesem Gebiete begrüßen wir mit Freuden ein eben erschie-
nenes Buch: «Die Hauptprobleme der Philosophie in ihrer Ent-
wicklung und teilweisen Lösung von Thaies bis Robert Hamerling.
Vorlesungen, gehalten an der K. K. Wiener Universität von Vinzenz
Knauer (Wien 1892).»

Schon aus der Darstellung der Geschichte der Philosophie von


demselben Verfasser (Geschichte der Philosophie mit besonderer
Berücksichtigung der Neuzeit. Zweite verbesserte Auflage. 1882)
haben wir den Eindruck erhalten, daß wir in Vinzenz Knauer mit
einer philosophischen Natur im wahrsten Sinne des Wortes zu tun
haben. Nicht ein äußerlicher Betrachter, sondern ein in der Ideen-
welt lebender Mann schildert da die Erscheinungen der Philo-
sophie in alter und neuer Zeit. Und durch das neue Buch sind wir
in dieser Überzeugung nur bestärkt worden. Die Vorlesungen sind
in hohem Grade geeignet, das philosophische Denken anzuregen.
Wir haben es nicht mit dem Historiker zu tun, der über ein
System nach dem ändern ein Referat bringt und dann von irgend-
einem Standpunkte eine Kritik anfügt — solche Künste haben
J. H. Kirchmann, Thilo und andere bis zum Ekel getrieben —, son-
dern mit einem Philosophen, der die Probleme lebendig seinen
Zuhörern und Lesern entwickelt.

Es gibt Leute, die es für Objektivität halten, wenn sie den von


ihnen behandelten Problemen so äußerlich wie möglich gegen-
überstehen. Sie wollen alles aus der Vogelperspektive betrachten.
Solche sogenannte Objektivität bringt es aber zu keiner wahrhaf-
ten Vergegenwärtigung ihres Gegenstandes. Knauer hat eine andere,
die echte Objektivität; er dringt in die Ideen eines Philosophen so
tief ein, daß er sie vor unserem Geiste in möglichst unverfälschter

329


Weise wieder auferstehen läßt. Er weiß das dramatische Element,
das den Ideengängen jedes wahren Philosophen eignet, wieder zu
beleben. Wo wir so oft nur «der Herren eigenen Geist» ver-
spüren, da führt uns Knauer wirklich in den «Geist der Zeiten» ein.

All das ist natürlich nur möglich bei jenem hohen Maße von


Beherrschung des Stoffes, die wir an Knauer bewundern. Jeder
Satz zeugt für ein langes, gründliches Einleben in die philosophi-
schen Weltanschauungen.

Ganz uneingeschränkt möchte ich dieses Lob dem ersten Teile


des Buches, den ich bis zu Thomas von Aquino ausdehne, zu-
erkennen. Von Thomas von Aquino ab scheint mir die Hinneigung
Knauers zu dualistischen und pluralistischen Vorstellungen die
freie historische Darstellung zu beeinträchtigen. Ich für meine
Person habe das in dem zweiten Teile schmerzlich empfunden. Ich
zähle Knauers Darstellung der aristotelischen Philosophie zu den
klarsten, durchsichtigsten und richtigsten, die es gibt; seine Be-
handlung der modernen Philosophie scheint mir noch nicht so
weit von scholastischen Begriffen frei zu sein, um der monisti-
schen Philosophie gerecht werden zu können. Knauer verkennt
den Unterschied zwischen abstraktem und konkretem Monismus.
Der erstere sucht eine Einheit neben und über den Einzeldingen
des Kosmos. Dieser Monismus kommt immer in Verlegenheit,
wenn er die Vielheit der Dinge aus der verabsolutierten Einheit
ableiten und begreiflich machen soll. Die Folge ist gewöhnlich,
daß er die Vielheit für Schein erklärt, was eine vollständige Ver-
flüchtigung der gegebenen Wirklichkeit zur Folge hat. Schopen-
hauers und Schellings erstes System sind Beispiele für diesen ab-
strakten Monismus. Der konkrete Monismus verfolgt das einheit-
liche Weltprinzip in der lebendigen Wirklichkeit. Er sucht keine
metaphysische Einheit neben der gegebenen Welt, sondern er ist
überzeugt, daß diese gegebene Welt die Entwickelungsmomente
enthält, in die sich das einheitliche Weltprinzip in sich selbst glie-
dert und auseinanderlegt.

Dieser konkrete Monismus sucht nicht die Einheit in der Viel-


heit, sondern er will die Vielheit als Einheit begreifen. Der dem
konkreten Monismus zugrunde liegende Begriff der Einheit faßt

330


die letztere als substantielle, die den Unterschied in sich selbst
setzt. Ihr steht gegenüber jene Einheit, welche überhaupt unter-
schiedslos in sich, also absolut einfach ist (die Herbartschen Realen),
und jene, welche von den in diesen Dingen enthaltenen Gleich-
heiten die ersteren zusammenfaßt zu einer formalen Einheit, etwa
wie wir zehn Jahre zu einem Dezennium zusammenfassen. Nur
die beiden letzteren Einheitsbegriffe kennt Knauer. Der erstere
kann, da er die unterschiedenen Dinge der Wirklichkeit nur aus
dem Zusammenwirken vieler einfacher Realen erklären kann, zum
Pluralismus führen; der letztere kommt zum abstrakten Monis-
mus, weil seine Einheit keine den Dingen immanente, sondern
eine neben und über denselben existierende ist. Knauer neigt zum
Pluralismus hin. Die konkret-monistischen Elemente der neueren
Philosophie übersieht er. Deswegen erscheint mir dieser Teil sei-
ner Vorlesungen mangelhaft.

