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Arbeit
und
Leben
ten, verdingte er sich bei dem Bauern Willi Winter in
Kiefen und nach einiger Zeit wohnten und arbeiteten
wir gemeinsam bei Willi Winter. Unsere Schlafkam-
mer war eine Abstellkammer, in die gerade mal zwei
Betten passten. Für unsere Kleidung waren ein paar
Haken an der Wand vorgesehen. Sie genügten auch.
Im Winter glitzerten die nur einen halben Stein
dicken und von Eiskristallen bedeckten Wände. Ich
kann mich nicht erinnern, unter den widrigen Um-
ständen gelitten oder gefroren zu haben. Wir waren
froh, dass wir überlebt und uns wiedergefunden
hatten.
Bei fast allen Bauern lebten Soldaten und Flüchtlin-
ge unseres Alters, deren einzige Abwechslung neben
der Arbeit von früh bis spät am Wochenende der
Tanz in der Gaststätte Jordan in Waddeweitz war. In
dem großen gut geheizten Saal kam inmitten der
abenteuerlich gekleideten Gäste stets eine vergnügli-
che Stimmung auf. Mein Bruder machte mich damit
vertraut. Ich erschien dazu in meiner NSKK-Bree-
cheshose, den SA-Stiefeln und einem längsgestreif-
ten Sakko. Als Hemd diente mir ein weißes Nacht-
hemd mit grünen Biesen am Kragen und an den
Ärmeln. Es war ein Geschenk der Stralsunder Haus-
wirtin. Mein Bruder war mit seinen gefärbten alten
Uniformstücken schon etwas eleganter. Verbreitet
waren damals Sandalen aus alten Autoreifen, die
mein Bruder auch für mich fertigte.
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Hier im Wendland wurde eine dem pommerschen
Plattdeutsch verwandte Mundart gesprochen. Mein
Bruder und ich sprachen zu dieser Zeit auch nur in
unserem Plattdeutsch miteinander.
Appelsmalt, etwas Schweineschmalz mit braun
gebratenen Zwiebeln und Apfelspälten, war ein sehr
begehrter und als komfortabel angesehener Brotauf-
strich. Sonntags kam zum Kaffee oft Bröck auf den
Tisch, getrockneter Zuckerkuchen, der in den Kaffee
gestippt wurde. Weitere bewahrungswürdige Gau-
menfreuden dieser Bauernküche haben den Weg in
mein Gedächtnis nicht gefunden.
Mein 17. Geburtstag wurde in den Waddeweitzer
Gaststätten Hahlbohm und Jordan während einer
Tanzveranstaltung gefeiert. Dazu hatte ich 17 Fla-
schen selbst gebrannten Schnaps mitgebracht: Ka-
kaolikör aus Rübensirup und Sahne, Eierlikör,
Pfefferminzlikör – alles hergestellt auf der Basis von
nachts in der Schweineküche gebrautem Rüben-
schnaps nach frei erfundenen Rezepten. Jeder, der
wollte, durfte mitfeiern und -trinken. Ich konnte an
diesem Tag in weißer Hose, passendem Hemd und
braunen Halbschuhen mit Reißverschluss erschei-
nen, einem Geschenk von Tante Emma und Onkel
Hugo aus den USA. Sie waren 1923 und 1927 aus
Klein Nossin über Bremerhaven dorthin ausgewan-
dert. In dem durch die Garderobe gesteigerten
Selbstwertempfinden ließ sich der Tango „Wenn bei
Der 17.
Geburts-
tag
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Capri die rote Sonne im Meer versinkt …“ wie ein
Triumphmarsch tanzen.
„Urlaub“ gab es nur alle paar Wochen für den
knapp 20 Kilometer entfernten Frisör in Lüchow.
Lukrativer als mit harter Arbeit ließ es sich vom
Schwarzhandel mit landwirtschaftlichen Produkten
leben. Beim Dreschen im Winter verschwand schon
einmal ein Sack Weizen im Stroh und am Abend für
500 Mark ins Nachbardorf. Eines Abends erdreistete
ich mich sogar, auf der Diele ein Huhn zu fangen, es
in meine Arbeitsjacke zu wickeln und lebend durch
das Wohnzimmer zu tragen, in dem der Bauer und
sein Vater saßen. Für das Huhn gab es 300, manch-
mal gar 350 Reichsmark. Bei einem Besuch zu Be-
ginn der sechziger Jahre habe ich dem Bauern Willi
Winter davon erzählt.
Viel Geld verdiente ich am Rande der Tanzveran-
staltungen in Waddeweitz beim Tauschhandel mit
Feuersteinen und Eiern gegen amerikanische Ziga-
retten. Mit einigem Geschick ließ sich der
Tauschwert für ein Ei über Feuersteine und Zigaret-
ten innerhalb kurzer Frist von 5 auf 18 Mark stei-
gern.
Von der Bäuerin Else Schaate in Klein Gaddau
konnte ich längere Zeit größere Mengen Eier für 2,50
Mark das Stück kaufen und in Waddeweitz in jeder
beliebigen Menge für 7,50 Reichsmark verkaufen.
Einmal erwarb ich von ihr zehn Zentner Kartoffeln.
Schwarz-
handel in
Wadde-
weitz
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Bruno Leddin
* Berlin 17. Febr. 1898
† 25. März 1951
Seit 1918 Mitglied der SPD, bis
1933 Gewerkschaftssekretär beim
Deutschen Landarbeiterverband
Stolp und Lauenburg, 1947
Leiter des Sozialamtes Hanno-
ver, MdL, MdB, Mitglied des
SPD-Bundesvorstandes
Rechts vor dem großen Funkturm das Haus auf dem
Höhbeck, in dem wir am 23. Dezember 1947 eine Bleibe
fanden
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Sie erhielt für einen Zentner aus der Pflichtabliefe-
rung nur um 2,50 oder 3,50 Reichsmark. Ich zahlte
ihr hingegen für den Zentner 15 Mark. Mit ihrem
eigenen Einspänner fuhr ich sie dann nach Wadde-
weitz, wo ich von einem Händler 180 Mark für den
Zentner erhielt. Er wohnte schräg gegenüber der
Gaststätte Jordan in einem noch heute gut erhaltenen
Haus und machte mit diesen Produkten sein Geld in
Hamburg. Einmal kaufte ich von ihm eine Tafel
Schokolade für 400 oder 500 Mark.
Meine Arbeitskleidung bestand teilweise aus
Hosen und Jacken von Feldhütern, also von entklei-
deten Vogelscheuchen. Lange trug ich einen Hut,
dessen linke Krempe ich hochgeschlagen und mit
einer Pfauenfeder dekoriert hatte.
Ungefähr zur Zeit der ersten Landtagswahl in
Niedersachen 1947 fand mein Bruder Otto eines
Tages vor dem Ortseingang Kiefen im Straßengra-
ben einen Werbetext der SPD, der auch den Namen
Bruno Leddin aus Hannover enthielt. Das war der
Freund meines Vaters, der vor 1933 Geschäftsführer
des Landarbeitervereins in Ostpommern, Vorsitzen-
der des Wahlvereins der SPD im Kreis Stolp und
Mitglied des Pommerschen Provinzial Landtages
war, bis die Nazis ihn 1933 seiner Ämter enthoben
und er Pommern hatte verlassen müssen. Mein
Bruder kannte ihn persönlich gut, ich ihn nur aus
Die erste
Landtags-
wahl in
Nieder-
sachsen
Arbeits-
kleidung
im Wend-
land
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