Adorno und die Kabbala (Pri ha-Pardes; 9)



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anzusiedeln wären, aus diesem in jeder beliebigen Zeit auftauchen könnten 
und sich in den religiösen Erlebnissen aller Epochen ausdrückten.
461
 Adorno 
hat sich überraschenderweise zu dieser These bekannt: „Im Grunde“ sei „in 
Freud selber, und das ist heute viel zu wenig bekannt, und deshalb möchte ich 
darauf  aufmerksam machen, die gesamte spätere Theorie von Jung über das 
‚kollektive Unbewußte‘ bereits enthalten.“ (NL IV/15, 190) Jung habe diese 
bloß verflacht und so zum markttauglichen eigenen Sujet entwickelt. Ador-
nos eigene Darstellung dieses ‚archaischen Erbes‘ im Kollektiven gleicht dann 
jedoch  nicht  den  Archetypen  C. G.  Jungs,  sondern  geht  vielmehr  eben  mit 
Freud von verinnerlichten gesellschaftlichen Zwängen aus, die kollektiv, weil 
nicht aus der individuellen Psyche allein erklärbar sind und die bis zur Urge-
schichte zurückreichen. Es fragt sich allerdings, wie von solchen archaischen 
Traumata und Tabus zur gesuchten „mystischen Tradition“ zu gelangen wäre. 
Diese  entscheidende  Differenz  zu  Jung  jedoch  hat  Adorno  auch  in  seiner 
Antwort auf  Scholems Kritik nicht thematisiert. Zwar grenzte er sich ande-
rer Stelle vom metaphysischen „Salongeschwätz“ Jungs ab, das die unschöne 
Kehrseite seiner als wissenschaftlich ausgegebenen Lehre sei. (vgl. NL IV/2, 
296) Aber im Brief  schrieb er nach der Versicherung, „daß mir jegliche Affi-
nität zu Jung fern liegt“: „Immerhin ist der Kern seiner Lehre, die archaischen 
Bilder, ein Moment Freuds, und dieser ist, gerade in der Moses-Schrift, sogar 
so weit gegangen, etwas wie ein – notwendig doch kollektives – Erbgedächtnis 
zu postulieren.“ Jungs „Unwahrheit“ liege nicht in den „einzelnen, zum Teil 
sehr fruchtbaren Einsichten“, sondern in „deren Isolierung von der Gesamt-
konstruktion.“ Seine eigenen Ausführungen zu Schönbergs Mystik seien aber, 
so Adorno weiter, „viel bescheidener“ gewesen und folgten aus der schlich-
ten  Beobachtung,  dass  „Kafka,  Kraus,  Schönberg,  vielleicht  doch  aus  [sic] 
Freud, vor allem Mahler, selber Spuren der mystischen Tradition ebenso wie 
ihre Verwandlung durch die Säkularisierung tragen. Die Erklärung dafür zu 
bieten, wären weiß Gott Sie zuständiger als ich.“ (BW 8, 308) Sieben Jahre 
vorher  hatte  Adorno  noch  über  seine  Arbeit  an  der  Mahler-Monographie 
geschrieben, ihm bestätige sich, „daß es unmöglich ist, auf  sogenannte jüdi-
sche Züge in der Musik sich zu berufen. Schönberg war Jude, Webern nicht; 
wenn es umgekehrt wäre, könnte man es aus der Musik (ich sehe von Weberns 
461 
Zu C. G. Jung und seiner Theorie vgl. u. a. Noll. 
The Jung Cult, Brumlik. C. G. Jung zur Ein-
führung, Gess. Vom Faschismus zum Neuen Denken, Shamdasani. Jung and the Making of  Modern 
Psychology, Hanegraaff. Esotericism and the Academy. S. 277–295.


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geistlichen  Texten  ab)  genauso  plausibel  machen.“
462
 Adornos Suche nach 
Jüdischem und Mystischem in der Kunst schwankt zwischen den beiden so 
markierten Polen: der These, eine mystische Einsicht manifestiere sich mehr 
oder weniger unbeabsichtigt im künstlerischen Material und der Unterstellung 
eines historisch nicht belegten Einflusses. Am gelungensten dürfte die erstere 
Annäherungsweise sein, wo der Aufweis nach dem Motto „mochte Goethe es 
wollen oder nicht“ geführt wird. Hier bleibt Adorno auch seinem Programm 
am treusten, religiöse Motive unabhängig von ihrem realen oder vermeintli-
chen Ursprung, aus dem profanen Material selbst heraus, zu entfalten.
462 
Adorno an Joachim Kaiser, 19. Februar 1960 (TWAA, Br 717/6).


7. Schlusswort. Etwas fehlt
Kabbala  heißt  nicht  nur  Tradition,  sondern  auch  Rezeption,  ja:  „Die  Kab-
bala ist, wenn man so will, eine Tradition der Rezeption.“
463
 Zu dieser weit-
verzweigten  Wirkungsgeschichte  gehören  zahllose  indirekte  und  selektive 
Aneignungen  sowie  polemische  und  produktive  Verzerrungen.  Insofern 
wären Adornos in dieser Arbeit diskutierten Motive kabbalistisch in lehr-
buchhafter Art und Weise. Sie stellen Transformationen jüdischer Traditio-
nen  in  äußerster  Distanz  zu  ihrem  Ursprung  dar  –  also  durchaus  das,  was 
Adorno sich von deren „Einwanderung ins Profane“ erhoffte. Dabei gehen 
viele Themen, die ihn an Scholems Forschungen interessieren, tatsächlich auf  
den gemeinsamen Freund Walter Benjamin zurück und werden in vielfälti-
ger Weise weiterentwickelt: In mit Scholem, Benjamin, Kracauer, Bloch oder 
Buber (und anderen) geteilten messianischen Motiven, in der Rückbindung 
der  philosophischen  Tradition  an  ihr  „Urbild“  der  Exegese  heiliger  Texte, 
in der Säkularisierung der mystischen zur metaphysischen Erfahrung, in der 
Verwendung  kabbalistischer  Motive  als  ästhetischer  Interpretationsfigur,  im 
Versuch,  das  Individuierte  nach  dem  Modell  des  „mystischen  Namens“  zu 
denken,  gar  in  der  Unterstellung  einer  ‚unterirdischen‘  mystischen  Überlie-
ferung,  mit  der  er  Schönberg  zu  adeln  versuchte.  Eine  weitere  Ebene  des 
Säkularisierungs- bzw.  Profanisierungs postulats führt  dieses auf   die  Inhalte 
der Kabbala selbst zurück. Dies knüpft an Scholems Forschungen zum sub-
versiven Gehalt des Sabbatianismus an und verfolgt dessen „antinomistische 
Mystik“ in die Moderne. Für Scholem wie Adorno trägt Kafka das kabbalis-
tische Licht ins ansonsten reichlich trübe 20. Jahrhundert weiter. Zwar handelt 
es sich bei Adornos Äußerungen um Marginalien, die aber finden sich an zum 
Teil wichtigen Stellen. In der Rettung metaphysischer Hoffnung an „kleinsten 
innerweltlichen Zügen“ und deren Aufleuchten in der metaphysischen Erfah-
rung  erweisen  sich  zentrale  Ideen  Adornos  als  mit  seiner  Kabbaladeutung 
verbunden.
Eine  solche  ideengeschichtliche  Würdigung  im  Rahmen  einer  pluralis-
tischen „Tradition der Rezeption“ wäre Adorno natürlich zuwider, eine musea-
lisierende Herabsetzung. Und in der Tat ist mit einer noch so freundlichen 
463 
Schulte. 
Zimzum. S. 13.


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