Ich bekenne mich zum konkreten Monismus. Mit seiner Hilfe


bin ich imstande, die Ergebnisse der neueren Naturwissenschaft,
namentlich der Goethe-Darwin-Haeckelschen Organik, zu ver-
stehen. Hätte Knauer die Wissenschaft vom Organischen bei sei-
nen Auseinandersetzungen ebenso berücksichtigt, wie er es mit
vollem Recht mit der des Unorganischen (Wärmeäquivalent, Er-
haltung der Kraft, zweiter Hauptsatz der mechanischen Wärme-
theorie) tut, so hätte er die Schwierigkeit der Anwendung des
Pluralismus durchschauen müssen. Es ist unmöglich, die Ent-
wickelungslehre (und ihre Konsequenzen: Vererbungs-, Anpas-
sungstheorie und biogenetisches Grundgesetz) mit Hilfe des Zu-
sammenwirkens unterschiedener einfacher Realen widerspruchslos
zu begreifen.

Diese Einwände sollen mich aber durchaus nicht abhalten, die


große Bedeutung auch des zweiten Teiles des Knauerschen Buches
anzuerkennen. Neben der klaren, originellen Auseinandersetzung
über die Herbartschen Gedankengänge sehe ich diese Bedeutung
in der umfassenden und gerechten Behandlung des Hamerling-
schen Philosophierens. Daß Hamerling in so vorurteilsfreier, rück-
haltsloser Weise der Reihe der Philosophen angegliedert erscheint,
ist ein nicht hoch genug anzuschlagendes Verdienst, das sich

331


Knauer durch diese Vorlesungen erworben hat. Er hat damit als
Philosophiehistoriker ein Wort zuerst gesprochen. Wer nur die
von jedermann anerkannten philosophischen Systeme in einer
neuen Weise zusammenstellt und auseinanderentwickelt, der läßt
sich gar nicht vergleichen mit demjenigen, welcher als erster die
Bedeutung einer Erscheinung erkennt. Das an diesen Vorlesungen
anzuerkennen, hindert mich der Umstand nicht, daß ich selbst
mich ganz anders zu Hamerling stelle als Knauer. Ich schätze die
philosophische Auffassung des Dichterphilosophen wegen der vie-
len monistischen Elemente, die sie trotz der Hinneigung zur dua-
listischen und pluralistischen Weltanschauung hat. Dieser Um-
stand kann meiner Auffassung nach so lange nicht richtig beurteilt
werden, als sich die deutsche Philosophie in der den freien Blick
in die Weltverhältnisse vollständig trübenden Abhängigkeit von
Kant befindet. Die Kantsche Philosophie ist eine dualistische. Sie
gründet den Dualismus auf die Einrichtung des menschlichen Er-
kenntnis-Organismus. Und daß die Sätze, die Kant für die Subjek-
tivität des Erkennens beigebracht hat, in mehr oder weniger modi-
fizierter Gestalt unantastbar seien, gilt heute sozusagen als Grund-
dogma der Philosophie. Wer daran zweifelt, wird von vielen als
ungeeignet zum philosophischen Denken erklärt. Wer unabhängig
von diesem Vorurteile eine eigene Meinung hat, der kann heute
schlimme Erfahrungen machen. Ich habe es jüngst selbst erfah-
ren. Als man in Deutschland im vorigen Jahre eine «Gesellschaft
für ethische Kultur» nach dem Muster ähnlicher Vereinigungen
in England und Amerika bildete, da ergriff ich die Gelegenheit,
um meine Meinung über eine solch rückständige Gründung öffent-
lich auszusprechen (u.a. im «Literar. Merkur», Jahrg. XII. 1892,
Nr. 40, und «Zukunft», 1892, I. Band, Nr. 5). Meine diesbezüg-
lichen Ansichten wurzeln in meinen erkenntnistheoretischen Über-
zeugungen, die ich zuletzt in meiner Schrift «Wahrheit und Wis-
senschaft» begründet habe. Die letzteren stellen eine von Kant
unabhängige, den Lehren des modernen Monismus gewachsene Er-
kenntnistheorie dar. Sie liefern den vollen Beweis dafür, daß ich
zu meinen Ansichten ganz unabhängig von Nietzsche gelangt bin.
Trotzdem wurde ich von deutschen Philosophen, die doch von der

332


Sache etwas verstehen sollten, einfach des Nietzscheanismus be-
schuldigt und mir nicht nur Mangel an Verstand, sondern auch
unmoralische Gesinnung vorgeworfen. Mich beirrt das nicht wei-
ter. Über meinen Verstand denkt doch mancher anders als die
Herren von der «ethischen Kultur»; und was meine Moral be-
trifft: in den Schulzeugnissen steht: «musterhaft», später hieß es:
«den akademischen Gesetzen vollkommen gemäß»; seither hat mir
jede Obrigkeit, die ich in Anspruch nahm, ein gutes Sittenzeugnis
gegeben. Ich habe also, wie es scheint, doch nichts getan, was
einen deutschen Gelehrten veranlassen sollte, mich vor einen «mora-
lischen Richterstuhl» zu fordern (vgl. Ferd. Tönnies, «Ethische Kul-
tur und ihr Geleite»). Oder gehört es zu den Erkenntnissen der
neuen «ethischen Kultur», daß man wegen seiner theoretischen
Ansichten moralisch verurteilt wird?

