Slaby rev1 Affekt und Politik



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übergeordnet, die zwar das klassisch »humanistische« Subjekt unter sich befasst (jedes 

sozialisierte Individuum ist ein body politic in Protevis Verständnis), aber daneben noch mehr 

und anderes: materielle Formationen auf verschiedenen Ebenen, von physiologischen 

Prozessen auf subpersonaler Ebene, über die Konfiguration von Organismen bis zu 

verschiedenen höherstufigen Formationen, Gruppen, Populationen sowie geo-sozialen 

Großverbünden (civic bodies politic). Stets liegt das Augenmerk auf den Prozessen der 

Formierung, also auf dem situierten Werden von sozio-materiellen Gebilden. Deutlich ist 

dabei die »ökosophische« und prozessphilosophische Perspektive von Mille Plateaux leitend. 

Politischer Affekt ist das situierte »sense-making of bodies politic« (S. xiv): »[A]ffect is 

concretely the imbrication of the social and the somatic, as our bodies change in relation to 

the changing situations in which they find themselves« (ibid.). Die Reichweite dieser 

Bestimmung wird deutlich, wenn man sich klar macht, dass es um sozio-somatische Vollzüge 

auf allen drei zuvor genannten Ebenen geht: »above, below and alongside the subject« (S. 4); 

und dass es diese situierten affektiven Dynamiken sind, durch die politische Subjekte 

konstituiert werden: »these imbrications [of the social and the somatic] sometimes, in the 

short term, bypass the subject, but always, in the long term, constitute it« (ibid.). 

 

Zu Zwecken der theoretischen Verortung ist es hilfreich, dass Protevi im mittleren Teil 



seines Buches eine von Deleuze und Guattari inspirierte Rückschau auf Aristoteles und Kant 

unternimmt. In exemplarischen Analysen plausibilisiert er, inwieweit die philosophischen 

Verständnisse des Organismus und der ethischen Erziehung (bei Aristoteles) bzw. von 

ästhetischem Urteil und natürlicher Teleologie (bei Kant) letztlich nur im Kontext politischer 

Ordnungen und Machtkonstellationen verstehbar sind. So sei das Verständnis ethischer 

Erziehung, das Aristoteles in der Nikomachischen Ethik entwirft, als von der Regierung der 



polis verordneter »process of pedagogic corporeal masculinization« zu verstehen (S. 70), 

während Kant in der Kritik der Urteilskraft das soziale Privileg – »leisured bodies« (78) und 

»a certain spiritual tourism« (79) – unverhohlen in seine Ontologie der Vermögen 

einschreibe: Um im Bereich der Einbildungskraft zwischen der (niederen) körperlichen 

Selbstaffektion und der (edlen) mentalen Selbstaffektion durch dieses Vermögen zu 

unterscheiden, und somit zwischen einer bloß sinnlich-angenehmen Affizierung und einem 

ästhetischen Geschmacksurteil, »one needs a leisured body, a quiescent body, and leisure is 

distributed by position in a political structure enforced by Gewalt.« (78) 

Ontologie, so folgert Protevi, war immer schon politische Ontologie; philosophischen 

Grundbegriffen sind die Machtverhältnisse ihrer Entstehungskontexte eingeschrieben. Aus der 

Perspektive dieser Kant-Dekonstruktion lässt sich eine kritische Rückfrage an Mohrmann 



 

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stellen: Was bedeutet es für ihr Verständnis politischer Emotionen, wenn der Gehalt der dafür 

maßgeblichen kantischen Begriffe soziale Gewaltverhältnisse zur Voraussetzung hat? Kann 

sich eine emanzipatorische Perspektive an den eigenen Haaren aus diesem Sumpf aus Blut 

und Schweiß emporziehen? Oder muss die Begrifflichkeit kritisch gewendet und mit ihren 

sozialen Entstehungsbedingungen konfrontiert werden?

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Vor diesem Hintergrund bringt Protevi dann das »Schriftfest« des Anti-Ödipus als 

Gegenprogramm in Stellung. Es gelingt ihm, zentrale Pointen dieses bis heute im Mainstream 

der akademischen Philosophie kaum rezipierten Werks zu arrangieren.

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 Es ist geschickt, dass 



er dafür vor allem auf den Organismus und die Organe abhebt. Daran lässt sich ein leitender 

Gegensatz festmachen: auf der einen Seite der stratifizierte Organismus – im ödipalen 

Dreieck eingehegtes heterosexuelles Begehren, williger Arbeitseinsatz als Rädchen im 

Getriebe des kapitalistischen Sozius –, auf der anderen Seite der sich zur ozeanischen 

Intensität öffnende »organlose Körper«, exemplifiziert in der Begriffsperson des 

Schizophrenen, mit Zug ins Offene, Experimentelle, in Rausch und Ekstase. Protevi entnimmt 

dem Anti-Ödipus ein kritisches Schema, das es ihm erlaubt, die Pendelbewegung zwischen 

macht-gewirkter Subjektivierung und daraus ausbrechender Ent-Subjektivierung auf 

verschiedenen Ebenen zu fassen. 

Es ist angenehm, dass Protevi dabei nicht im Stil-Universum von Deleuze und 

Guattari verbleibt, sondern dass er seine Fallstudien mit eigener Begrifflichkeit und in 

Tuchfühlung zu anderen Theoriekontexten angeht. So kommt die Stärke der ontologisch 

polydimensionalen Arbeiten von Deleuze und Guattari in anderen Registern und mit 

eigenständigem Anspruch zur Geltung. Der Amoklauf durch zwei Schüler der Columbine 

High School in Colorado (1999) und die materiellen und sozialen Verheerungen von 

Hurricane Katrina (2005) können dann als Singularitäten auf zahlreichen Ebenen – 

geohistorisch, sozio-kulturell, politisch, individualpsychologisch, mentalitätsgeschichtlich, 

medientheoretisch etc. – in ihrer ereignishaften Spezifik analysiert werden. Politischer Affekt 

kommt in seiner historischen Konkretion in den Blick: etwa der eintrainierte kalte Zorn der 

selbstkultivierten Tötungsmaschinen Klebold und Harris; oder die historisch gewachsene, 

medial amplifizierte rassistische Angst, die einen menschenverachtenden Militäreinsatz gegen 

                                                 

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 Was Protevis Kant-Kritik – Echo der vernunftkritisch-genealogischen Philosophie-Geschichtsschreibung in 



der Linie Nietzsche-Foucault-Deleuze/Guattari – verdeutlicht, ist die Gefahr einer Ontologisierung faktischer 

Machtverhältnisse zu philosophischen Begriffen mit normativem Gehalt (das historische Vorbild dafür ist die 

Idealismus-Kritik von Marx und Engels). 

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 Es ist aus Perspektive unseres Themas hilfreich, sich die von Spinoza und Wilhelm Reich inspirierte Leitfrage 



des Anti-Ödipus zu vergegenwärtigen: »Warum kämpfen die Menschen für ihre Knechtschaft als wäre es ihr 

Heil?« (G

ILLES 

D

ELEUZE



/F

ÉLIX 


G

UATTARI


Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a.M. 

1974, S. 39). 




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