114
Fazit:
MSC und CCS weisen einen überraschend
grossen gemeinsamen Teil auf, der
informatikseitig «Theoretical Computer Science» als Schwerpunkt hat, mathematik
seitig «Logic and Foundations» und «Discrete Mathematics». Beide Systeme ent
halten zahlreiche Sekundärklassifikationen des Typs «Computers and …» bzw.
«Mathematics and … », die ihre Beziehungen zu anderen Wissenschaftszweigen
abdecken. Im Gegensatz dazu werden die gegenseitigen Bezüge von Mathematik
und Informatik detailliert durch Übernahme ganzer Gebietsfamilien in die eigene
Klassifikation dargestellt. Dies belegt, dass Mathematik und Informatik auch taxo
nomisch ein besonderes Beziehungspaar bilden.
Informatik und Mathematik
115
Wenn wir dem Orakel des 21. Jahrhunderts – gemeint ist Wikipedia – folgen, so ist
Mathematik (
μαθηματική τέχνη
: die Kunst des Lernens) die Wissenschaft, die aus
der Untersuchung von Figuren entstand. Für Mathematik gebe es keine allgemein
anerkannte Definition; heute werde sie üblicherweise als eine Wissenschaft be
schrieben, die selbstgeschaffene abstrakte Strukturen auf ihre Eigenschaften und
Muster untersuche. Informatik hingegen sei die Wissenschaft von der systemati
schen
Verarbeitung von Informationen; ihre Wurzeln lägen in der Mathematik und
der Elektrotechnik (dort vor allem der Nachrichtentechnik).
Mathematik als definierende, abstrahierende und folgernde Disziplin entstand
um das 6. vorchristliche Jahrhundert im griechischkleinasiatischen Raum an geo
metrischen Problemen. Aufgrund der für das praktische Rechnen völlig ungeeigne
ten griechischen Zahlennotation – in dieser Hinsicht vielleicht fast noch übertrof
fen von der späteren römischen – beschränkte sich die praktische Arithmetik
weitgehend auf Addition, typischerweise mithilfe des Abakus. Die zündende Idee
war nun, numerische Grössen als Längen (insbesondere von Strecken) zu interpre
tieren und zu manipulieren. Daraus erwuchs das erste
axiomatische System der
Menschheitsgeschichte, das Gebäude der euklidischen Geometrie. Gleichzeitig wur
de damit der entstehenden Mathematik ein Markenzeichen aufgeprägt, das ihr bis
heute anhaftet: die Modellbildung mithilfe von kontinuierlichen Strukturen.
Für die Informatik ortet wiederum Wikipedia frühe historische Wurzeln bei
Leibniz, der als Erster binäre Zahlensysteme betrachtete, dann bei Boole, der die
Algebra solcher Zahldarstellungen entwickelte,
und vor allem bei Turing, der das
abstrakte Konzept einer Rechenmaschine formulierte. Auch hier wurde der ent
stehenden Wissenschaft früh ein Markenzeichen aufgeprägt: die Modellbildung
mithilfe von diskreten (insbesondere auch endlichen) Strukturen.
Fazit:
Die nicht technischen Wurzeln der Informatik sind weitgehend in der
Mathematik angesiedelt. Beide Wissenschaften modellieren seit Anbeginn bestimm
5.2
Zur Genesis
der beiden Disziplinen
Informatik und Mathematik
116
te Aspekte unserer physikalischen wie intellektuellen Umwelt. In der Mathematik
stand – abgesehen von der kurzen Hochblüte der Algebra im indoarabischen Raum
im Gefolge der Entdeckung eines vernünftigen Zahlennotationssystems –
lange Zeit
die Modellierung physikalischer Phänomene im Vordergrund, was zu einer gewissen
Vorrangstellung kontinuierlicher Konzepte und Strukturen führte. In der Informa
tik waren eher logische, algorithmische und explizit konstruktive Situationen als
Modellierungsvorgaben im Vordergrund, was zu einer
deutlichen Vorrangstellung
von diskreten Konzepten und Strukturen Anlass gab.
Informatik und Mathematik
117
Sind nun Informatik und Mathematik siamesische Zwillinge, die nur unter hohen
Risiken für beide getrennt werden können?
Eine solche Symmetrie besteht natürlich angesichts der historischen Entwick
lung nicht: Mathematik entstand ohne Informatik und kann als forschende Wissen
schaft auch heute im Wesentlichen ohne Informatik auskommen. Aus der Sicht der
Mathematik stellt sich allerdings die Frage, ob sie das will oder soll. Beides ist offen
sichtlich
nicht der Fall, was im Folgenden konkretisiert werden soll:
1
Die theoretische Informatik stellt heute eine scheinbar unerschöpfliche Prob
lem und Konzeptquelle für die Mathematik dar. Prominentestes Beispiel dafür
ist wohl das P=NPProblem, ein ungelöstes Problem der Mathematik und theo
retischen Informatik, speziell der Komplexitätstheorie. Erkannt wurde das Pro
blem zu Beginn der 1970erJahre unabhängig voneinander von Stephen Cook
und Leonid Levin. Das P=NPProblem gilt als eines der wichtigsten offenen
Probleme der Informatik und wurde vom Clay Mathematics Institute in die Liste
der Millenniumprobleme aufgenommen.
2
Informatik dient als Beweismethode insbesondere in der diskreten Mathematik.
Das prominente Beispiel ist hier der Beweis des Vierfarbensatzes: «Jede Land
karte kann mit vier Farben so gefärbt werden, dass
keine zwei gleichfarbigen
Länder einen gemeinsamen Grenzabschnitt aufweisen.» Der Satz konnte 1976
nach 100jährigem Bemühen endlich verifiziert werden, und zwar durch syste
matische Falsifizierung einer langen Liste von etwa 17000 übriggebliebenen
hypothetischen Gegenbeispielen. Das geschah mit massivem Computereinsatz,
könnte aber im Prinzip auch von Hand gemacht werden. Es gibt zugegebener
massen auch noch Puristen, die nach einem reinen Beweis verlangen, der wirk
lich von Hand gemacht werden kann.
5.3
Gegenseitige Abhängigkeit
Informatik und Mathematik