ZUR HYPNOTISMUSFRAGE

Die Erscheinungen des Hypnotismus und der Suggestion, denen
in der Gegenwart die Forschung ein reges Interesse entgegen-
bringt, sind von solcher Art, daß die Vertreter der verschiedensten
geistigen Gebiete die Notwendigkeit fühlen, sich mit ihnen aus-
einanderzusetzen. Dem Arzt scheint mit der Hypnose ein Mittel
an die Hand gegeben zu sein, um funktionelle von organischen
Erkrankungen unterscheiden zu können, und zugleich die Möglich-
keit, die ersteren durch suggestiven Eingriff zu heilen. Der Rechts-
gelehrte wird nicht umhinkönnen, bei Fragen, in denen der freie
Wille und die persönliche Verantwortlichkeit in Betracht kom-
men, auf die Wirkung Rücksicht zu nehmen, welche Auto- und
Fremdsuggestionen auf den Menschen haben. Die juridische Praxis
wird stets darauf bedacht sein müssen, daß durch suggestiven Ein-
fluß die Aussagen der Angeklagten sowohl wie jene der Zeugen
eine von der Wahrheit mehr oder weniger abweichende Gestalt
annehmen können. Auf dem Gebiete der Religions- und Kultur-

333


geschichte wird sich manches unter Berufung auf den Hypnotis-
mus besser erklären lassen als ohne dieselbe. Daß von hier aus
auch auf die Erscheinungen der künstlerischen Phantasietätigkeit
ein erklärendes Licht fällt, scheint mir unzweifelhaft. Und damit
komme ich in ungezwungener Weise zu jener Wissenschaft, die
an der Hypnotismusfrage vor allen anderen Gebieten interessiert
ist, zur Psychologie. Ich muß Hans Schmidkunz (Psychologie der
Suggestion, S. 5) recht geben, wenn er hier eine wichtige Ergän-
zung unserer bisherigen Psychologie sucht. Und es ist im höch-
sten Grade zu bedauern, daß ein Forscher wie W. Wundt sich der
unglaublichsten Verdrehungen einzelner Behauptungen des Schmid-
kunzschen Buches bei der Beurteilung desselben schuldig macht.
Wundt hat sich durch seine experimentellen Untersuchungen um
die Psychologie große Verdienste und bei den philosophierenden
und philosophisch gebildeten Zeitgenossen ein hohes Ansehen
erworben. Wir wollen die ersteren nicht bestreiten, gegen das
letztere uns nicht auflehnen, wenn wir seine jüngst erschienene
Schrift über «Hypnotismus und Suggestion» zu denjenigen zäh-
len, die auf dem psychologischen Felde eher Verwirrung als Auf-
klärung schaffen. Die einseitige, in gewissem Sinne rein mecha-
nische Art, wie Wundt das Seelenleben betrachtet, läßt ihn den
Wert, den zum Beispiel die Annahme eines Doppelbewußtseins
(Ober- und Unterbewußtseins) für die Aufhellung der fraglichen
Tatsachen hat, vollständig verkennen. Er findet darinnen «ein aus-
geprägtes Beispiel jener Art psychologischer Scheinserklärungen,
die darin bestehen, daß man für die erklärenden Dinge einen
neuen Namen einführt» (S. 36). Wundt übersieht, daß solche
Theorien, wenn sie auch nicht berufen sind, das letzte Wort über
die Tatsachen zu sprechen, doch die in der Wirklichkeit fort-
während ineinanderfließenden realen Momente begrifflich scharf
auseinanderhalten, welches der erste Schritt ist zu einer wirklichen
Erklärung. Wundts eigene Ansichten scheinen mir völlig unzurei-
chend. Er will alle in Betracht kommenden Tatsachen aus einem
von dem normalen nur graduell abweichenden Funktionieren des
gewöhnlichen Vorstellungsmechanismus ableiten. Wie dadurch
aber jenes Verhalten zur Außenwelt erklärlich werden soll, das

334


wir in der Hypnose beobachten, vermag ich nicht einzusehen. Mir
erscheint dieses nur begreiflich, wenn in der Hypnose eine solche
Modifikation unserer Bewußtseinsfunktionen eintritt, daß wir zu
unserer Umgebung in eine Wechselwirkung treten, die der rein
physikalischen Beziehung um eine Stufe nähersteht als die unseres
gewöhnlichen Seelenlebens. Diese Wechselbeziehung wird durch
unser höheres Geistesleben verdeckt wie ein schwächeres Licht
durch ein stärkeres; sie macht sich aber geltend, wenn das normale
Bewußtsein verdunkelt wird. Wir steigen im letzteren Falle auf
der Leiter der Weltwirkungen um eine Stufe herab; wir stehen
mit der rein physischen Natur in einem innigen Kontakt. Die
Vorgänge der letzteren wirken, ohne durch unser höheres Bewußt-
sein hindurchzugehen, auf uns ein. Ohne der Sache diese Wen-
dung in die universelle Naturphilosophie zu geben, kommen wir
nicht weiter.

Ich möchte meine Ansicht über Wundts Schrift in folgendem


zusammenfassen. Wenn ich den Begriff, den dieser Psychologe
vom Bewußtsein hat, betrachte, so scheint er durchaus dem nicht
zu entsprechen, was sich aus einer erschöpfenden Vertiefung in
das menschliche Seelenleben ergibt. Wäre der Wundtsche Begriff
des Bewußtseins richtig, dann befände sich der Mensch immer in
Hypnose, und unsere Bewußtseinszustände wären uns von dem
mechanisch ablaufenden Vorstellungsmechanismus suggeriert. Nur
weil sich die Wundtsche Psychologie gar nicht über jene Stufe des
Bewußtseins erhebt, welches seinen Inhalt mehr oder weniger auf
dem Wege der Suggestion erhält, deshalb sieht sie auch den tief-
greifenden Unterschied nicht zwischen einer suggerierten und
einer vom Wachbewußtsein aufgenommenen Vorstellungsmasse.

In physiologischer Beziehung finde ich die Erklärung am an-


nehmbarsten, daß sie subkordikalen Hirnzentren zur Vermittlung
jener Funktionen dienen, welche sich im Zustande der Hypnose
abspielen, und zwar unter Ausschaltung der Großhirnrinde, die
nur bei wachem Bewußtsein tätig ist.

