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Mathematik und Informatik – aufgezählt nach dem Anciennitätsprinzip – sind zwei
eigenständige
Wissenschaften, die in enger Wechselwirkung stehen. Ziel dieser Aus
führungen ist, die Wechselwirkung zu analysieren, und zwar mit dem Fokus auf die
Inhalte eines neuen Grundlagenfachs Informatik im Gymnasium im Vergleich zum
bestehenden Grundlagenfach Mathematik. Die Prämisse ist deshalb, dass es ein
solches neues Grundlagenfach wirklich braucht, und dass nicht Informatik in ge
eigneter Form unter Mathematik subsumiert werden soll (etwa durch stunden und
inhaltsmässige Aufstockung des Grundlagenfachs Mathematik mit –
aus der Sicht
der Mathematik – geeigneten Inhalten aus der Informatik). Diese Fokussierung hat
aber auch zur Folge, dass der technischingenieurwissenschaftliche Aspekt der In
formatik in diesem Kapitel aus Praktikabilitätsgründen gegenüber ihren theore
tischabstrakten Aspekten etwas in den Hintergrund tritt. Er muss aber vorhanden
bleiben, denn ein prägnantes Argument für die Einführung eines Grundlagenfachs
Informatik ist gerade der Umstand, dass im gegenwärtigen Normalcurriculum unse
rer Gymnasien zwar eine klassische Allgemeinbildung angestrebt wird – jedoch
unter Ausklammerung der technischingenieurwissenschaftlichen Welt.
Wer auch immer das Verhältnis – und die Wechselwirkung – von Mathematik
und Informatik als Wissenschaften
beschreiben will, muss eine allgemein akzep
tierte, umfassende und in der Wissenschaft praktisch verwendete Taxonomie dieser
Gebiete zugrunde legen. Eine naheliegende Möglichkeit ist es, die Klassifikationen
zu betrachten, mit deren Hilfe die publizierte Forschungsliteratur organisiert,
nachgewiesen und nutzbar gemacht wird. Diese Aufgabe wird normalerweise von
den grossen internationalen Fachgesellschaften übernommen.
Für die Mathematik sind es die American Mathematical Society (AMS), Euro
pean Mathematical Society (EMS) und die Heidelberger Akademie der Wissenschaf
ten, die zusammen mit dem Fachinformationszentrum Karlsruhe (FIZ)
die gesamte
mathematische Literatur in der MSCKlassifikation (Mathematics Subject Classifica
5.1
Eine privilegierte Partnerschaft
Informatik und Mathematik
112
Informatik und Mathematik
tion)
8
nachweisen in zwei grossen Referatdatenbanken, dem MathSciNet (AMS)
und dem Zentralblatt der Heidelberger Akademie der Wissenschaften MATH.
In der Informatik wird die analoge Rolle von der Association for Computing
Machinery (ACM) und des Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE)
wahrgenommen, die je Literaturdatenbanken unterhalten, die nach der CCSKlassi
fikation (Computing Classification System)
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organisiert sind.
Im Folgenden werden die beiden Klassifikationen verglichen und Querverbin
dungen aufgezeigt. In Klammern ist die jeweilige Nummer in der Klassifikation
notiert:
Wie erscheint die Informatik im mathematischen Klassifikationssystem (MSC)?
Dort hat Computer Science eine eigene Primärklassifikation (68)
und macht den
grössten Teil der Einträge unter «(94) Information and Communication» aus. Ferner
hat jede MSCPrimärklassifikation eine Extension 04, unter die Arbeiten des be
treffenden Gebietes vom Typ «Explicit machine computation and programs (not the
theory of computation or programming)» fallen. Besonders in «(03) Mathematical
Logic and Foundations» und «(05) Combinatorics» gibt es gehäuft Verweise des
Typs «siehe auch (68)». Interessant ist auch, dass die höchsten Klassifikationsstu
fen, in denen der allgegenwärtige Begriff der Diskreten Mathematik im MSC vor
kommt, die Kategorien «(68E) Discrete Mathematics» und «(68R) Discrete Mathe
matics in Relation to Computer Science» sind – das heisst, die Mathematik scheint
das Gebiet «Diskrete Mathematik» ausserhalb der Kombinatorik als einen Teil der
Informatik wahrzunehmen!
Umgekehrt ist zu fragen, wie Mathematik in der CCSKlassifikation wahrgenom
men wird? Im CCS treten Gebiete der Mathematik prominent auf in den Primärklas
sifikationen «(F) Theory of Computation» und «(G) Mathematics of Computing».
«(F1) Models of Computation», «(F2) Complexity Measures and Classes» und «(F4)
Mathematical Logic and Formal Languages» überdecken
einen grossen Teil von MSC
«(03) Logic and Foundations». «(G1) Numerical Analysis» kümmert sich um die
(angewandteren) Teile von MSC, wie beispielsweise «(34) Ordinary Differential
Equations», «(35) Partial Differential Equations», «(41) Approximation» und «(65)
Numerical Analysis». «(G2) Discrete Mathematics» schliesslich entspricht MSC (05),
(68E) und (68R). Unter MSC «(03) Logic and Foundations» fallen auch viele in CCS
Klassifikation «(I) Computing Methodologies» aufgeführte Gebiete, insbesondere
aus «(I1) Symbolic and Algebraic Manipulation» und «(I2) Artificial Intelligence».
Diese Entsprechungen werden in Abb.2 grafisch dargestellt.
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Informatik und Mathematik
Abb.2
Inhaltliche Entsprechungen der Fächer zwischen den
MSC- und CCS-Klassifikation
MSC
03 Mathematical
Logic and Foundations
05 Combinatorics
34 Ordinary Differential
Equations
35 Partial Differential
Equations
41 Approximation
65 Numerical
Analysis
68 Computer Science
68E Discrete Mathematics
68R Discrete Mathematics in
Relation to Computer Science
94 Information
and Communication
CCS
F:
Theory of Computation
F1: Models of Computation
F2: Complexity
F4: Mathematical Logic
G: Mathematics of Computing
G1: Numerical Analysis
G2: Discrete Mathematics
I: Computing Methodologies
I2: Artificial Intelligence
I1:
Symbolic and Algebraic
Manipulation