Außer der Wundtschen Schrift liegt eine Reihe von anderen


desselben Gegenstandes vor mir. Wer einen leichtfaßlichen Leit-
faden durch das Gesamtgebiet dieser Erscheinungen sucht, dem

335


empfehle ich H. Schmidkunz: «Der Hypnotismus».* Erscheinun-
gen, Anwendung, Auffassungen und Gefahren des Hypnotismus
finden sich da von kundiger Hand übersichtlich dargestellt. Eine
eingefügte somnambule Krankengeschichte und ein ausgezeich-
netes Kapitel über Geschichte des Hypnotismus erhöhen noch
den Wert des in jeder Hinsicht trefflichen Buches. Wer einen
typischen Fall von Hypnose (mit vier Modifikationen des Bewußt-
seins) und die Ansichten eines bedeutenden Klinikers über dieses
Gebiet kennenlernen will, der muß nach dem Buche von v. Krafft-
Ebing** greifen. In den «Zeitfragen des christlichen Volkslebens»
ist von C. Ziegler*** eine Abhandlung erschienen, die auf dem
Standpunkt des sogenannten «großen Hypnotismus» der Pariser
Schule steht. Letztere (mit Charcot an der Spitze) sieht in den in
Frage kommenden Erscheinungen nur spezielle Fälle von Hysterie.
Der Blick des Verfassers ist dadurch etwas getrübt, gleichwohl
erscheint mir das Schriftchen wegen der guten Zusammenstellung
der Erscheinungen lesenswert. Ähnliches habe ich zu sagen über
eine Broschüre von Dr. Karl Friedr. Jordan.**** Was hier verwir-
rend wirkt, ist der Umstand, daß der Verfasser ein Anhänger der
Theorie vom Lebens-Agens des Prof. Gustav Jäger ist. Eine über das
gewöhnliche Maß hinausgehende Menge dieses Agens strömt,
nach Jordan, vom Hypnotiseur auf den zu Hypnotisierenden über
und bewirkt in dem letzteren den somnambulen Zustand. Sieht
man von dieser in der Beobachtung keine Stütze findenden An-
schauung ab, so liefert auch diese Schrift eine gute Zusammen-
stellung dessen, was für den Hypnotismus in Betracht kommt.

* Der Hypnotismus in gemeinfaßlicher Darstellung. Mit einer somnam-


bulen Krankengeschichte. Von Dr. Hans Schmidkunz. Stuttgart 1893 (VI,
266 S.).

** Eine experimentelle Studie auf dem Gebiete des Hypnotismus nebst


Bemerkungen über Suggestion und Suggestionstherapie. Von Dr. R. v. Krafft-
Ebing. 3. Aufl. Stuttgart 1893 (108 S.).

*** Der Hypnotismus. Von C. Ziegler (Zeitfragen des christlichen Volks-


lebens, XVI, 1). Stuttgart 1892 (63 S.).

**** Das Rätsel des Hypnotismus und seine Lösung. Von Dr. Karl


Friedr. Jordan. 2. Aufl. Berlin 1892 (IV, 79 S.).

336


Verworren und unklar erscheint mir eine Studie über Hypnotis-
mus von Otto von Berlin.* Sie ist aber bei alledem ernster zu neh-
men als die neueste Publikation von Dr. F. Wollny.** Wir haben
es hier mit einem ganz sonderbaren Herrn zu tun. Wollny wittert
geheime Gesellschaften, welche durch besonders eingerichtete Ap-
parate die Macht haben, auf das Individuum sowohl wie auf ganze
Menschenmassen einen magnetischen Einfluß auszuüben und sie
zu allen möglichen Handlungen zu veranlassen. Der Verfasser hat
ein Gleiches auch bereits früher in einer Anzahl von Schriften
ausgesprochen, sogar eine Eingabe an die Reichsbehörden wegen
Verfolgung des vermeintlichen Unfugs gemacht. Ich glaube, Wollny
leidet an jener Art von partiellem Wahnsinn, die wir öfter zu
beobachten Gelegenheit haben. Seine Schrift hat daher nur patho-
logisches Interesse.

Im Anschluß an diese Bemerkungen möchte ich ein paar Worte


hierhersetzen über eine Frage, die im Hinblick auf die Erfahrun-
gen des Hypnotismus den philosophischen Denker vor allen an-
deren Dingen interessiert. Ich meine die nach dem Verhältnis der
Suggestion zu der auf logischem Wege gewonnenen Überzeugung.
Es kann ja kein Zweifel darüber bestehen, daß bei aller qualitati-
ven Verschiedenheit des hypnotischen von dem normalen Bewußt-
sein, Auto- und Fremdsuggestionen auch in dem letzteren eine
große Rolle spielen und ein großer Teil dessen, was wir glauben
und für wahr halten, auf suggestive Weise sich in uns festgesetzt
hat. Niemals darf aber ein durch Suggestion zustande gekommener
Vorstellungskomplex den Wert einer Überzeugung in Anspruch
nehmen. Um so wichtiger ist es, die bezeichneten Gebiete streng
auseinanderzuhalten. Wissenschaftliche Bedeutung kann ja doch
nur dasjenige haben, was logisch erworbene Überzeugung ist.

Wie kommt ein Urteil zustande? Wir kämen nie in die Lage,


Vorstellungen logisch zu verbinden, wenn uns nicht die reale Ein-
heit des Universums auseinandergelegt in eine Vielheit von Vor-

* Kaleidoskopische Studie über Hypnotismus und Suggestion. Von Otto


von Berlin. Freiburg 1892 (73 S.).

** In Sachen der Hypnose und Suggestion. Ein Vademecum für Herrn


Prof. Wundt. Von Dr. F. Wollny. Leipzig 1893 (24 S.).

337


Stellungen erschiene. Der Grund für das letztere liegt in unserer
geistigen Organisation. Wären wir anders organisiert, dann würden
wir etwa den ganzen (physischen und geistigen) Kosmos mit
einem einzigen Blicke überschauen. Es gäbe kein wissenschaftliches
Denken. Das letztere besteht eben darinnen, die getrennten Ele-
mente der Welt durch bewußte Tätigkeit zu vereinigen. Durch
Entwickelung dieser Tätigkeit nähern wir uns immer mehr jenem
Überschauen der Welt mit einem Blicke. Soll dieses Vereinigen
ein wirklich logisches sein, dann ist zweierlei dazu notwendig.
Erstens müssen wir die Elemente der Welterscheinungen im ab-
gesonderten Zustande ihrem Inhalte nach genau durchschauen;
zweitens aus diesem Inhalte die Art und Weise finden, wie wir
die getrennten Einzelheiten in objektiver Weise dem einheitlichen
Weltganzen einzufügen haben. Nur dann, wenn sich die uns ge-
gebenen Weltelemente ganz passiv bei dieser Vereinigung ver-
halten und diese lediglich durch unser «Ich» zustande kommt,
dann ist das Ergebnis mit dem Namen einer Überzeugung zu be-
legen.

Es ist aber ohne Frage, daß dieselbe Verbindung von Vorstel-


lungen, die durch unser «Ich» bewirkt wird, auch sich unabhängig
von demselben bloß durch die Anziehungskraft der Vorstellungen
selbst vollziehen kann. Dies wird geschehen, wenn das «Ich» auf
irgendeine Weise ausgeschaltet, in Untätigkeit versetzt wird. Die
menschliche Psyche vereinigt ja zwei Momente: sie nimmt die
Welt als Mannigfaltigkeit auf, als eine Summe von Einzelheiten,
und sie verbindet dieselben auf höherer Stufe wieder zu jener
Einheit, der sie entstammen. Weil sie einer solchen Einheit an-
gehören, so werden sie nach Vereinigung auch dann streben, wenn
sie im Bewußtsein anwesend sind und ihnen das «Ich» nicht als
regelnder Faktor entgegentritt. Ist das der Fall, so haben wir es
hier mit der Suggestion im weitesten Sinne zu tun. Für eine mo-
nistische Weltauffassung ist die letztere völlig verständlich. Was
in einer Einheit wurzelt, strebt nach Verbindung, wenn es irgend-
wo als Vielheit auftritt. Da nun die Gesamtheit der Lebenserschei-
nungen eines Menschen immer das Ergebnis der in seinem Be-
wußtsein tätigen Kräfte ist, so wird sich dieselbe in zweifacher

338


Weise geltend machen können. Ist der Vorstellungsablauf geregelt
von dem «Ich», so werden die Erscheinungen der Persönlichkeit
auch nur aus der Tätigkeit desselben abzuleiten sein; wird hin-
gegen das «Ich» ausgelöscht, so muß die Ursache dessen, was sich
in und mit der Persönlichkeit vollzieht, außerhalb derselben ge-
sucht werden. Jeder Vorstellungskomplex oder jede Handlung der
letzteren Art ist nur als Suggestion aufzufassen. Zwischen dem in
tiefer Hypnose Handelnden und dem Schulgelehrten, dessen Me-
thode nicht auf Erwägungen seines eigenen «Ich», sondern auf
solchen des Schulhauptes beruht, ist nur ein gradueller Unter-
schied. Erst derjenige, der die Weltzusammenhänge so durch-
schaut, daß sein Urteil völlig unabhängig wird von jeglichem
äußeren Einflüsse, erhebt seinen Vorstellungsinhalt über eine
Summe von Suggestionen. Wir können deshalb bei so vielen
Menschen sagen, wie sie in einem gegebenen Falle handeln oder
denken werden, weil wir die Suggestionen kennen, unter deren
Einfluß sie stehen. Ein unter Wirkung einer Suggestion lebender
Mensch gliedert sich ein in die Kette niederer Naturvorgänge, wo
ja auch immer die Ursachen zu einer Erscheinung nicht in der-
selben, sondern außer ihr gesucht werden müssen. Nur das «Ich-
bewußtsein» hebt uns heraus aus dieser Kette, zerreißt die Ver-
bindung mit der übrigen Natur, um sie innerhalb des Bewußtseins
wieder zu schließen. Diese zentrale Stellung dem «Ich» im Ge-
biete der Wissenschaft gegeben zu haben, ist ein gar nicht genug
zu schätzendes Verdienst Joh. Gottlieb Fichtes. In diesem Denker
hat die Entwickelung der menschlichen Vernunft einen Sprung
vorwärts gemacht, der mit nichts zu vergleichen ist. Es ist bezeich-
nend für die deutsche Philosophie der Gegenwart, daß sie keine
Ahnung von diesem Sprunge hat. Der Mensch, der sich zum Ver-
ständnis Fichtes erhebt, muß eine Veränderung an sich erfahren,
wie ein Blindgeborener, dem durch eine Operation das Sehen ge-
schenkt wird. Alle Verirrungen, sowohl die des Spiritismus wie
die der physiologischen Psychologie, können nur von dem beurteilt
werden, der Fichte kennt. Du Prel würde es nie einfallen, die
Handlung einer somnambulen Person höher zu stellen als die vom
«Ichbewußtsein» bedingte, wenn er das letztere in intimerer An-

339


schauung erfaßt hätte. Er wüßte dann, daß alles, was nicht vom
«Ich» bedingt ist, um eine Stufe der physikalischen Natur näher-
steht als dasjenige, bei dem das der Fall ist. Indem die Spiritisten
die Suggestionen des dem «Ich» entfremdeten Bewußtseins zum
Inhalte ihrer Lehren machen, sprechen sie der Wissenschaft Hohn,
da diese nur aus den vom «Ich» vollzogenen Urteilen bestehen
kann. Sie stellen sich auf die gleiche Stufe mit den Offenbarungs-
gläubigen, die auch die suggerierten Vorstellungsinhalte von außen
zum Inhalt ihrer Anschauungen machen. Es ist recht charakteri-
stisch für die Stumpfheit und Feigheit der denkenden Vernunft in
unserer Zeit, daß alle Augenblicke die Tendenz auftritt, mit Aus-
schluß des Gedankens eine Weltansicht zu gewinnen.

HERMANN HELMHOLTZ

Die deutschen Physiker der Gegenwart sind darin einig, daß es
der größte unter ihnen ist, der am 8. September 1894 die Augen
für immer geschlossen hat. Weite Kreise von Gebildeten haben
sich seit Jahrzehnten daran gewöhnt, vorzüglich zu den Schriften
zweier hervorragender Zeitgenossen ihre Zuflucht zu nehmen,
wenn sie einen Rat brauchen bezüglich der zwei wichtigsten Fra-
gen, die die Betrachtung der Natur in jedem denkenden Men-
schen erweckt. Wem darnach dürstet, etwas darüber zu erfahren,
wie die Lebewesen, also auch der Mensch, entstanden sind und
sich entwickelt haben, der greift nach den Werken Ernst Haeckels;
wer den Einwirkungen der Natur auf die Sinne des Menschen
nachsinnt, dem geben die Arbeiten Hermann Helmholtzens die
mannigfaltigste Anregung. Diese beiden Männer sind die Ver-
körperung unseres gegenwärtigen Naturerkennens. Der eine ist
bemüht, das Rätsel des Werdens lebendiger Wesen zu lösen; der
andere vertiefte sich in das Gewordene und spürte den Gesetzen
seines Wirkens nach. Wenigen Forschern ist es gelungen, ihre
Leistungen noch bei ihren Lebzeiten in so hohem Maße anerkannt

340


zu sehen wie Hermann Helmholtz. Von allen Teilen der Welt
liefen die Ehrenbezeugungen und Auszeichnungen ein, als er vor
drei Jahren seinen siebzigsten Geburtstag feierte. Solch seltener
Erfolg erregt Verwunderung, wenn man bedenkt, mit welchen
Schwierigkeiten die Bahnbrecher der Wissenschaften oft zu kämp-
fen haben, besonders wenn sie wie Helmholtz es verschmähen, aus
dem Kreise ihres wissenschaftlichen Arbeitens herauszutreten und
sich an Zweigen des öffentlichen Lebens zu beteiligen, für die
mehr Interesse vorhanden ist als für die strenge Wissenschaft. Die
Verwunderung schwindet, sobald man einen Blick auf die ge-
schichtliche Stellung des verstorbenen Forschers innerhalb der
wissenschaftlichen Entwickelung des letzten Jahrhunderts wirft.
Helmholtzens Jugend fällt in eine Zeit, die reicher als irgendeine
an brennenden wissenschaftlichen Fragen war. Er fand eine Un-
zahl von Aufgaben vor, die in einem Zustande waren, daß die
Lösung jeden Tag erwartet werden durfte. Dabei waren die Metho-
den der Forschung so weit ausgebildet, daß es in vielen Fällen nur
eines kleinen Schrittes bedurfte, um auf den bereits eingeschlage-
nen Wegen zu epochemachenden Entdeckungen zu gelangen. Der
große Anreger auf naturwissenschaftlichem Gebiete in Deutsch-
land ist Johannes Müller, der Lehrer Helmholtzens und Haeckels
und vieler anderer, mit deren Namen die moderne Naturanschau-
ung verknüpft ist. Allen jenen, die bei der Feier des sechzigsten
Geburtstages Ernst Haeckels, am 17. Februar 1894, in Jena an-
wesend waren, wird es unvergeßlich sein, mit welcher Begeiste-
rung dieser Forscher die Worte sprach, mit denen er den Einfluß
schilderte, den Johannes Müller auf ihn ausgeübt hat: «Ich hatte
schon vergleichende Anatomie ... gehört und kam, so wohl vor-
bereitet, in die Vorlesungen von Johannes Müller, einem Manne,
dessen außerordentliche Größe und Hoheit mir noch heute leb-
haft vor Augen steht. Wenn ich jetzt bisweilen bei der Arbeit
ermüde, brauche ich nur das Bild von Johannes Müller, welches in
meinem Arbeitszimmer vor mir hängt, anzusehen, um neue Kraft
zu gewinnen. ... Er lehrte vergleichende Anatomie und Physio-
logie. ... Ich hatte vor seiner gewaltigen Persönlichkeit eine solche
Verehrung, daß ich es nicht wagte, ihm näherzutreten.... Mehrere

34l


Male ist es mir passiert, daß ich ihn um Rat fragen wollte. Mit
Herzklopfen stieg ich die Treppe hinan, faßte an die Klingel,
wagte aber nicht zu läuten, sondern kehrte wieder um.» So wird
uns der Mann von seinen Schülern geschildert, der die wissen-
schaftliche Strömung einleitete, innerhalb welcher Helmholtz seine
großen Erfolge errang. Johannes Müller säuberte die Wissenschaft
von einer ganzen Reihe von Vorurteilen, um freie Bahn zu bekom-
men für eine zwar nüchterne, aber auf unbefangene Anschauung
gegründete Erkenntnis der Vorgänge im tierischen und mensch-
lichen Organismus. Er nahm den Kampf auf gegen die kurzsich-
tige Anschauungsweise, die für die unorganische und organische
Natur zwei grundverschiedene Erklärungsprinzipien annimmt,
zwischen denen eine Vermittlung unbedingt ausgeschlossen sein
soll. Zur Erklärung der unorganischen Natur nahm diese Ansicht
die mechanischen, chemischen und physikalischen Kräfte an, zur
Aufhellung der Erscheinungen des organischen Lebens glaubte sie
einer besonderen «Lebenskraft» zu bedürfen, von der aber eine
klare Vorstellung unmöglich ist. Die Ausdehnung der physikali-
schen Betrachtungsweise und ihrer Methoden auf die Erforschung
der belebten Natur bildet den Grundzug des sogenannten «natur-
wissenschaftlichen Zeitalters», das mit Johannes Müller seinen
Anfang nahm. In vollkommenster Weise tragen das Gepräge die-
ses Zeitalters die Forschungsergebnisse Helmholtzens. Jede wis-
senschaftliche Annahme ist unberechtigt, die den Gesetzen der
mechanischen Physik widerspricht: das war das Ende seines Den-
kens. Wer von einer «Lebenskraft» spricht, macht den Organis-
mus zu einem Perpetuum mobile, einem sich selbst bewegenden
Beweger. Er läßt die Kraft, die zur organischen Bewegung not-
wendig ist, aus dem Nichts entspringen. Das ist unmöglich. Jede
Kraftform kann nur durch Umwandlung aus einer ändern ent-
stehen. Es gibt im Weltall eine unveränderliche Kraftmenge, und
alle Arten von Kräften, die organischen ebenso wie die unorgani-
schen, können nur Formen dieser einen Kraft sein. Wo Kraft ent-
steht, muß sie aus der Umwandlung einer ihr entsprechenden
Menge einer andersgearteten Kraft hervorgehen. Dies ist das heute
berühmte «Gesetz von der Erhaltung der Kraft», das Helmholtz

342


im Jahre 1847 vor den Mitgliedern der Berliner Akademie der
Wissenschaften verteidigte. Daß die Aufstellung dieses Gesetzes
im wahrsten Sinne des Wortes eine Forderung der Zeitanschau-
ung war, beweist die Tatsache, daß es in derselben Zeit auch von
dem Württemberger Julius Robert Mayer gefunden wurde. Die
Anwendung der physikalischen Forschungsmethode auf die Vor-
gänge des organischen Lebens führte Helmholtz auf den Gedan-
ken, die Geschwindigkeit zu bestimmen, mit der ein auf einen
Nerv ausgeübter Reiz im Organismus sich fortpflanzt. Daß ihm
dies gelang, war ein Erfolg der physikalischen Denkrichtung. Es
war der Beweis geliefert, daß die Vorgänge innerhalb wie außer-
halb des Organismus gemessen werden können.

Der gleichen physikalischen Methode bediente sich Helmholtz


auch zur Erforschung der Gesetze, nach denen uns unsere Sinne
die Wahrnehmung der Außenwelt vermitteln. Auch auf diesem
Felde hatte Johannes Müller die Bahn vorgezeichnet. Von ihm
stammt die Ansicht, daß die Art der Empfindung, die ein äußerer
Eindruck auf uns macht, von den Sinnesnerven abhängt, durch
die er vermittelt wird. Wird der Sehnerv erregt, so entsteht Licht-
empfindung, gleichgültig, ob Licht oder elektrischer Strom oder
ein Druck auf das Auge einwirkt. Durch diesen Satz war die Auf-
merksamkeit der Naturforscher auf die Einrichtung der Sinnes-
organe gelenkt. Hier fand Helmholtz ein fruchtbares Arbeits-
gebiet. Eine folgenreiche Erfindung auf demselben machte ihn mit
einem Schlage zum berühmten Mann. Es ist der Augenspiegel,
durch den die Bilder auf der Netzhaut im Auge und Teile dieser
Netzhaut selbst beobachtet werden können. Auch für diese Erfin-
dung fand Helmholtz alles vorbereitet. Brücke, ebenfalls ein Schü-
ler Johannes Müllers, hatte sich mit der Theorie des Augen-
leuchtens beschäftigt, das darauf beruht, daß ein Teil des Lichtes,
das auf die Netzhaut fällt, wieder nach außen zurückgeworfen
wird. Brücke hatte nur versäumt, sich die Frage vorzulegen, wel-
chem optischen Bilde das aus dem Auge zurückkehrende Licht
angehört. Auf diese Frage stieß Helmholtz, als er sich überlegte,
wie er seinen Schülern die Brückesche Theorie des Augenleuchtens
am besten beibringen könnte. Mit ihrer Beantwortung war zu-

343


gleich das Instrument gegeben, das uns in das Innere des mensch-
lichen Auges einen Blick tun läßt und das dadurch der Augen-
heilkunde neue Wege wies. Damit hat Helmholtz den Beweis er-
bracht, daß die neuere Naturwissenschaft auch diejenigen befrie-
digen muß, die es mit Baco von Verulam, dem Vater der Erfah-
rungswissenschaft, halten und glauben, daß die Wissenschaft ihre
Erkenntnisse aus dem Leben schöpfen soll, um sie auch für das
Leben praktisch verwendbar zu machen. Für seine äußere Stellung
in der Welt war die Konstruktion des Augenspiegels entscheidend.
Er fand nun kein Hindernis mehr, seine großen Plane in bezug
auf die Physiologie der Sinnesorgane auszuführen. In zwei um-
fangreichen Werken legte er die Funktionen des Auges und des
Ohres dar. Längst bekannte Tatsachen rückte er in eine neue Be-
leuchtung, mangelhafte Methoden verbesserte er. Wo es sich darum
handelte, durch neue Apparate Lücken der Forschung, die seine
Vorgänger offengelassen hatten, auszufüllen, da ließ ihn sein
Scharfsinn nie im Stiche. Auf diese Weise hat er in seiner «phy-
siologischen Optik» und in seiner «Lehre von den Tonempfindun-
gen» Werke geliefert, die grundlegend für die Wissensgebiete
geworden sind, denen sie angehören. Die Vorgänge im Auge bei
Einwirkung äußerer Gegenstände und nach Aufhebung des äuße-
ren Einflusses unterwarf er einer genauen Untersuchung; für die
Empfindung der Farben und Farbennuancen ersann er auf Grund
der Ansichten Th.Youngs geistreiche Hypothesen. Manche von
seinen Ausführungen sind unserer gegenwärtigen Erfahrung gegen-
über nicht mehr haltbar; aber jeder, der dieses Forschungsfeld be-
tritt, sucht zunächst den Anschauungen Hermann Helmholtzens
gegenüber eine Stellung zu gewinnen. Ein Beweis dafür ist die vor
kurzem erschienene «Theorie des Farbensehens» von Ebbinghaus.
Helmholtz widerspricht niemand, ohne vorher ihm die Anerken-
nung seiner Leistungen ausgesprochen zu haben.

Wie eine Erleuchtung wirkte, was Helmholtz in der «Lehre von


den Tonempfindungen» über das Wesen der Klangfarbe vor-
brachte. Daß die sogenannten Töne der Violine, des Klaviers und
so weiter, ja auch die der menschlichen Stimme gar keine ein-
fachen Töne, sondern aus einem Ton mit seinen zahlreichen Ober-

344


tönen zusammengesetzte Klangphänomene sind, hatte Helmholtz
aus Beobachtungen erschlossen, die zuerst G. S. Ohm gemacht
hat. Durch Berücksichtigung der Erfahrungen, welche die Mikro-
skopiker über den Bau des Ohres gewonnen hatten, gelang es ihm,
eine Anschauung darüber zu gewinnen, wie das Gehörorgan die
zusammengesetzten Elemente wieder in ihre Elemente zerlegt und
auf diese Weise dem Bewußtsein die Wahrnehmung der Klang-
farbe vermittelt. Die Erscheinung der Akkorde erklärt Helmholtz
aus dem Auftreten sogenannter Schwebungen bei dem gleichzeiti-
gen Erklingen zweier verschieden hoher Töne, die in dem wechsel-
weisen An- und Abschwillen der Tonstärken bestehen. Helmholtz
wollte mit diesem Werke eine physiologische Grundlage der
Musikästhetik geben. Wie genau er wußte, daß die Ästhetik neben
der Naturwissenschaft ein selbständiges Gebiet habe, das er selbst
gar nicht betreten wollte, das beweisen seine Worte im Schluß-
kapitel des Buches, wo er in bezug auf die Fragen, die jenseits der
Physiologie liegen, sagt: «Freilich beginnt auch hier erst der inter-
essantere Teil der musikalischen Ästhetik — handelt es sich doch
darum, schließlich die Wunder der großen Kunstwerke zu er-
klären, die Äußerungen und Bewegungen der verschiedenen See-
lenstimmungen kennenzulernen. So lockend aber auch das Ziel
sein möge, ziehe ich es doch vor, diese Untersuchungen, in denen
ich mich zu sehr als Dilettant fühlen würde, anderen zu überlassen
und selbst auf dem Boden der Naturforschung, an den ich gewöhnt
bin, stehenzubleiben.» Diese Worte sollten diejenigen beherzigen,
die da glauben, daß alles Heil von der Naturwissenschaft kommen
muß, und bei denen sogleich aller Denkermut erlischt, wenn sie
nicht den festen Boden experimenteller Tatsachen unter den
Füßen haben.

Der engere Kreis der mathematischen Physiker und Mathema-


tiker erblickt in Hermann Helmholtz einen führenden Geist auch
auf seinem Wissensgebiete. Es glückte ihm, Probleme zu lösen, an
denen Euler und Lagrange vergeblich ihren Scharfsinn versucht
hatten. Er fand in vielen Dingen Antworten, wo andere nur klar
erkannt haben, daß eine Frage vorliegt. Wer in solcher Weise
wirkt, der befriedigt viele, weil er sie von dem Alpdrucke quä-

345


lender Rätsel befreit. Von Johannes Müllers gewaltigen Forderun-
gen ist heute manche erfüllt. Helmholtz ist der größte unter denen,
die an dieser Erfüllung gearbeitet haben. Er gehörte zu den besten
seiner Zeit, weil er ihre Aufgaben verstand wie wenige. Seine
Kunstanschauungen wurzelten in dem Boden des Klassizismus. Der
klassischen Tonkunst wollte er in seiner «Lehre von den Ton-
empfindungen» eine naturwissenschaftliche Unterlage schaffen.
Das hinderte ihn nicht, Richard Wagners Genie volles Verständnis
entgegenzubringen. Wir Jüngeren brauchen uns deshalb doch nicht
darüber zu täuschen, daß wir Helmholtzens Anschauungen auf
vielen Gebieten nicht mehr teilen können. Eine neue Kunst-
anschauung, eine neue Philosophie erfüllt uns, und diese werden
auch eine neue Naturanschauung im Gefolge haben, die mit man-
chem brechen wird, was mit Helmholtzens Namen verknüpft ist.
Aber aus jeder Zeitanschauung entspringen Leistungen, die un-
vergänglich sind, und zu ihnen gehören diejenigen, die Helmholtz
aus dem Charakter seiner Zeit heraus der Wissenschaft einverleibt
hat.

WILHELM PREYER


Gestorben am 15. Juli 1897


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